Protokoll der Sitzung vom 20.11.2020

- Ich würde darum bitten, dass wir uns jetzt wieder zu den Plätzen begeben und es wieder etwas ruhiger wird.

(Unruhe)

- Hallo, liebe Kolleginnen und Kollegen! - Ich versuche es noch einmal.

Ich rufe auf den

Tagesordnungspunkt 9

Aktuelle Debatte

Strategie für den Radverkehr in Sachsen-Anhalt schärfen

Antrag Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Drs. 7/6849

Die Redezeit beträgt je Fraktion zehn Minuten, die Landesregierung hat ebenfalls eine Redezeit von zehn Minuten. Es wurde folgende Redereihenfolge vereinbart: GRÜNE, AfD, SPD, DIE LINKE, CDU. Zunächst hat die Antragstellerin das Wort. Für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN spricht die Abg. Frau Lüddemann. - Sie haben das Wort.

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete! Wie ich weiß, gibt es einige unter Ihnen, die sich heutzutage große Sorgen machen, ihre Kinder in den Wald zu lassen - nicht wegen der Wildschweine, was ich, ehrlich gesagt, gut verstehen würde, sondern wegen des Wolfes. Ich sage Ihnen: Ich hätte viel mehr Angst und ich habe viel mehr Angst, Kinder auf unsere Straßen und Fußwege zu lassen.

(Beifall - Zuruf: Was?)

Im letzten Jahr hatten wir fast 3 000 Unfälle mit Beteiligung von Radfahrenden zu beklagen. In über 2 000 Fällen gab es dabei Verletzungen, 15 Menschen sind tödlich verunglückt, als sie auf dem Rad unterwegs waren.

Auch wenn sich die Zahlen der Verunglückten in den letzten Jahren wenigstens stabilisiert haben, bleibt Radfahren gefährlich. Die Sicherheit von Radfahrenden bleibt prekär.

Anfang des Monats berichtete der MDR über Radwege, die plötzlich im Nichts enden, wie zum Beispiel im Salzatal oder in Bennstedt. Aber eigentlich enden sie nicht im Nichts, sondern sie hören schlicht und ergreifend an der Kreisgrenze auf. Stellen Sie sich das einmal für Autofahrerinnen oder Autofahrer vor. Die rollern gemütlich über die Straße, plötzlich ist die Straße weg und sie hoppeln über den Feldweg, sie hoppeln über ein Feld, in der Hoffnung, dass alles gutgeht und dass es schadensfrei enden wird. Genau so ist die Situation für Tausende von Radfahrenden täglich im Land Sachsen-Anhalt; nicht zu reden von den vielen Menschen, die erst gar nicht aufs Rad steigen, weil es zu gefährlich ist.

Nun kam letzte Woche die Antwort auf eine Kleine Anfrage von mir, wie das Geld für den Radverkehr im Haushalt abfließt. Ganz ehrlich: Diese Antwort hat nur noch mehr Fragen produziert. Der aktuelle Koalitionsvertrag gibt sehr ambitionierte Ziele vor, für die Verkehrssicherheit, aber auch für den Klimaschutz. Doch bei mir hat sich insgesamt der Eindruck verfestigt, dass man im Verkehrsministerium nur das tut, was eben unmissverständlich und unvermeidbar von ihnen verlangt wird.

Wenn also beispielsweise im Koalitionsvertrag ein genauer Prozentsatz steht - hier von 8 % -, wie hoch die Mittel für den Radwegebau an Landesstraßen sein sollen, dann wird genau diese Summe eingestellt. Ob die Mittel dann auch wirklich verbaut werden, scheint niemanden zu interessieren. Dabei täte das not. An vielen Stellen ist es in diesem Land lebensgefährlich, als Radfahrender unterwegs zu sein, weil entweder gar kein Radweg vorhanden ist, dieser Radweg in einem sehr schlechten Zustand oder unbeleuchtet ist.

Besonders in diesen Coronazeiten würden viele Eltern ihre Kinder, da die Busse meistens überfüllt sind und es infektionsschutztechnisch bedenklich ist, gern mit dem Fahrrad in die Schule schicken. Aber unter diesen Umständen ist die größere Gefahr, das Kind auf das Fahrrad zu setzen.

Es lohnt sich, kreativ zu sein, auszutesten oder mindestens nachzumachen, was andere Bundesländer uns vorbauen, zum Beispiel bewegungssensitive Lampen an Radwegen, die von Schülerinnen und Schülern genutzt werden. Man könnte Parkhäuser bauen, Protected Bike Lanes schaffen, um den Bereich der Radfahrenden vom fließenden Autoverkehr zu trennen.

Um dies zu ermöglichen, gibt es den schönen Haushaltstopf „Modellprojekte“. In der Gesamtschau des Verkehrsetats ist dieser in Höhe von

300 000 € eher schmal ausgestattet, aber es hätte ein Anfang sein können.

Doch was lese ich in der Antwort auf meine Kleine Anfrage: Der Fördertopf ist zur Spardose mutiert. Er bleibt im zweiten Jahr unangetastet. Dabei brauchen wir positive Beispiele, um insbesondere auch die Kommunen zu animieren, sich zu engagieren; denn in der Kommune vor Ort fängt jede Radfahrerkarriere an.

Wenn wir es nicht schaffen, den Kindern und erster Linie natürlich auch den Eltern nicht nur eine gefühlte, sondern eine tatsächliche Sicherheit im Radverkehr zu verschaffen, werden diese jungen Menschen später als Erwachsene niemals auf das Rad steigen, und sie werden das schon gar nicht ihren Kindern zumuten. Das muss anders werden. Radfahren muss eine völlig normale, gleichgestellte Art der Fortbewegung sein.

(Beifall)

Rein rechtlich ist das so, wenn man in die Straßenverkehrsordnung schaut - dazu hat Kollege Büttner ausnahmsweise einmal völlig Recht; das ist so -, aber es ist nicht so, wenn ich in die Augen von ängstlichen Kindern und besorgten Müttern schaue. Die haben nämlich die Realität vor Augen, und diese sieht anders aus als die Theorie der Straßenverkehrsordnung. Da nützt es auch nichts, wenn wir das Geld der Landesverkehrswacht respektive der Jugendverkehrsschulen verdoppeln, was - damit ich nicht falsch verstanden werde - wirklich gut, richtig und wichtig war; dafür habe ich mich auch sehr eingesetzt, aber das ist eben nur ein Baustein.

Wir müssen in unserem Land eine Situation schaffen, dass Alltagsradverkehr adäquat zum Autoverkehr behandelt wird, und zwar auch bei der Mittelverteilung und beim Mittelabfluss. Ein guter Weg dafür könnte das Landesradwegenetz sein, das derzeit erarbeitet wird. Es wird nämlich in sinnvoller Weise über das gesamte Land hinweg geplant, unabhängig von den Zuständigkeiten und verschiedenen Baulastträgern. Das ist ein geradezu revolutionärer Ansatz angesichts der bisherigen strikten Trennung.

Ich kann Ihnen sagen: Jede Radfahrerin und jeder Radfahrer in diesem Land wird es uns danken, wenn das tatsächlich bis zum Ende durchgezogen wird. Es wäre ein echter Segen, wenn man nicht mehr am baulichen Untergrund spüren würde, wo die eine kreisfreie Stadt aufhört und der nächste Landkreis beginnt.

Meine Fraktion zeigt auf dem Twitter-Account ein Beispiel, bei dem man sich anschauen kann, wie man in diesem Land derzeit von Delle zu Delle holpert. Hier muss die Planung aus einer Hand vorangetrieben und auch für deren Umsetzung

gesorgt werden. Mir ist klar, dass bei den Kommunen oft nicht nur der politische Wille nicht vorhanden ist, sondern es fehlt auch an Planungskapazitäten oder am Geld. Abseits des kommunalen Investitionsprogramms, des sogenannten KIP, braucht es wieder zweckgebundene Gelder für den kommunalen Radwegebau.

Wir müssen als Land unsere Gesamtverantwortung auch stärker wahrnehmen. Es ist gut, dass wir die Landesradwegekoordinatorin haben. Zu Recht haben wir GRÜNE beim Koalitionsvertrag sehr dafür gestritten. Aber man kann oder, deutlicher gesagt, man darf den Bereich Radverkehr nicht zu einer One Woman Show machen. Es sind so viele Aufgaben, die wir zu bewältigen haben - das kann nicht eine Frau allein leisten.

(Beifall)

Eine strategische Planung und die Aufstockung der finanziellen Mittel waren ein erster Schritt. Es muss aber weitergehen. Dazu gehört, dass wir die Planungskapazitäten erhöhen müssen. Weder beim Landesstraßenbaubetrieb noch in den kommunalen Behörden haben wir genug Planerinnen und Planer für den Bereich Radverkehr.

Dazu passend ist es dem Land Sachsen-Anhalt nicht gelungen, eine der sieben Stiftungsprofessuren für den Bereich Radverkehr vom Bund ins Land zu holen. Das wäre eine gute und großartige Chance gewesen, Nachwuchs selbst heranzuziehen. Es braucht eine empathische Steuerung des Bereichs Radverkehr, um vorrangig mehr Verkehrssicherheit zu schaffen und den Klimaschutz voranzutreiben.

Auch an dem folgenden Beispiel wird deutlich, dass der Verkehrsminister bei dem Thema Radverkehr unambitioniert vorgeht. Es gibt die schöne Richtlinie, die sicherlich allen hier im Hohen Hause bekannt ist: Richtlinie über die Gewährung von Zuwendungen zur Förderung nachhaltiger Mobilität, Radverkehrsanlagen und Infrastruktur. Diese Richtlinie gibt es seit 2014.

Laut meiner Kleinen Anfrage war diese Richtlinie in den Jahren 2014, 2015 und 2016 mit 0 € dotiert. In den Jahren 2017 und 2018 gab es Geld, aber das ist nicht abgeflossen. Erst nach einer Überarbeitung der Richtlinie im Jahr 2019 ist das so ein bisschen in Gang gekommen. Das finde ich als Gesamtvorgang doch in höchstem Maße irritierend. Aber wir haben im letzten Plenum schon gelernt: Nach der Logik des Verkehrsministeriums ist das alles in Ordnung. Damals ging es um die Richtlinie zu barrierefreien Haltestellen. Damals sind wir belehrt worden, dass es nicht Aufgabe des Hauses sei, für die Inanspruchnahme einer Richtlinie zu sorgen.

Dazu muss ich sagen: Das sehe ich deutlich anders. Das zuständige Haus ist auch dafür verant

wortlich. Es muss mit geeigneten Maßnahmen der Öffentlichkeitsarbeit dafür sorgen, dass eine Richtlinie bekannt wird und dass das Geld abfließt.

Dass das gelingen kann, sieht man am Beispiel der Lastenräder. Dafür haben wir als grüne Fraktion uns stark eingesetzt. Wir haben es dann auch als unsere Aufgabe angesehen, das Förderprogramm bekannt zu machen. Wir alle wissen, dass das Geld nach drei Wochen ausgeschöpft war.

Ich muss also bilanzieren: Der MDR-Bericht und zahlreiche Erfahrungsberichte leidgeprüfter Radfahrender, die Abwehrkämpfe zahlreicher Eltern sind leider berechtigt. Das Radfahren ist gefährlich und zwingt viele ins Auto. Das ist schlecht für die Menschen und für das Klima und gehört dringend geändert. Deswegen müssen wir an die positiven Pflänzchen dieser Legislaturperiode anknüpfen: Radverkehrskoordinatoren, Förderprogramm „Lastenrad“, neuartige Landesradnetzplanung, Arbeitsgemeinschaft fahrradfreundlicher

Kommunen mit eigenem Budget.

Die grüne Saat muss weitergetragen und ausgebaut werden, damit Kinder, Familien, Pendlerinnen und Pendler mit Lastenrädern künftig auf gut ausgebauten Radwegen durch Sachsen-Anhalt düsen können. Das muss politisches Ziel in diesem Land werden. - Vielen Dank.

(Zustimmung - Zuruf)

Gut. Ich habe keinen Wunsch auf Fragen gesehen. Dann sind wir am Ende des Redebeitrages angelangt. - Wir können somit in die Debatte einsteigen. Für die Landesregierung spricht Herr Minister Webel. Herr Webel, Sie haben das Wort.

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordneten! Frau Lüddemann, Sie zeichnen ein Bild von dem Radverkehr in Sachsen-Anhalt, das mich verwundert. Ich glaube, diese Rede haben Sie nicht selbst geschrieben; denn Sie wissen, dass es so in unserem Land nicht ist.

(Zustimmung - Cornelia Lüddemann, GRÜ- NE: Freilich schreibe ich meine Reden selbst! Wann sind Sie denn zum letzten Mal Rad gefahren in diesem Land? - Zuruf: Gestern und heute früh! - Heiterkeit)

- Nein, vorgestern, im Keller auf einem Fahrrad.

(Heiterkeit - Zuruf)

Meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordneten! Radverkehr ist für das Land SachsenAnhalt ein wichtiger Bestandteil der verkehrlichen

Infrastruktur. Die Regierungsfraktionen haben im Jahr 2016 umfangreiche Maßnahmen zur Förderung des Radverkehrs im Koalitionsvertrag verankert. Angefangen mit der strategischen Bündelung der Thematik durch die Schaffung einer Stelle für die Radverkehrskoordination in unserem Ministerium, wurden seitdem kontinuierlich viele der vorgesehenen Maßnahmen auf den Weg gebracht. Das habe nicht ich allein getan, das haben die Mitarbeiterinnen in den Ministerien, im Landesverwaltungsamt, aber insbesondere die Verantwortlichen in den Kommunen getan.

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Steigen wir ein in eine zentrale Zielstellung des Koalitionsvertrages: die Neuaufstellung eines Radverkehrsplans. Hierzu haben wir in einem umfangreichen Beteiligungsprozess mehrere Workshops, eine Kommunalbefragung und ein abschließendes Abstimmungsverfahren mit allen Akteuren durchgeführt. Derzeit wird die Schlussfassung des Landesradverkehrsplans 2030 erarbeitet, den wir Anfang nächsten Jahres im Kabinett beschließen wollen.

Zu den sechs Handlungsfeldern Planung, Infrastruktur, Fahrradtourismus, Zusammenarbeit und Information, Verkehrssicherheit sowie Finanzierung und Förderung wurden insgesamt 104 Einzelmaßnahmen in dem Landesradverkehrsplan verankert. Er bildet damit die übergeordnete Strategie des Landes zur Förderung des Radverkehrs bis zum Jahr 2030 und bezieht alle beteiligten Ebenen und Akteure umfänglich ein.

Mit der Umsetzung einiger der Maßnahmen wurde bereits begonnen. Doch unsere wichtigsten Partner bei der Umsetzung des Landesradverkehrsplans sind die Kommunen; denn der größte Teil der Radverkehrsinfrastruktur liegt in ihrer Hand.