Protokoll der Sitzung vom 24.10.2018

Man könnte das in aller Breite diskutieren und versuchen zu analysieren. Es ist auch kein Phänomen eines einzelnen Bundeslandes. Es ist nicht einmal ein Phänomen, das nur in Deutschland existiert, sondern das ist in verschiedensten Fallgestaltungen eine globale Herausforderung. Wir müssen immer aktuelle Antworten dazu finden, wie wir damit umgehen.

Ich habe mir zumindest vorgenommen, dieses Thema auch dahingehend aufzugreifen, dass die Bekämpfung des Antisemitismus eine Gesamtaufgabe der Landesregierung ist und in deren Verantwortung liegt. Als Vertreter der Exekutive treffe ich mich in einigen Tagen mit dem Antisemitismusbeauftragten des Bundes, um mit ihm zu besprechen, welche personenbezogenen Beauftragungen und auch Instrumente wir noch gemeinsam entwickeln müssen, damit wir diesem Thema offensiv entgegentreten können.

(Zustimmung bei der CDU, bei der LINKEN, bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Wir werden das dann sicherlich auch hier im Parlament beschließen, weil es möglicherweise auch bis in den Haushalt hinein Auswirkungen haben könnte - nicht in Dimensionen, aber auch im Sinne von Zeichensetzung.

Auf der anderen Seite bin ich an dieser Stelle dankbar, dass ein Vorschlag, den ich dem Antrag hinzufügen konnte, so breite Zustimmung findet. Ich bin froh, dass sich in unserem Bundesland Sachsen-Anhalt wieder jüdisches Leben entwickelt hat, jüdische Gemeinden vorhanden sind,

sie ein eigenes kultisches, aber auch kulturelles Leben führen und sie hier eine Heimstatt finden, nachdem sie durch unsere Vorfahren fast ausgelöscht wurden.

Ich glaube, wir können in der Begleitung dieser Dinge ein klares Zeichen setzen, wo wir nicht nur unseren politischen Schwerpunkt bei diesem Thema sehen, sondern was wir auch der nachwachsenden Generation mitzugeben haben: eine Zeitzeugenschaft - auch über das eigene Erleben hinaus - im Sinne dessen, dass wir etwas tradieren müssen, was in dieser Gesellschaft und in unserem Land nie wieder passieren darf.

(Zustimmung bei allen Fraktionen)

Danke. - Ich stelle die Überziehung der Redezeit um eine Minute fest. Das bedeutet, jetzt haben alle Fraktionsvertreter die Möglichkeit, sechs Minuten zu diesem Punkt zu reden.

In Abänderung der Redereihenfolge der Fraktionen, die wir im Ältestenrat beschlossen haben, spricht bereits jetzt für die AfD-Fraktion der Abg. Herr Kirchner. Das hat denselben Grund wie der Tausch der Tagesordnungspunkte: Er muss danach zum MDR zu der Interviewreihe mit den Fraktionsvorsitzenden. Ich habe das jetzt noch einmal gesagt, weil wir eine Reihe von Gästen auf der Tribüne haben, die auf den nächsten Tagesordnungspunkt warten. Herr Kirchner, Sie haben jetzt das Wort.

Vielen Dank, Herr Präsident. - Werte Abgeordnete! Hohes Haus! Dessen, was sich in der Nacht vom 9. auf den 10. November vor 80 Jahren auf deutschem Boden ereignete, muss gedacht werden. Daran besteht überhaupt kein Zweifel.

Es muss - diesbezüglich hat DIE LINKE recht - darüber gesprochen werden. Die Debatte schützt vor dem Vergessen. Wir müssen die richtigen Schlüsse ziehen. Wir müssen verstehen, wie es zu solch schrecklichen Dingen kommen konnte. Und wir müssen alles in unserer Macht Stehende dafür tun, dass so etwas nie wieder passiert.

Zu welch schlimmen Konsequenzen Diskriminierung, Stigmatisierung und Ausgrenzung führen können, sehen wir nicht nur am Beispiel der Novemberpogrome - an diesem jedoch in furchtbarer Deutlichkeit. Am Beispiel der Pogrome von 1938 - nehmen wir die Primärquellen zur Hand - müssen wir erschrocken feststellen, zu welchem Denken und zu welchem Handeln Menschen in der Lage sind, selbst wenn sie einer zivilisierten und hoch kultivierten Gesellschaft entstammen.

So lesen wir beispielsweise in einem Fernschreiben des SS-Gruppenführers Heydrich, datiert auf den 10. November 1938 und gerichtet an alle Stapoleit- und Stapostellen - ich zitiere -:

„Es dürfen nur solche Maßnahmen getroffen werden, die keine Gefährdung deutschen Lebens oder Eigentums mit sich bringen (zum Beispiel Synagogenbrände nur, wenn keine Brandgefahr für die Umge- bung ist).“

Oder wir lesen:

„Geschäfte und Wohnungen von Juden dürfen nur zerstört, nicht geplündert werden.“

Das ist Terror - Terror gegen Menschen, teils gegen deren Leben. Ich lehne das ab, und ich bin froh, dass wir heute einen Rechtsrahmen haben, der solcherlei Terror - egal ob staatlich oder gesellschaftlich - nicht mehr zulässt.

(Zustimmung bei der AfD)

Meine Damen und Herren! In dem Schriftwechsel mit meiner Fraktion formulierte der Vorsitzende des Landesverbandes Jüdischer Gemeinden in Sachsen-Anhalt Herr Max Privorozki - ich zitiere -: Antisemitismus ist eine Krankheit der Gesellschaft, die in ihrer schlimmsten Form auch ganz schlimme Konsequenzen mit sich bringen kann, was sich historisch mehrmals gezeigt hat.

Recht hat er. Genau diese Krankheit müssen wir bekämpfen, und zwar nicht einzelne Symptome, sondern die Ursachen - und dies im Hier und Jetzt und in allen Bereichen, in denen tatsächlicher Antisemitismus auszumachen ist, egal ob links- oder rechtsradikaler oder christlicher Prägung oder in Gestalt des zunehmend islamisch geprägten Judenhasses, welcher auch durch den Zuzug Hunderttausender in den letzten Jahren weiter an Fahrt aufgenommen hat. Auch das ist ein Teil der Wahrheit.

Meiner Fraktion ist es wichtig, dass die Auseinandersetzung mit dem Antisemitismusproblem auf allen Ebenen geführt wird. Wir müssen dies parteiübergreifend und gemeinsam mit den betroffenen Juden hier im Land tun. Hierzu stehen wir bereit - ebenso wie der Landesverband Jüdischer Gemeinden, wie der bereits erwähnte Schriftwechsel zeigt. Dem Jüdischen Landesverband ist es wichtig, dass wir zu einer effektiven und nicht nur formellen Bekämpfung des Problems gelangen. Der gesamte Landtag sollte sich aufgefordert fühlen, sich der Sache anzunehmen.

Leider geht Ihr Antrag, sehr geehrte Fraktion DIE LINKE, in diesem Punkt nicht weit genug. Aus diesem Grund werden wir uns bei der Abstimmung über Ihren Antrag der Stimme enthalten. Dem Änderungsantrag der Koalition werden wir

zustimmen. Wir stehen für eine tiefgehende und breite Auseinandersetzung mit dem Thema. Das können wir hier und heute im Plenum bei einer Fünfminutendebatte nicht leisten. Auch sprechen wir in dem heutigen Rahmen einmal mehr nur über und nicht mit den Betroffenen.

Noch ganz kurz: Wir haben die jüdische Gemeinde bezüglich eines Meinungsaustausches über den Antisemitismus in Sachsen-Anhalt angeschrieben. Sehr geehrte Damen und Herren! Ich zitiere aus dem Schreiben: In den vergangenen Wochen war medial von einer anhaltend hohen Anzahl antisemitischer Übergriffe die Rede. Die Fraktion der AfD im Landtag von Sachsen-Anhalt möchte mit Ihnen über diese neue Welle von Antisemitismus bzw. Antijudaismus ins Gespräch kommen. Ihre Erfahrungen mit diesem traurigen Phänomen sind der Schlüssel zu einer fundierten Analyse des Problems. Dies schrieben wir bereits am 7. März 2018.

Die Antwort des Landesverbandes Jüdischer Gemeinden lautete - ich zitiere -: Dieses Problem muss aus unserer Sicht tiefgründiger und facettenreicher betrachtet werden. Ich habe mich daher entschieden, Ihren Vorschlag mit dem gesamten Vorstand in der nächsten ordentlichen Sitzung zu erörtern, um diesen Austausch inhaltlich besser vorzubereiten.

Ein weiteres Schreiben des Landesverbandes Jüdischer Gemeinden sagt aus - ich zitiere -: Wir sind der Auffassung, dass hier eine parteiübergreifende Auseinandersetzung mit diesem Problem erfolgen muss. Es bringt nichts oder zu wenig, wenn die jüdische Gemeinschaft dieses Thema mit nur einer der im Landtag vertretenen Parteien erörtert. Wir würden es daher bevorzugen, die Problematik „Antisemitismus in Sachsen-Anhalt“ auf Ebene des gesamten Landtages zu thematisieren und nach Wegen zur effektiven und nicht nur formellen Bekämpfung zu suchen, statt dies nur mit einer einzigen Landtagsfraktion zu tun.

Darum fordere ich Sie alle auf: Lassen Sie uns das gemeinsam tun! Laden wir die Verbände ein und sprechen mit Ihnen darüber, wie wir Antisemitismus in diesem Land verhindern können. - Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Zustimmung bei der AfD)

Ich sehe keine Fragen. Deswegen fahren wir jetzt in der Debatte fort. Für die SPD-Fraktion spricht die Abg. Frau Dr. Pähle.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In Gardelegen im Altmarkkreis Salzwedel entsteht der

zeit in der Gedenkstätte Feldscheune Isenschnibbe ein neues Besucher-und Dokumentationszentrum, das den künftigen Besucherinnen und Besuchern vermitteln wird, welches grauenhafte Verbrechen dort am 13. April 1945 verübt wurde, bei dem über 1 000 Menschen erschossen wurden oder kläglich verbrannten oder erstickten.

Das neue Dokumentationszentrum wird exemplarisch verdeutlichen, mit welcher kriminellen Energie noch in der Endphase des Nationalsozialismus - ja noch bis in die letzten Tage und Stunden des NS-Regimes - Menschen durch Todesmärsche, Massaker und grausame Hinrichtungen vernichtet wurden.

Meine Fraktion hat sich unlängst vor Ort ein Bild vom Baufortschritt in Gardelegen gemacht. Viele von Ihnen haben das ebenfalls getan. Ich bin sehr froh, dass der Erinnerungskultur in unserem Land mit diesem Dokumentationszentrum ein wichtiger weiterer Baustein hinzugefügt wird.

(Zustimmung von Jürgen Barth, SPD, und von Rüdiger Erben, SPD)

Ich erwähne das an dieser Stelle, weil es ein verbindendes Element gibt zwischen dem Beginn des offenen, gewaltsamen Terrors gegen die jüdische Bevölkerung in Deutschland im November 1938 und den nationalsozialistischen Endphaseverbrechen im Frühjahr 1945, zwischen den brennenden Synagogen in der sogenannten Reichspogromnacht und der brennenden Feldscheune Isenschnibbe. Das verbindende Element ist, dass wir in beiden Fällen von Verbrechen reden, die vor aller Augen geschahen. Jeder konnte in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 sehen, in welche Gewalt die Diskriminierung der Jüdinnen und Juden mündete, die zu diesem Zeitpunkt schon mehr als fünf Jahre lang systematisch ausgeweitet und verschärft worden war.

Jeder musste es sehen: die brennenden Synagogen, die zerstörten und geplünderten Geschäfte von jüdischen Inhaberinnen und Inhabern, jede folgende Zwangsarisierung im gesamten Reich. Das spielte sich ebenso vor den Augen der übrigen Bevölkerung ab wie später die Deportation in die Vernichtungslager.

Menschen sahen zu, wie verdiente Berufskollegen aus ihren Ämtern entfernt wurden, wie Nachbarn ihres Eigentums beraubt und mit einem Judenstern stigmatisiert wurden, wie Menschen zum Bahnhof getrieben und in Viehwaggons abtransportiert wurden, aber auch wie Andersdenkende verschwanden, wie behinderte Angehörige auf rätselhafte Weise zu Tode kamen und wie zum Schluss KZ-Insassen auf Todesmärschen durch die Städte und Dörfer getrieben wurden; auch nach Gardelegen, wo Anwohner sogar zu Mittätern wurden.

Ich sage das nicht, weil ich ein moralisches Urteil über die Menschen fällen will, die damals meist tatenlos zusahen, sondern ich sage es deswegen, weil das, was wir heute sehen, nicht in Verbrechen von morgen enden darf. Dafür tragen wir die Verantwortung.

(Beifall bei der SPD, bei der LINKEN und bei den GRÜNEN - Zustimmung bei der CDU)

Meine Damen und Herren! Antisemitismus begegnet uns in verschiedenen Formen: als offen sichtbare Judenfeindlichkeit wie bei den Anschlägen auf Restaurants in Berlin und Chemnitz oder als verstecktes Motiv in Verschwörungstheorien aller Art. Die Strukturen des Antisemitismus kehren auch als Muster in anderen Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit wieder, ob diese sich nun gegen Muslime, gegen Sinti und Roma oder gegen andere richtet.

Ein Beispiel. An der rechtsextremen Mär vom angeblichen Austausch der einheimischen Bevölkerung durch Migrantinnen und Migranten lässt sich gut ablesen, wie eine Verschwörungstheorie mal mit, mal ohne antisemitisches Gewand daherkommen kann. Wenn es in Ungarn heißt, Soros holt die Flüchtlinge ins Land, dann heißt es bei uns, Merkel hat die Grenzen geöffnet.

(André Poggenburg, AfD: Ja, Fakten- beschreibung! Faktenbeschreibung! - Zuruf von Robert Farle, AfD)

Das Lügenmärchen ist in beiden Fällen dasselbe, nur dass in dem einem Fall das antisemitische Narrativ schon sichtbar ist und in dem anderen Fall noch nicht.

Fest steht, dass wir uns gegen alle Formen von Antisemitismus wehren müssen. Einen harmlosen Antisemitismus gibt es nicht. Es gibt keinen besseren Weg, ihm entgegenzutreten, als einerseits die Erinnerung an die Schoah wachzuhalten und andererseits aktives, zeitgenössisches jüdisches Glaubens- und Kulturleben in unserer Mitte wachzuhalten. Um beides machen sich Menschen verdient.

Ich möchte an dieser Stelle - ich bin mir sicher, dass ich für die übergroße Mehrheit hier im Haus spreche - stellvertretend für alle anderen dem Förderverein „Neue Synagoge Magdeburg e. V.“ danken, der sich seit Jahren unermüdlich für den Bau eines neuen Gotteshauses stark macht und seinem Ziel inzwischen schon sehr nahe gekommen ist. Ganz herzlichen Dank für Ihr Engagement!

(Beifall bei der SPD, bei der CDU, bei der LINKEN und bei den GRÜNEN)

Meine Damen und Herren! In Gardelegen erlegte der Kommandeur der US-Infanteriedivision, die

die Stadt befreite, der Bevölkerung die Pflicht auf, die Leichen der Ermordeten zu bergen, sie auf einem Ehrenfriedhof zu bestatten sowie die Gräber und das Andenken der Toten dauerhaft zu ehren und zu pflegen. Viele Bürgerinnen und Bürger erfüllen diese moralische Pflicht bis heute. Viele andere im Land tun es ihnen gleich, indem sie aktive Erinnerungsarbeit leisten. Ihr Engagement zu würdigen und zu stärken ist das wichtigste Ziel unseres Änderungsantrages. - Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD, bei der LINKEN und bei den GRÜNEN - Zustimmung bei der CDU)

Auch hierzu gibt es wieder eine Wortmeldung von Herrn Poggenburg.