Protokoll der Sitzung vom 17.09.2015

Weil Sie jetzt immer auf die fehlerhaften Prognosen des Bundesamtes verweisen: Meines Erachtens ist das die Suche nach einem Sündenbock für die Tatenlosigkeit. Die Zahlen, die ich genannt

habe - ich erwähnte es schon -, sind die tatsächlichen, die bekannten. Sie sprechen eine deutliche Sprache. Da muss man nicht auf irgendwelche Prognosen warten. Die können natürlich falsch sein. Diese Zahlen zusammen mit der aktuellen Nachrichtenlage über das Weltgeschehen machen den Handlungsbedarf deutlich, und das seit mehr als einem Jahr, meine Damen und Herren.

Sie aber haben vor dieser Entwicklung die Augen verschlossen und damit einen Teil der Probleme selbst mit verursacht. Jetzt müssen andere diese verfehlte Politik ausbaden, in erster Linie natürlich die Geflüchteten selbst, aber auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der ZASt.

Gerade denen, die in dieser Situation Großartiges leisten, von der Polizei über die Feuerwehren, das THW, die Bundeswehr, Ärzte, die Mitarbeiter in der sozialen Betreuung, die aus dem Landesdienst herangezogenen Mitarbeiter bis hin zu den vielen ehrenamtlich helfenden Menschen, ihnen allen gilt unser herzlicher Dank für ihren Einsatz.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der LIN- KEN - Zustimmung bei der SPD)

Das haupt- und ehrenamtliche Engagement jedes und jeder Einzelnen ist ein gelebter Beitrag für eine echte Ankommenskultur in Sachsen-Anhalt.

Meine Damen und Herren! In der letzten Zeit war immer einmal wieder von Plätzen die Rede, die ein Asylsuchender möglicherweise dem anderen wegnehmen würde. Ich möchte an dieser Stelle ganz deutlich klarstellen: Die Aufnahme von Schutzsuchenden ist eine gesetzliche Verpflichtung, für die es keine Obergrenze gibt. Für politisch Verfolgte gilt: Das Boot ist niemals voll.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Dieser Grundsatz muss sich gerade jetzt bewähren, in einer solchen herausfordernden Situation.

Unsere Große Anfrage zur Unterbringung ist die dritte ihrer Art. Die Antworten tragen in erheblichem Maße dazu bei, dass dieser schwierige und in den vergangenen Jahren intransparente Bereich gerade der privaten Flüchtlingsunterbringung erheblich unter Druck geraten ist und dass es auch zahlreiche Verbesserungen gibt, gerade die Qualifikation des Personals betreffend, aber auch die Frage der dezentralen Unterbringung.

Meine Fraktion setzt weiterhin konsequent auf die dezentrale Unterbringung in Wohnungen. Wir haben in unserem Land eine Wohnungsleerstand zwischen 10 und 14 %. Allein in der Landeshauptstadt stehen 10 000 Wohnungen leer. Das ist eine Zahl, die der Oberbürgermeister verwendet.

Deshalb, meine Damen und Herren, sollte sich jeder kommunale Spitzenbeamte wirklich mehrfach überlegen, ob er sich mit populistischen Worten

hinstellt und einen angeblichen Flüchtlingsnotstand ausruft. Derartige Beiträge sind Wasser auf die Mühlen von rechten Menschenhassern,

(Zustimmung bei den GRÜNEN und bei der LINKEN)

die auch in unserem Land mit Benzinkanistern vor den Flüchtlingsheimen stehen.

Ich weiß, dass dezentrale Unterbringung nicht einfach ist, dass sie nicht von allein passiert. Aber man kann das gut machen, wie Dessau lange zeigt, wie Halle neuerdings zeigt. Deswegen, meine Damen und Herren, wollen wir die unsinnige Regelung zur Regelunterbringung in Gemeinschaftsunterkünften aus dem Aufnahmegesetz entfernen.

Die Große Anfrage hat nicht zuletzt dazu beigetragen, dass im Jahr 2013 erstmals Leitlinien durch das Innenministerium erlassen wurden, die konkrete Standards regeln. Dieser Schritt war einer der ganz wenigen konkreten Beiträge in dieser Legislaturperiode überhaupt, die Sie auf dem Gebiet der Qualitätssicherung der Unterbringung unternommen haben. Dass Sie nun ausgerechnet diese Leitlinien, die sich bewährt haben, außer Kraft setzen, das ist wirklich als absolutes Armutszeugnis dieser Regierung zu werten, meine Damen und Herren. Sie sollten sie überarbeiten und qualifizieren und nicht außer Kraft setzen.

(Zustimmung bei den GRÜNEN)

Deswegen ist das auch ein wichtiger Punkt in unserem Entschließungsantrag.

Ein weiterer Schritt in Richtung Qualitätsdebatte ist die Lage von Geflüchteten mit besonderen Schutzbedürfnissen. Wir denken da an alleinstehende Frauen, aber auch an Menschen, die schwul, lesbisch, bi-, trans- oder intersexuell sind. Insbesondere für sie bietet die gemeinsame Unterbringung in der ZASt, aber auch in der Gemeinschaftsunterkunft in den Landkreisen, keinen ausreichenden Schutz. Deshalb, meine Damen und Herren, muss ein spezielles Schutzkonzept für diese Zielgruppen her.

Werte Kolleginnen und Kollegen! Mir ist bewusst, dass die Herausforderungen für die Kommunen durchaus groß sind. Viele von ihnen leisten gute Arbeit. Dennoch besteht kein Zweifel daran, dass die Kommunen noch stärker unterstützt werden müssen. Dies kann nur gelingen, wenn auch der Bund sich vorbehaltlos zu seiner gesamtstaatlichen Verantwortung bekennt. Das heißt: echte Hilfe für die Kommunen, und diese Finanzhilfen müssen dann auch nachhaltig und zuverlässig sein, meine Damen und Herren.

(Zustimmung bei den GRÜNEN)

Nicht etwa wie bei der Gesundheitskarte, die vor einem halben Jahr das Ergebnis von Verhandlun

gen zwischen Bund und Ländern war und die jetzt plötzlich keine Rolle mehr spielen soll. Man kann von einer Bundesregierung doch wohl erwarten, dass sie sich an ihre eigenen Versprechungen hält.

Die Gesundheitskarte ist zentraler Bestandteil für den Menschenrechtsschutz Geflüchteter, meine Damen und Herren. Außerdem bedeutet sie das Absenken von Verwaltungsaufwand und eine Entlastung unserer Kommunen. Es ist absurd, sie zu blockieren. Sie muss kommen.

Deswegen - ich richte es wieder wegen Abwesenheit des MP an den Innenminister -: Sorgen Sie dafür, dass Sie zumindest den Arbeitsauftrag hier aus dem Landtag zur Gesundheitskarte wahrnehmen, ernst nehmen und an der Einführung arbeiten. NRW hat vorgemacht, wie es geht. Es funktioniert auch in einem Flächenland, meine Damen und Herren. Hier darf man sich nicht zurücklehnen.

(Beifall bei den GRÜNEN - Zustimmung bei der LINKEN - Zuruf von der CDU: Das geht nur mit den Kassen zusammen!)

- Natürlich geht es nur mit den Kassen zusammen. Die Kassen sind bereit. Die AOK sagt, sie ist bereit, das mit uns zu machen. Niemand will sich den Hut aufsetzen, das ist das Problem.

Meine Damen und Herren! Sachsen-Anhalt ist derzeit mit der Aufnahme von Schutzsuchenden stark gefordert, aber nicht überfordert. Lassen Sie uns gemeinsam Verantwortung übernehmen. Lassen Sie uns gemeinsam handeln. Es geht um Sachsen-Anhalt, aber es geht auch um eine Aufgabe, die größer ist als dieses Bundesland.

Wer jetzt die Grenzen schließt, meine Damen und Herren, wer jetzt die Standards senkt, wer jetzt nicht an die Zukunft denkt und an die Chancen, die diese Einwanderung für unser Land bedeutet, der verrät die Ideale Europas, meine Damen und Herren.

(Beifall bei den GRÜNEN - Zustimmung bei der LINKEN - Oh! bei der CDU)

- Ja, so ist es. - Hören Sie abends vor dem Zubettgehen nach dem Deutschlandlied auf dem Deutschlandfunk einmal die Europahymne. Das ist die Melodie zu dem wunderbaren Text: „Alle Menschen werden Brüder, wo dein sanfter Flügel weilt. Seid umschlungen, Millionen! Diesen Kuss der ganzen Welt!“

Meine Damen und Herren! Lassen Sie uns die Zeilen dieser Hymne, deren Flagge hier im Parlament bei uns ganz selbstverständlich weht, einfach etwas ernster nehmen und so begreifen, wie sie gemeint sind, nämlich als Auftrag. - Vielen Dank.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der LIN- KEN)

Danke sehr, Kollege Herbst. - Für die Landesregierung spricht Minister Stahlknecht. Bitte sehr.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Herbst! Eigentlich war es die Aussprache zu einer Großen Anfrage

(Zustimmung bei der CDU)

und zu einem Entschließungsantrag.

Zwei Dinge. Das, was Gegenstand der Beantwortung der Großen Anfrage war, ist überholt. Deshalb habe ich Verständnis dafür, dass Sie sich eigentlich mit der Antwort auf Ihre Große Anfrage gar nicht mehr auseinandergesetzt haben, sondern eine allgemeine Rede gehalten haben.

Was mich dann aber irritiert, ist, dass Sie nicht Lösungsfragen gestellt haben, dass Sie nicht nach den Ursachen gefragt haben, sondern dass Sie sich im Klein-Klein ergingen und dieses schwierige Thema zu einer politischen Auseinandersetzung mit einer Landesregierung genutzt haben. Ich persönlich bin der Auffassung - ich werde Ihnen das gleich begründen -, dass dieses Thema im Grundsatz überhaupt nicht geeignet ist für derbe politische Auseinandersetzungen.

(Beifall bei der CDU - Zustimmung bei der SPD - Herr Herbst, GRÜNE: Genau, im Grundsatz!)

Dazu gehört zunächst, dass wir uns vielleicht, meine Damen und Herren, verspätet der Realität stellen. Was wir im Augenblick erleben - ich sage das ganz deutlich -, sind die Folgen einer verfehlten Nahostpolitik.

(Zuruf von der CDU: Ja!)

Was wir im Augenblick als Folge dieser verfehlten Nahostpolitik erleben, ist nicht so sehr eine Asylfrage, sondern es ist längst, liebe Kolleginnen und Kollegen, eine Völkerwanderung.

(Zustimmung bei der CDU)

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach Angaben der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, die durchaus als seriös gilt, und das zu Recht, sind 60 Millionen Menschen auf der Flucht. Es gibt Prognosen, dass sich auch im afrikanischen Bereich weiterhin Menschen auf den Weg machen werden.

Die Fehler, die Sie jetzt suchen, sind nicht jetzt entstanden - jetzt ist es die Umsetzung einer Realität in der Politik. Sie können die Frage stellen, ob

es ein Fehler war, dass wir das zu spät erkannt haben.

(Herr Herbst, GRÜNE: Sie haben diese Infor- mationen - -)

- Lieber Herr Herbst, ich habe Sie auch nicht unterbrochen. - Wenn Sie über Europa reden, dann müssen Sie das in einem Kontext sehen, dass 60 Millionen Menschen auf der Flucht sind, von denen ein Großteil auf dem Weg nach Europa ist. Aber Europa besteht nicht nur aus Deutschland, sondern Europa besteht aus 28 Mitgliedstaaten. Europa ist für mich gelebte Solidarität. Um in den Sprachduktus des ehemaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl zu verfallen: Europa besteht aus mehreren Häusern oder Zimmern.

Insofern ist es zunächst eine gesamteuropäische Aufgabe, dass diejenigen, die vor Krieg und Folter fliehen, auch in den unterschiedlichen Zimmern und Wohnungen Europas gleichberechtigt unterkommen und eben nicht alle nach Deutschland kommen. Auch das ist Europa.