Meine Damen und Herren! Ich stelle die Beschlussfähigkeit des Hohen Hauses fest und eröffne den heutigen Sitzungstag.
Die Redezeit beträgt zehn Minuten je Fraktion. Die Landesregierung hat ebenfalls eine Redezeit von zehn Minuten.
Bevor wir allerdings in die Debatte einsteigen, möchte ich darauf hinweisen, dass wir jemanden unter uns haben, der heute Geburtstag hat. Wir gratulieren dem Abg. Herrn Matthias Lieschke ganz herzlich zum Geburtstag. Herzlichen Glückwunsch!
Darüber hinaus erinnere ich daran, dass sich heute der Ministerpräsident ab 14:30 Uhr und der Staats- und Kulturminister ganztägig entschuldigt haben.
Damit können wir nunmehr in die Beratung einsteigen. Als Einbringerin hat zuerst die Abg. Frau Hohmann für die Fraktion DIE LINKE das Wort. Bitte sehr.
Das ist schon die erste Änderung. In meinem Manuskript steht „Frau Präsidentin“, weil ich davon ausgegangen bin, dass sie hier sitzt.
Einen wunderschönen guten Morgen, sehr geehrter Herr Präsident, meine Damen und Herren! Nun hat auch das Statistische Bundesamt vor einigen Tagen bestätigt, dass die Quote der Armutsgefährdung in Deutschland steigt. Waren im Jahr 2010 noch 18,2 % der unter 18-Jährigen betroffen, sind es im Jahr 2015 schon 19,7 %. Das heißt in Zahlen, ca. 2,5 Millionen Kinder oder jedes fünfte Kind ist von Armut betroffen, und dies trotz guter Konjunktur auf dem Arbeitsmarkt. Auch die Bertelsmann-Stiftung zeigt mit ihrer jüngsten Studie deutlich: Die Kinderarmut wächst.
Ein Aufwachsen in Armut droht hier zur Normalität mit langfristig negativen Folgen zu werden. Wie stellt sich die Situation in Sachsen- Anhalt dar? - 72 333 Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren, also 23,8 %, lebten im Jahr 2015 in Familien mit SGB-II-Bezug. Im Jahr 2011 waren es noch 76 436 Kinder und Jugendliche. Dies entspricht einer Quote von 26,1 %.
Nun könnte man den Schluss ziehen, dass sich die Lage in Sachsen-Anhalt verbessert hat. Doch auch mit diesen Zahlen befinden wir uns noch immer auf einem der letzten Plätze im Bund. Wenn man sich dann noch die Verweildauer von Kindern im Alter von sieben bis unter 15 Jahren im SGB-II-Bezug in Sachsen-Anhalt im Jahr 2015 anschaut, dann stellt man fest, dass 59,1 % davon drei Jahre und länger betroffen sind.
Aber wir haben nicht nur die Armut von Kindern mit SGB-II-Bezug zu beklagen. Der Kreis ist noch viel größer. Ich denke dabei an die Familien mit einem Anspruch auf den Kinderzuschlag, auf Wohngeld oder aber an die Aufstocker, Teilzeitbeschäftigten oder Minijobber. Selbst Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, die den Mindestlohn beziehen, haben kaum genügend finanzielle Ressourcen, wenn sie zum Beispiel hohe Kita-Beiträge zahlen müssen.
Diese andauernden Armutserfahrungen wirken sich besonders negativ auf die Teilhabe und die Entwicklung von Kindern aus. Das Risiko, in einer armen Familie groß zu werden, ist vorwiegend hoch in Familien mit nur einem Elternteil - das betrifft insbesondere alleinerziehende Frauen - und in Familien mit Migrationshintergrund. Besonders betroffen sind aber auch Familien mit mehreren Kindern.
Selbst das Institut für Wirtschaftsforschung Halle hat festgestellt: Für jedes Jahr Arbeitslosigkeit des Vaters erhöht sich die Dauer der Arbeitslosigkeit des Sohnes im Schnitt um zwei Wochen.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Zahlreiche Studien - ich glaube, es sind 59 an der Zahl - zeigen, das Aufwachsen in Armut bleibt nicht folgenlos. Der Deutsche Kinderschutzbund fasst es sehr treffend zusammen:
Welche langfristigen Folgen hat nun Kinderarmut? Zwar wird regelmäßig festgestellt, welche Defizite arme Kinder haben, aber es gibt bisher nur eine Längsschnittstudie zu diesem Thema, angelegt über einen Zeitraum von zwölf Jahren. Dies ist die ISS-Studie der AWO. Hierbei wurden Kinder von der Kita über die Grundschulzeit bis in den Sekundarschulbereich begleitet. Die Ergebnisse dieser Studie sind sehr aufschlussreich und geben Anregungen dahin gehend, welche gesellschaftlichen Herausforderungen zu bewältigen sind.
Familiäre Armut hat bereits im Vorschulalter bei einem großen Teil der Kinder negative Folgen für die kindliche Lebenssituation und stellt ein zentrales Entwicklungsrisiko dar. Einige Beispiele dafür: mangelnde, nicht kindgerechte sowie nicht zweckmäßige Ausstattung mit Kleidung und Beiwerk - zu große Schuhe, zu kleine Schuhe. Weiterhin werden Kinder nicht zu Geburtstagen eingeladen oder haben sprachliche Defizite.
Zwar erhalten die Kita-Kinder und ihre Eltern soziale Hilfen, aber die Passgenauigkeit, also wer welche Unterstützung nutzt bzw. nutzen kann, ist eher gering. Die Lebenswelt von armen und nicht armen Kindern geht in der Grundschule immer weiter auseinander. Für arme Kinder zeigt sich vermehrt der Verlauf eines „Fahrstuhls nach unten“, während für nicht Arme eher der Verlauf mit einem „Fahrstuhl nach oben“ gilt. Nicht selten haben beide Gruppen im Alltag kaum mehr etwas miteinander zu tun. - So das Ergebnis der AWOStudie.
Arme Kinder sind zehn Jahre später dreimal so oft in den zentralen Lebens- und Entwicklungsbereichen auffällig wie ihre gleichaltrigen Mitschüler. Sie werden regelmäßig schlechter benotet als ihre Mitschülerinnen und Mitschüler.
Auch die Bildungsbiografien und -ergebnisse unterscheiden sich sehr deutlich nach Armut: Arme Jugendliche erreichen nicht nur am häufigsten ein niedriges Bildungsniveau, sie haben auch im Verlauf ihrer Schulzeit häufiger und mehrfach Brüche, Umwege und Wiederholungen erlebt.
Arme Kinder schließen als 16- bzw. 17-Jährige die Schule öfter ohne Abschluss oder nur mit einem Förder- bzw. Hauptschulabschluss ab. Dort, wo Hilfe für Kinder und Jugendliche in Risikolagen besonders wichtig wäre, ist sie wegen der Finanznot der Kommunen besonders schwer zu finanzieren.
In der Kinder- und Jugendarbeit ist die Zahl der Beschäftigten in den letzten 15 Jahren um ein Drittel zurückgegangen. Auch die Zunahme prekärer Arbeitsverhältnisse, wie Freiberuflichkeit,
Beschäftigung auf Honorarbasis, Leiharbeit und befristete Arbeitsverhältnisse, hat dazu geführt, dass sich gut qualifizierte junge Menschen für andere Berufe entscheiden.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Warum berichte ich hier so ausführlich? - Wenn wir uns unseren letzten Sozialbericht der Landesregierung oder auch die Antwort auf die Kleine Anfrage der Kollegin Cornelia Lüddemann aus dem Jahr 2013 zur Kinderarmut anschauen, können wir feststellen, dass die Landesregierung noch nicht alle Möglichkeiten zur Reduzierung der Kinderarmut ausschöpft. Daher gilt es zukünftig, auch in den bevorstehenden Haushaltsberatungen, genau hinzuschauen, wofür Geld ausgegeben wird und wo Kürzungen geplant sind.
Meine Fraktion hat sich in den letzten zwei Wahlperioden mit 14 verschiedenen Anträgen, Gesetzentwürfen und Bundesratsinitiativen in den Prozess der Verringerung von Kinderarmut eingebracht. Leider wurden die meisten Initiativen abgelehnt. Doch erfolgreich war unsere Beharrlichkeit bei der Ganztagsbetreuung aller Kinder in den Kindertagesstätten. Ich erhoffe von der Landesregierung, dass sie keine Kürzung beim Ganztagsanspruch bei der bevorstehenden Novellierung des Kinderförderungsgesetzes vornimmt.
Sehr geehrte Damen und Herren! Umfang und Folgen von Armut in Kindheit und Jugend werden nach wie vor öffentlich und politisch unterschätzt. Es sind dringend gesellschaftliche Rahmenbedingungen erforderlich, die die finanzielle Situation von armen Familien verbessern. Dazu zählen arbeitsmarkt-, sozialversicherungs-, steuerrechtliche und familienpolitische Verbesserungen. Dazu gehört aber auch eine systematische Unterstützung, Entlastung und Qualifizierung der Eltern.
Um erfolgreich gegen Kinderarmut anzugehen, bedarf es aller gesellschaftlichen Kräfte. Ich bin der Auffassung, dass der Bund, die Länder und die Kommunen gemeinsame Anstrengungen unternehmen müssen.
Was könnten erfolgreiche Maßnahmen sein? - An dieser Stelle möchte ich einige wenige nennen. Auf der Bundesebene müsste die soziale Absicherung für alle Kinder und Jugendlichen durch eine Kindergrundsicherung erfolgen.
Die sozialen Sicherungssysteme sind endlich existenzsichernd auszugestalten. Die Situation auf dem Arbeitsmarkt muss verbessert und prekäre Beschäftigung zurückgedrängt werden. Zum Kindeswohl trägt auch eine hochwertige und für alle beitragsfreie Kita- und Schulverpflegung bei. Bisherige kindesbezogene pauschale Geldleistungen bzw. Vergünstigungen sind zu bündeln.
Was fehlt, ist weiterhin eine spürbare Verbesserung des Kindergeldes, nicht nur um 2 €, und eine längere Bezugsdauer des Unterhaltsvorschusses.
Kinder getrennt lebender Eltern brauchen vieles doppelt, gerade weil sie zeitweise in zwei Haushalten leben. Deshalb muss hier auch der Ausgleich des Mehrbedarfes erstattet werden, ein sogenannter Umgangsmehrbedarf.
Ein Beispiel für eine Änderung wäre die sogenannte Nachhilfe. Warum müssen Kinder erst versetzungsgefährdet sein, um diese in Anspruch nehmen zu können?