Protokoll der Sitzung vom 03.11.2020

Meine Frage richtet sich darauf, welche Evaluationsmaßstäbe man sich vorzustellen hat. Welche Evaluationsmaßstäbe wollen die Ministerpräsidenten und die Kanzlerin anlegen? - Ich frage Sie das sowohl als Ministerpräsidenten als auch als Physiker, der mit Evaluationen vertraut ist. Welche Szenarien stellt man sich vor? Welche Erwartungshaltung gibt es dazu, was am 16. November auf dem Tisch liegen könnte? Welche neuen, welche anderen verschärften oder gelockerten Maßnahmen könnte das nach sich ziehen? Welche Überlegungen gibt es für den Fall, dass man - das ist heute schon angesprochen worden - feststellt, dass man eventuell die falschen Treiber angefasst hat? Macht man dann trotzdem weiter?

Alles in allem: Was haben wir denn zu erwarten, wenn wir jetzt alle 14 Tage lang auf den 16. November blicken? Und welche Diskussionen haben wir dann möglicherweise hinterher zu führen?

Herr Ministerpräsident, bitte.

Es gibt eine qualitative Seite bei der Gesamtbewertung. Dabei geht es darum: Findet das, was wir jetzt gemacht haben, eine ausreichende Akzeptanz? - Wenn sich große Teile der Gesellschaft dem entziehen, dann wird auch ein Großteil der Erwartungen, die wir damit verbinden, ins Leere laufen. Das ist eine politische, eine psychologische, eine soziale Frage, die wir in diesem Zusammenhang aufgerufen sehen, bei der wir auch schauen müssen, was bis hin zur Transparenz, bis hin zum Klarmachen der notwen

digen Maßnahmen, auch mit dem Querverweis auf Szenarien in anderen europäischen Ländern, weiter gemacht werden muss und auch argumentativ geschärft werden muss. Das ist die eine Sache.

Die quantitative Seite dabei ist, dass wir die Dynamik der letzten Tage und Wochen erlebt haben. Wir wissen mehr oder weniger, dass sich die hohe Infektionsrate pro Einzelfall als jeweilige Ursache für eine Kausalkette darstellt und zu der Gesamtsituation geführt hat.

Das heißt, um es einfach zu sagen: Schaffen wir es, in den Ländern mit einem Inzidenzwert über 100 wieder von diesem Wert herunterzukommen? Haben wir eine Chance, wieder unter 50 Infizierte pro sieben Tage und 100 000 Einwohner zu kommen? Schaffen wir das vor allen Dingen auch in den Kreisen? - Aber letztendlich ist es so: Wenn man sich den Altmarkkreis Salzwedel oder das Jerichower Land als Flächenkreise ansieht, dann sieht man beinahe den Faktor 10. Das ist die Situation.

Man muss eben regional schauen, inwieweit die Gesundheitsämter in der Lage sind, diese Aufgabe zu bewältigen. Wir haben die Kommunen nochmals gebeten, in den Gesundheitsämtern auf die Frühjahrszahlen hochzufahren und die Bundeswehr einzusetzen. Zudem wollen wir sukzessive Landesbedienstete in die Schwerpunktbereiche hineingeben, damit wir die Nachverfolgbarkeit, dort wo sie uns aus den Händen gerutscht ist, wieder in den Griff bekommen, sodass wir den Inzidenzwert wieder auf unter 50 herunterzoomen können, auf einen Bereich, in dem wir eine gute Transparenz hatten.

Wir müssen uns die Situation in 14 Tagen anschauen und prüfen, ob es erste Effekte gibt. Dass durch die Institute, die uns beraten haben, vier Wochen empfohlen worden sind, hat mit einer mathematischen Größe zu tun. Man hat gesagt, ein Inkubationszyklus und ein zweiter sowie bestimmte andere Effekte müssen sich gegenüber den ungebremsten Extrapolationen in irgendeiner Weise niederschlagen. Das muss man sehen. Dann muss politisch darüber diskutiert werden, ob die Maßnahmen, die im Frühjahr geholfen haben, die damals richtig gewesen sind, im Herbst bei Fortsetzung der wirtschaftlichen Tätigkeiten im sonstigen Bereich und der Tätigkeiten im schulischen Bereich entsprechend aufrechterhalten werden.

Die Zahlen für die Schulen - bei all den Problemen, die es dort punktuell gibt - sind bei uns derzeit so, dass wir sagen: Die Schulen sollte man auf jeden Fall erst einmal außen vor lassen. Dort gilt es dann technisch nachzusteuern, bis hin zu Dingen, die punktuell auch einmal in den Hybrid

unterricht hineingehen. Dazu laufen im Übrigen überall schon Praxistests an den Schulen. Überall, wo ich nachgefragt habe, ist man dafür gewappnet. Die iPads sind sukzessive ausgereicht worden; weit mehr als 10 000 Geräte sind ausgeliefert worden. Dort, wo noch Lücken waren, sind diese geschlossen worden, sodass die technischen Voraussetzungen gegeben sind. Jeder hat auch mehr oder weniger verstanden, wie gelüftet werden muss. Diesen Bereich würde ich also außen vor lassen.

Ich würde auch versuchen, die Wirtschaft möglichst unangetastet zu lassen, sofern dort Regime gefahren werden, die mit festen Kohorten verbunden sind. Dies sollte die demzufolge die Gesamtgesellschaft nicht weiter destabilisieren.

(Zurufe)

Ansonsten kann ich nicht in die Glaskugel gucken. Wir müssen jetzt gemeinsam dafür sorgen, dass es eine Akzeptanz gibt, weil es eine Chance ist, die wir nutzen sollten. Wir werden uns die Situation dann in 14 Tagen bzw. in vier Wochen wieder ansehen müssen und schauen, was kommt.

Herr Gallert, Sie sind jetzt an der Reihe.

Herr Ministerpräsident, wir sehen, es gibt in der Debatte erhebliche Differenzen zwischen Coronaleugnern und denjenigen, die die Situation sozusagen beherrschen wollen. Aber ich will auch feststellen: Es gibt auch erhebliche politische Differenzen zwischen denjenigen, die die Situation beherrschen wollen. Ich stelle fest, dass sich unsere ideologischen Grundvorstellungen seit dem 16. Oktober 2020, also innerhalb von 14 Tagen, offensichtlich etwas angenährt haben.

Ich will aber auf ein gewaltiges Problem hinweisen. Dieses Problem ist mir bei der Beantwortung der Frage von Frau Frederking sehr deutlich geworden:

Wir können uns als Politik nicht hinstellen und behaupten, Infektionen und Infektionsherde haben ihre Ursache im Versagen Einzelner - wir wissen schon bei 75 % gar nicht mehr, woher die Infektion kommt; denn dann weiß auch der Einzelne nicht mehr, wo er sich angesteckt hat -, gleichzeitig aber sagen, die Verantwortung, die wir als Staat zu tragen haben - das ist in der kalten Jahreszeit natürlich die Frage des Lüftens, also das Lüftungsproblem in geschlossenen Räumen -, erledigen wir damit, dass wir den Leuten sagen: Macht das Fenster auf. Das kann auch im Dezember noch funktionieren, wenn es mit dem Klimawandel so weitergeht, aber wir können

nicht garantieren, dass es keine kalte Jahreszeit mehr gibt. Deswegen sage ich ganz deutlich: Das untergräbt die Akzeptanz.

Wenn wir auf der einen Seite behaupten, schuld ist das Versagen Einzelner, die sich nicht an die Regeln halten, auf der anderen Seite aber sagen, Luftfilteranlagen, zum Beispiel für Schulen, für alle pädagogischen Bereiche und auch für öffentliche Einrichtungen bis hin zu Förderprogrammen für Private - diese gibt es in anderen Ländern -, brauchen wir nicht, um dieses Problem in den Griff zu kriegen, die Leute sollen die Fenster aufmachen, dann bedeutet das den Rückzug des Staates aus seiner Verantwortung. Das können wir nicht akzeptieren, weil das ganz gewaltig die Akzeptanz für diese restriktiven Maßnahmen untergräbt.

(Zustimmung)

Vielen Dank, Herr Gallert. Ich habe keine Frage gehört; es war offenbar eine Kurzintervention.

Ich möchte aber trotzdem etwas dazu sagen.

(Zuruf von Wulf Gallert, DIE LINKE)

- Ja, ich habe es als Frage verstanden.

(Wulf Gallert, DIE LINKE: Gut!)

Wenn ich gesagt habe, dass es das Versagen Einzelner ist, bezieht sich das auf die bisher ermittelbaren Hotspots, bei denen wir genau sagen können - das ist wirklich bei jedem Hotspot so gewesen -, wer durch die Nichtbeachtung welcher Spielregeln - ich will es etwas sanfter sagen - zur Ausbreitung beigetragen hat. Das ist uns noch bis vor wenigen Tagen gut möglich gewesen.

Selbst in einer Stadt wie Magdeburg kann man trotz der hohen Zahl und der mengenmäßigen Belastung der Nachverfolgungsbehörde, also des Gesundheitsamtes, klar sagen, in welchen Quartieren, in welchen Bereichen sich das bewegt, sodass man handlungsfähig ist. Das ist eine quantitative Sache.

Aber - darin gebe ich Ihnen recht - in den nächsten Wochen wird es diffuser werden. Das erleben wir bereits in den Landkreisen, die sozusagen den Ausnahmezustand verhängt haben, beispielsweise in Bayern. Dort besteht dann eventuell die Möglichkeit zu eruieren, inwieweit es zusätzliche Ausbreitungsmechanismen gibt, die wir mit unseren Regeln bisher nicht erfassen, zum Beispiel in schulischen Bereichen, über Wochen und Monate hinweg, etwa in der kalten Jahreszeit mit den Lüftungsstrategien, die wir haben. Ist dann die

Technik das Allheilmittel? Oder ist es doch eher das bewusste Umgehen mit den natürlichen Gegebenheiten vor Ort?

Es gibt ein Land, das ein offensives Lüftungsprogramm geschaltet hat, nämlich Hessen. Hessen ist auch am stärksten betroffen. Das hat aber nichts zu sagen; denn es geht immer darum, möglichst jeden Einzelfall zu vermeiden, egal ob der durchschnittliche Inzidenzwert eines Landes derzeit niedriger ist als der anderer Länder.

Aber das ist auch eine Frage der technischen Möglichkeiten, der Ressourcen, der Lieferbarkeit usw. Wir wissen - das müssen wir realistisch sagen -, dass ein flächendeckendes Ausrüsten mit solchen Dingen, die fachlich nicht ganz unumstritten sind, differenziert zu betrachten ist. Es gibt dazu unterschiedliche Hinweise; das Umweltbundesamt argumentiert differenziert. Die einen sagen, das Stoßlüften ist wesentlich günstiger. Aber dazu will ich mich gar nicht weiter äußern; ich bin kein Spezialist dafür.

Ich sage nur eines: So etwas für die nächsten fünf, sechs Monate flächendeckend in allen Klassenräumen hinzubekommen, ist problematisch. Wir können ja einmal berechnen, über wie viele Klassenräume wir bei 250 000 Schülern sprechen. Das wäre bei einer längerfristigen Strategie, wenn wir mehrjährig planen müssten, etwa in dem Fall, dass es keine wirksamen Impfungen gäbe, unabweisbar. Aber jetzt müssen wir parallel fahren. Wir müssen auch weiterhin Ergebnisse sammeln. Die Universität Magdeburg ist gemeinsam mit Prof. Dr. H. unterwegs, um diesbezüglich etwas zu versuchen.

Wir müssen zunächst mit ganz normalen Bordmitteln versuchen, das öffentliche Leben und vor allen Dingen das schulische Leben und das KitaLeben am Laufen zu halten. Das setzt die Einhaltung dieser Regeln voraus. Wenn diese Regeln eingehalten werden, dann haben wir vielleicht 95 %, 98 % der Miete schon drin.

Das eine schließt das andere nicht aus, aber ich sage Ihnen auch als Vertreter einer Verwaltung: Solche Programme sind wichtig und notwendig, aber selbst das Bundesland Hessen wird an Grenzen stoßen. Ich weiß, worüber alles auch in Bayern nachgedacht wurde; dort ist der politische Druck ein ganz anderer. Wir werden an vielen, vielen Stellen parallel fahren müssen.

Vielen Dank, Herr Ministerpräsident. Nachdem Sie Ihre Regierungserklärung gehalten und anderthalb Stunden lang Rede und Antwort gestanden haben, muss ich feststellen, dass Sie Ihre Redezeit um fünf Minuten überzogen haben. Die

se Redezeit muss ich nun auch den Fraktionen in der Debatte zugestehen.

(Dr. Katja Pähle, SPD: Wir sind Ihnen sehr dankbar! - Heiterkeit - Zustimmung)

Wir steigen nunmehr ein in die

Aussprache zur Regierungserklärung

Vorgesehen war eine Redezeit von 15 Minuten pro Fraktion. Sie können auch die zusätzliche Redezeit von fünf Minuten ausschöpfen, müssen dies aber nicht tun. Eine gesonderte Einbringung der Anträge ist nicht vorgesehen, wird aber bei der Redezeit der Antragstellerin berücksichtigt.

Wir beginnen mit der ersten Debattenrednerin. Für die Fraktion DIE LINKE spricht die Abg. Frau von Angern. Sie haben das Wort, bitte.

Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Meine Damen und Herren Abgeordneten! Gestern erschütterte uns ein terroristischer Anschlag in Wien. Ich will an dieser Stelle mein Mitgefühl mit den Opfern und ihren Angehörigen ausdrücken.

(Zurufe)

Die heute stattfindenden Wahlen in den USA beschäftigen uns. Wir schauen gebannt auf das Ergebnis dieser Wahl.

Wir stecken in einer Klimakrise und in einer Migrationskrise. Auf der Welt herrscht Wassermangel.

Es findet eine wahnsinnige weltweite Aufrüstung statt und um uns herum herrscht eine schreiende soziale Ungerechtigkeit. - Wir alle spüren es: Die Welt wird zunehmend unsicherer.

Es ist ernst - mit dieser Überschrift haben die Deutsche Forschungsgemeinschaft, die Fraunhofer-Gesellschaft, die Helmholtz-Gemeinschaft, die Leibniz-Gemeinschaft, die Max-Planck-Gesellschaft und auch die Leopoldina ihre gemeinsame Erklärung vom 27. Oktober 2020 überschrieben. Der Umstand, dass sich dieser geballte wissenschaftliche Sachverstand der Bundesrepublik Deutschland zu dieser gemeinsamen eineindeutigen Botschaft gezwungen sah, sagt viel über unsere Lage aus.

Ich habe mich heute Vormittag mit dem Präsidenten der Leopoldina Prof. Haug via Videokonferenz ausgetauscht. Seine Botschaft ist deutlich: Wir brauchen Motivation, Solidarität und Disziplin. Die Wissenschaft sieht er als „Team Diagnose“ und uns als Politik - damit meinte er auch ganz ausdrücklich das Parlament - als „Team Therapie“. Unsere Aufgabe ist damit klar formuliert.

Covid-19 ist eine Naturkatastrophe. Ihre Wellen schwappen durch alle Länder, sie schwappen über die ganze Welt.

Wir alle sehen, dass wir nach der relativen Entspannung im Sommer seit einigen Wochen einen dramatischen Anstieg der Fallzahlen in Europa zu verzeichnen haben. Und nun explodieren auch die Fallzahlen in Deutschland.