Protokoll der Sitzung vom 16.10.2020

Ja, aber dann bitte den letzten Satz; denn Sie sind eigentlich schon eine Minute über der Zeit.

Ich sehe noch kein positives Licht einer deutschen Wiedervereinigung, sondern ich sehe vor dem Hintergrund des Gesagten und der Fakten erst einmal noch eine ganze Menge Arbeit, um das Ziel zu erreichen, das wir uns vor 30 Jahren vorgenommen haben. - Vielen Dank.

Ich sehe keine Wortmeldungen. Somit kommen wir zu dem letzten Debattenredner. Herr Borgwardt kann sich schon vorbereiten. Er wird für die CDU-Fraktion sprechen. - Sie dürfen jetzt nach vorn kommen und erhalten von mir das Wort. Bitte.

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wer erinnert sich nicht an die historische Pressekonferenz vom 9. November 1989, in der der SED-Funktionär Günter Schabowski sagte, dass die neue Reiseregelung seines Wissens sofort und unverzüglich in Kraft gesetzt wurde. Mit diesem Satz - die meisten von uns erinnern sich noch daran - brachte er die Mauer und insbesondere das Grenzregime zu Fall. Er sorgte für Bilder, die in Erinnerung geblieben sind. Dieser Tag hat deutlich mehr Symbolkraft, meine sehr verehrten Damen und Herren, als der 3. Oktober 1990.

(Beifall)

Verträge, Gesetze und Verordnungen traten in Kraft. „Die Zeit“ beschreibt diesen Tag in der Ausgabe vom 17. September 2020 als eine Zäsur, als eine Antwort auf das Jahrhundertproblem - die deutsche Frage. Deutschland hatte somit, wie es Bundespräsident Richard von Weizsäcker am 3. Oktober 1990 in seiner Rede zum Festakt zur Wiedervereinigung in der Berliner Philharmonie formulierte, zum ersten Mal in der Geschichte seinen dauerhaften Platz im Kreis der westlichen Demokratien gefunden.

Rückblickend werden viele Ostdeutsche sowohl positive als auch negative Erinnerungen an die DDR haben. Es gab die Straßenbahnfahrt für 15 Pfennige, es gab eine ungeheure Gemeinsamkeit und Hilfsbereitschaft unter den Menschen. Dem standen der permanente Mangel in der Wirtschaft, der Kampf um eine brauchbare Wohnung, das Warten auf ein Auto sowie ein bankrotter Staat gegenüber.

Ungleich schwerer, meine Damen und Herren, wog jedoch die staatliche Bespitzelung in einem

Ausmaß, das wir uns nicht haben vorstellen können, und ein unmenschliches Grenzregime. Diesen Zwiespalt fasst die Ausstellung „Voll der Osten. Leben in der DDR“ mit Bildern des renommierten Fotografen Harald Hauswald, die auf dem Flur unserer CDU-Geschäftsstelle zu besichtigen sind, in einigen Kernpunkten zusammen:

(Zustimmung)

Rebellion, Sehnsucht, Gemeinschaft, Wider

spruch, Flucht.

Letztendlich haben die negativen Punkte überwogen und die DDR ist vor mehr als 30 Jahren zu Recht am Urteil ihrer Bevölkerung gescheitert. Es waren die Bürgerinnen und Bürger im Osten, die die Deutsche Einheit und die Freiheit erkämpft haben,

(Zustimmung)

eine Freiheit, die es der jüngsten und jüngeren Generation heute ermöglicht, eine ideologiefreie Schulbildung zu durchlaufen, zu studieren, was immer sie möchten, und ein Leben in Freiheit, das politisches Leben ohne Ausgrenzung und Verfolgung möglich macht.

(Zustimmung)

Ich glaube, Bundeswirtschaftsminister Altmaier hat es in der Bundestagsdebatte sehr gut auf den Punkt gebracht: Es war die Hoffnung auf Einheit, Freiheit und Demokratie, aber auch der Wunsch nach einer lebenswerten Umwelt, nach sozialer Sicherheit, nach einer guten Infrastruktur und nach wirtschaftlichem Wohlstand.

Meine Damen und Herren! Es bedurfte eines hohen Maßes an diplomatischem Geschick aller Beteiligten, um die Vorbehalte gegenüber einem vereinigten Deutschland zu überwinden. Dies gelang und war nicht zuletzt der Umsicht des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl, aber und insbesondere auch von Michail Gorbatschow, seit 1985 Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, mit seiner Politik von Glasnost und Perestroika zu verdanken. Eben diese Prinzipien von Offenheit und Umgestaltung waren die Antwort auf die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Probleme sowie auf die Unzufriedenheit der Menschen.

Andere kommunistisch geprägte Staaten folgten dem Vorbild der Sowjetunion, sehr zum Ärger des SED-Regimes der DDR und des Generalsekretärs Erich Honecker, der, wie sich jeder noch erinnern kann, mit steinerner Miene dasaß, als Gorbatschow anlässlich des 40. Jahrestages der Gründung der DDR sagte: Wer zurückbleibt, den bestraft das Leben.

Meine Damen und Herren! Heute, 30 Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung, gibt es durch

aus regionale Unterschiede bei der Altersstruktur, bei der Wirtschaftsleistung oder bei den Einkommen; meine Vorredner sind schon darauf eingegangen. Diese Unterschiede lassen sich aber nicht mehr nur in Ost und West beobachten.

Ähnlich formulierte es auch Norbert Schneider, der Direktor des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung in Wiesbaden, in einem „Welt“-Artikel vom 23. September 2020, der sagte, es gebe derzeit boomende Regionen im Osten, denen schwache Regionen - durchaus auch im Westen - gegenüberstünden. Als Beispiel nannte er Gelsenkirchen, das seit Anfang der 90er-Jahre mehr als 11 % der Bevölkerung eingebüßt hat. Im Osten gibt es Regionen, die wachsen. Neben der Gegend um Jena zählen dazu Leipzig, Dresden, Weimar, der Speckgürtel um Berlin und auch die Städte Magdeburg und Halle.

Nichtsdestotrotz beklagt ein Anteil von 64 % der Bevölkerung weiterhin, dass wir keine gleichwertigen Lebensverhältnisse haben. Die ostdeutsche Wirtschaft liegt, bezogen auf die Leistungskraft, bei 79 % der westdeutschen Wirtschaft. Mitteldeutschland hat nach einer Statistik - -

(Unruhe)

Herr Borgwardt, darf ich Sie kurz unterbrechen? - Ich würde Sie wirklich bitten, Ihre Gespräche einzustellen oder auch hinauszugehen, wenn Sie tatsächlich so viel Redebedarf haben.

(Zurufe)

Ich denke, es wäre gegenüber dem Redner, der hier vorn steht, fair - das sage ich bei allen anderen Rednern auch; ich ermahne Sie immer wieder -, wenn Sie den Geräuschpegel ein wenig senken oder hinausgehen. - Herr Borgwardt, Sie dürfen jetzt fortfahren.

Schön. Die Zeit ziehe ich dann aber ab.

Die Zeit wird nicht angerechnet.

Sie lief weiter, Frau Präsidentin.

Ja, alles gut.

Bei dem Thema Rente hat sich Bundesrepublik Deutschland für die Angleichung nun auf das Jahr 2025 festgelegt, sage und schreibe 35 Jahre nach

der Wiedervereinigung. Diese Punkte wirken sich nun einmal auf die Stimmung im Land aus. Auch deshalb haben seit 1990 mehr als 650 000 Menschen das ländliche Sachsen-Anhalt verlassen.

In der aktuellen Studie der Bertelsmann-Stiftung geben 59 % der Ostbürger an, sich noch heute als Menschen zweiter Klasse zu fühlen. Der Zusammenhalt wird im Westen von ca. 40 % und im Osten von ca. 50 % der Bevölkerung als schlecht bzw. sehr schlecht eingeschätzt. Deshalb ist es fast logisch, dass heute, 30 Jahre nach der Wiedervereinigung, noch immer ein echtes Wirgefühl fehlt. Deshalb muss es Aufgabe der Politik sein, einen Austausch zu organisieren und entsprechende Foren zu schaffen.

Es trifft zu, dass es in den neuen Bundesländern weniger Zentralen großer Konzerne gibt. Es trifft auch zu, dass es in den neuen Ländern zum Teil weniger gut bezahlte Arbeitsplätze gibt. Die Ansiedlung von Tesla in Brandenburg, die Batteriefertigung von CATL in Thüringen, die Niederlassung von Bundesbehörden in Leipzig und der Neubau einer Biogasanlage - ich will jetzt nicht alles aufzählen, was meine Vorredner schon genannt haben - zeigen aber auch, dass wir im Osten aufgeholt haben.

(Beifall)

Meine Damen und Herren! Die Einheit Deutschlands war auch die Geburtsstunde unseres Bundeslandes, eines Bundeslandes, das nicht historisch gewachsen, sondern im Jahr 1990 am Schreibtisch zusammengepuzzelt wurde. 40 Jahre Sozialismus haben auch in Sachsen-Anhalt ihre Spuren hinterlassen: in den Innenstädten, an den Häusern, bei der Infrastruktur und insbesondere bei der Umwelt. Die wirtschaftliche Anfangszeit war eine schwierige. Ursächlich dafür waren die zahlreichen Betriebsschließungen und Entlassungen. Auch hierauf sind meine Vorredner schon eingegangen.

Bereits Anfang dieses Jahres haben wir in einem Positionspapier zum Strukturwandel auf notwendige Maßnahmen zur Unterstützung der Strukturwandelregionen hingewiesen. Infrastruktur ausbauen, zukunftssichere Arbeitsplätze schaffen und die Digitalisierung vorantreiben sind zwingende Bestandteile eines Strukturwandels.

Mittlerweile haben wir die schlechte Ausgangsbasis zum Teil hinter uns gelassen. Wir verfügen heute über eine moderne, mittelständisch geprägte Wirtschaft und über eine gut ausgebaute Infrastruktur. Der Abwanderungstrend scheint gestoppt zu sein. Derzeit ziehen sogar mehr Menschen nach Sachsen-Anhalt als fortziehen.

Das verdeutlichen auch die Zahlen der Bürgerumfrage meiner Fraktion vom August 2020: 85 % der Menschen leben gern in unserem Bundesland. Im

Vergleich zum Jahr 2010 ist das ein Anstieg um 15 %. Zudem bewerten mehr als 70 % die Entwicklung Sachsen-Anhalts als mindestens gut. Das ist ein Verdienst der Regierungsfraktionen - natürlich maßgeblich auch meiner Fraktion - und der gesamten Landesregierung. Diese Entwicklung gilt es voranzutreiben, vor allem vor dem Hintergrund der Tatsache, dass mit dem Kohleausstieg bereits die nächste Herausforderung in Sachsen-Anhalt ansteht.

Ich schenke es mir, auf das Thema Corona einzugehen. Am Ende meiner Ausführungen möchte ich noch kurz zwei Punkte ansprechen.

Der Euphorie von damals, meine Damen und Herren, standen Herausforderungen und Zumutungen beim Zusammenwachsen gegenüber. So groß die Umbrüche auch waren, so stolz - das sollten wir auch gelegentlich sagen - können wir nach 30 Jahren auf das Erreichte sein. Wir dürfen das Gewesene niemals vergessen. Dennoch sollten wir den Blick nach vorn richten. Wir leben in Freiheit und Frieden in einer gut funktionierenden Demokratie. Dies ist angesichts der deutschen Geschichte eine herausragende Errungenschaft.

(Beifall)

Zugleich ist es aber auch eine Verpflichtung, insbesondere nachdem der für mich immer noch unvorstellbare rechtsextreme Terroranschlag von Halle im vergangenen Jahr zu verzeichnen war; meine Vorredner sind darauf eingegangen. Deshalb bleibt für uns Christdemokraten unsere Grundüberzeugung weiterhin aktuell; wir setzen uns konsequent mit allen Feinden der Demokratie auseinander, egal ob sie rechts, links oder religiös motivierte Extremisten sind.

(Beifall)

Ich bedanke mich herzlich für die Aufmerksamkeit, liebe Kollegen.

(Beifall)

Vielen Dank, Herr Borgwardt. Sehen Sie, Sie haben die Zeit gar nicht gebraucht. Die hätten wir Ihnen natürlich gern dazugegeben.

Ja, ich habe zwei Dinge weggelassen.

Ich sehe keine Wortmeldungen. Somit sind wir am Ende der Aussprache angelangt. Beschlüsse in der Sache werden nicht gefasst. Damit ist der Tagesordnungspunkt 2 erledigt und gehen zum nächsten Tagesordnungspunkt über. Doch zuvor werden wir im Präsidium einen Wechsel vornehmen.