Protokoll der Sitzung vom 17.09.2015

Insofern ist es zunächst eine gesamteuropäische Aufgabe, dass diejenigen, die vor Krieg und Folter fliehen, auch in den unterschiedlichen Zimmern und Wohnungen Europas gleichberechtigt unterkommen und eben nicht alle nach Deutschland kommen. Auch das ist Europa.

Ich sage Ihnen eines: Sie können auch nicht Politik ohne Volk machen. Sie müssen aufpassen, dass aus einer Herausforderung nicht eine Überforderung wird. Sie müssen aufpassen, dass aus Willkommen nicht Ablehnung wird. Wenn Sie politische staatstragende Verantwortung haben, müssen Sie all das mit Augenmaß und Fingerspitzengefühl machen.

Deshalb brauchen wir jetzt eine europäische Einigung - so schwierig das ist -, bei der alle Staaten dieser Europäischen Union gemeinsam ihrer humanitären Verantwortung gerecht werden und bei der dann der Geist Europas als einer Solidargemeinschaft weht.

(Beifall bei der CDU und bei der SPD)

Dann hätten Sie einen zweiten Teil ansprechen können. Damit sind wir in einer Wertedebatte. Deutschland ist ein Land, das immer weniger Menschen hat. Sie könnten auch provokativ sagen: Wir sind ein Land, das sich nicht mehr selbst reproduziert. Da muss, ohne dass man an den rechten Rand gedrängt wird, die Frage gestattet sein: In welcher Größenordnung kann diese Lücke durch Zuzug aufgefüllt werden, ohne dass ein Wertesystem in einer Gesellschaft kippt? - Diese Frage müssen Sie diskutieren. Sie müssen die Frage stellen: Wie sieht ein Gesellschaftsvertrag „Deutschland 2030/2040“ aus?

Wir sind auf dem Weg in eine völlig andere Gesellschaft. Die ganzen Diskussionen über Demografie sind gänzlich überholt. Sie müssen die Frage stellen: Was ist die Grundlage unseres Lebens hier in Deutschland als ein Teil Europas?

Dazu habe ich eine klare Auffassung: Es ist unsere Verfassung und es ist auch unsere Geschichte, die

uns trägt, und es ist unser Land. Diejenigen, die zu uns kommen, können gern ein Teil unseres Landes werden, aber wir in Deutschland haben nicht vor, in Deutschland ein Teil des Landes derer zu werden, die zu uns kommen.

(Starker Beifall bei der CDU)

Sie müssen auch akzeptieren, dass ein Staat nur dann funktionieren kann, wenn er seine eigenen Gesetze einhält. Sie müssen auch akzeptieren, dass zur Durchsetzung von Gesetzen auch Sanktionen gehören.

Wenn an der deutsch-österreichischen Grenze - auch das gehört zur Wahrheit - in zwölf oder 14 Stunden 7 000 Menschen ankommen, von denen die Hälfte keine gültigen Papiere hat, wären sie nach bundesdeutschem Recht abzuweisen. Nur aufgrund einer europäischen Vereinbarung können sie zu uns kommen. Auch das müssen Sie bei solchen Dingen vernünftigerweise berücksichtigen.

Wenn Sie sich jetzt hinstellen, Herr Herbst, und sagen, man hätte all das vorhersehen können, was jetzt kommt, dann muss ich sagen: Sie sind der schlauste Mensch in Gesamtdeutschland.

(Beifall bei der CDU)

Ich bedauere zutiefst, dass Sie Ihren Freund Herrn Kretschmann nicht beraten haben. Der steht vor dem gleichen Problem. Ich telefoniere mit jedem Innenminister dieses Landes, mit dem Bundesinnenminister, den Ministerpräsidenten - in allen Bundesländern gibt es die gleiche Entwicklung.

Ich nenne Ihnen noch einmal die Zahlen: 200 000 waren im Frühjahr prognostiziert, 400 000 im August, 800 000 etwas später. Und nach der Entscheidung der Kanzlerin sind innerhalb von einer Woche 63 000 Menschen zu uns gekommen und fast Millionen sind im Augenblick an den - nicht dichtgemachten - Grenzen. Auch das ist ein völlig falscher Duktus; niemand hat die Grenzen dichtgemacht. Wir kontrollieren und entschleunigen. Insofern besteht in jedem Bundesland bei uns die gleiche Herausforderung.

Wissen Sie, diese Herausforderung werden wir meistern. Das sagen wir auch deshalb, weil Sie nicht der eigenen Bevölkerung sagen können, dass Sie eine Herausforderung nicht meistern. Dann destabilisieren Sie ein Land und dann können Sie sich aus der Regierungsverantwortung verabschieden. Insofern sage ich Ihnen deutlich: Wir machen das. Wir machen das gemeinsam mit den Landräten. Wir machen es aufgrund geltender Gesetze und wir machen es auch unter der Beobachtung und Beachtung der Stimmungslage in der eigenen Bevölkerung.

Ansonsten können Sie Bertolt Brecht nehmen, der dann irgendwann den Herrschenden empfohlen

hat: Wenn es nicht mehr weiterginge, sollen sie sich ihr eigenes Volk wählen. Das würde ich ungern in Deutschland erleben wollen.

(Zustimmung bei der CDU)

Wir haben eine Werteverantwortung und dieser Werteverantwortung müssen wir gerecht werden. Das, was ich einfordere, ist keine kleinpolitische Debatte, wer hier der bessere Mensch ist, sondern ich fordere in diesem Land dazu auf, dass wir eine Wertedebatte darüber führen, wie wir Kulturen zueinander bringen, wie wir mit vernünftigen Rechtsrahmenbedingungen Integration machen können. Ich fordere auch dazu auf, dass die Kulturen sich gegenseitig bereichern, nicht dass die eine die andere überdeckt.

(Zuruf Herr Herbst, GRÜNE)

Das sind die Herausforderungen, vor denen wir stehen.

(Beifall bei der CDU - Zustimmung bei der SPD)

Deshalb werden Sie in meinem Regierungshandeln und auch in dem Regierungshandeln dieser Regierung beides erleben: eine konservative Orientierung und gleichzeitig eine liberale. Ich werde von Ihnen für die konservative gescholten und von einigen anderen für die liberale. Ich halte beides aus, weil wir in einem freien Land leben und ich im Augenblick nichts anderes tue, als meiner ganz persönlichen - nicht parteipolitisch geprägten - inneren Überzeugung treu zu sein. Dafür diene ich diesem Land. - Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU - Zustimmung bei der SPD)

Herr Minister, es gibt eine Anfrage von Herrn Gallert.

Bitte.

Herr Stahlknecht, mich hat Ihre Rede ein Stück weit irritiert, vor allen Dingen im ersten Teil, wo Sie davon sprachen, dass man doch wohl die Frage stellen dürfe - so habe ich es zumindest verstanden -, ob die Leute nicht berechtigt Angst davor haben müssten oder könnten, dass ihnen ihr Land durch die Flüchtlinge, die zu uns kommen, ein Stück weit weggenommen wird.

(Herr Borgwardt, CDU: Hat er doch gar nicht gesagt! - Unruhe bei der CDU)

- Dann kann er es doch klarstellen. - Sie sprachen am Ende wiederum von Kulturen, die sich gegenseitig beeinflussen, aber nicht überlagern dürften.

(Herr Kurze, CDU: Das ist richtig!)

Das war eigentlich das Gegenteil dessen, was Sie im ersten Teil gesagt haben.

Mein eigentliches Problem, weshalb ich mich gemeldet habe, ist: Sie sagen, wir beobachten die Stimmung in der Bevölkerung. Aber wir alle haben als Politiker auch die Verantwortung, eben diese Stimmung ein Stück weit verantwortungsvoll mitzugestalten. Dann frage ich Sie, wie Sie die folgenden Worte Ihres Staatssekretärs in diesem Zusammenhang interpretieren

(Herr Borgwardt, CDU: Darauf warte ich!)

- am 24. Juli in der „Volksstimme“ zitiert -: Die Welle von Flüchtlingen in Sachsen-Anhalt überrollt uns und deren Zahl explodiert. Und seine Äußerungen bei der Einwohnerversammlung in Klietz, wo er mehrmals davon sprach - übrigens interessanterweise in Klietz -, dass wir überflutet würden von Flüchtlingen und dass man Ungarn entflutet habe. Wie bewerten Sie diesen Sprachgebrauch Ihres Staatssekretärs?

Ich fange mit dem mittleren Teil an, in dem Sie sagen, Politik hat auch die Verantwortung - jetzt wollen wir das einmal vorsichtig formulieren -, Stimmungslagen in einer Bevölkerung zu steuern. So habe ich Sie verstanden.

(Zuruf von Herrn Gebhardt, DIE LINKE)

Ich sage einmal, zu steuern oder auch zu beeinflussen, wie Sie es auch nennen mögen. Ich sage Ihnen, Herr Gallert: Dazu müssen Sie mir jetzt keinen Nachhilfeunterricht geben. Ich habe mich dazu in Quedlinburg vor 600 Leute gestellt und ich bin heute Abend in Halle, wo 1 400 Leute erwartet werden, und dort tue ich genau das. Insofern danke ich Ihnen für den Ratschlag. Sie sehen aber, ich habe das schon längst getan, und das tue ich auch hier.

(Beifall bei der CDU)

Zu Ihrer ersten Frage: Es gibt zwei Dinge. Sie haben Stimmungen innerhalb einer Bevölkerung, die im Augenblick von Ängsten und Sorgen geprägt sind. Es gibt eine Umfrage, die besagt, dass 52 % unserer Menschen in Sachsen-Anhalt, unserer Bürgerinnen und Bürger, Sorge haben. Das müssen Sie ernst nehmen. Sie müssen sich diese Sorgen anhören, Herr Gallert, auch wenn das nicht Ihrer persönlichen Überzeugung entspricht, was dort gesagt. Es entspricht in Teilen auch nicht meiner

Überzeugung. Die Angst der Menschen ist aber schlicht da.

(Herr Kurze, CDU: Richtig!)

Sie besteht aus einem unglaublich großen Motivationsbündel von Ängsten, die sich am Ende im Nebelbereich zusammenführen. Sie müssen zuhören. Sie müssen Ängste ausräumen. Sie dürfen aber nicht - deshalb habe ich Ihnen das gesagt - ein Land überfordern, weil sonst eine Herausforderung zur Überforderung wird. Und dabei bleibe ich.

Ansonsten habe ich Ihnen zum Schluss meiner Rede gesagt, dass beide Kulturen nebeneinander Bestand haben, und zwar mit ihrer geschichtlichen Tradition. Sie können sich mit dem Islam auch einmal geschichtlich auseinandersetzen, über erste Hochkulturen. Sie können sich mit dem christlichen Glauben auseinandersetzen.

Sie können auch einmal zulässigerweise die Frage stellen - diese ist für Sie als atheistische Partei nicht so spannend -: Was passiert eigentlich in einem Land, in dem nur noch relativ wenige religiös gebunden sind, wenn plötzlich Zuwanderer kommen, die religiös sehr stark gebunden sind? Wie wirkt sich das aus? - Diesbezüglich sind Sie nicht ganz up to date; das ist mir schon klar. Sie müssen sich die Frage aber stellen.

Das sind die Fragen, die mich interessieren. Das sind die Fragen, über die wir zu sprechen haben mit Kirchen, mit Verbänden, mit Philosophen, mit Psychologen. Das ist für mich das. Deshalb brauchen wir einen Gesellschaftsvertrag.

Wir haben vor 15 Jahren unter Merz über eine deutsche Wertekultur diskutiert. Die habe ich nicht immer geteilt. Sie ist aber gänzlich überholt. Insofern brauchen wir etwas anderes, nach vorn gerichtet. Dann sind Sie bei dem, was Sie fordern.

Wenn Sie ein Volk mitnehmen wollen - den Begriff „führen“ sollte man nicht unbedingt verwenden; insofern sage ich „mitnehmen“ - oder wenn Sie Meinungen steuern wollen, dann brauchen Sie eine Architektur. Diese Architektur, bei dieser Herausforderung, wo 60 Millionen Menschen auf der Welt sind, besteht nicht aus dem Klein-Klein, dass wir uns darüber Gedanken machen, ob in eine zentrale Anlaufstelle 2 000 oder 2 500 Menschen passen. Es sind ganz andere Bögen, die wir zeichnen müssen. Und in diesem großen Bogen, den wir zeichnen müssen, gibt es ganz unterschiedliche Meinungen. In diesen Dingen können wir uns dann fechten.

Zum Sprachgebrauch ist es so, dass im Augenblick mehr Menschen zu uns kommen, als es seriöserweise voraussehbar war. Dazu habe ich etwas gesagt. Insofern ist das, soweit ich Sie verstanden habe, in den Äußerungen, die dort getätigt worden sind, dargestellt worden. Wir haben eine

Situation, dass sehr viele Menschen zu uns kommen. Jeder Einzelne hat für sich die Wertungs- und Darstellungshoheit. - Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU)