Protokoll der Sitzung vom 24.10.2019

Wir müssen uns aber die Frage stellen: Warum fallen diese Versuche von Erdoğan gerade in der türkischen Gemeinschaft in Deutschland auf so fruchtbaren Boden?

Dazu gibt es eindeutige Analysen. Jemand, der sich hier als Mensch zweiter Klasse empfindet, ist empfänglich dafür, wenn ihm jemand verspricht, etwas ganz Besonderes zu sein. Alle Analysen, die es zu der Situation sozusagen im Bereich der türkischen Community in Deutschland gibt, besagen das ganz klar, übrigens auch die Wahlanalysen, die vor allen Dingen ein sehr gutes Wahlergebnis für Erdoğan untersucht haben. Überall ist die klare Antwort: Wir sind hier Menschen zweiter Klasse, und weil wir uns so behandelt sehen, wollen wir eine politische Alternative.

DITIB fällt auf diesen fruchtbaren Boden. Dazu sage ich immer noch, übrigens auch für uns in Sachsen-Anhalt: Die Leute reagieren so, wie mit ihnen umgegangen wird.

Ich will es einmal klar sagen: Es gibt inzwischen in Sachsen-Anhalt einen wirklich organisierten,

strukturierten Dachverband der islamischen Gemeinden. Der Vorsitzende sagt ganz klar: Wir halten uns von DITIB, wir halten uns von solchen Organisationen fern. Wir wollen unseren eigenen Dachverband in Sachsen-Anhalt gründen, um nicht politisch missbraucht zu werden.

Deshalb ist es so extrem wichtig, dass wir ihnen das Signal aussenden, dass sie unsere Partner sind. Wir dürfen sie nicht in die Arme von DITIB und ähnlichen Strukturen treiben. Deswegen ist der gleichberechtigte Dialog mit den islamischen Gemeinden in Sachsen-Anhalt so wichtig. - Danke.

(Beifall bei der LINKEN)

Vielen Dank, Herr Gallert. - Jetzt hat Herr Raue die Möglichkeit, seine Frage zu stellen. Bitte.

Herr Gallert, Ihre Träumereien von dieser gemeinsamen europäischen solidarischen Flüchtlingspolitik: Ist Ihnen denn nicht klar, dass das in Europa nicht mehrheitsfähig ist? Es ist nicht einmal mehr mehrheitsfähig bei unseren dänischen Nachbarn. Selbst die haben ihre Grenzen zu Deutschland geschlossen. Es bleiben Ihre eigenen Träume.

Die Frage ist, Herr Gallert: Ist Ihnen denn auch bewusst, dass das, was Sie fordern, den Erdoğan-Deal platzen zu lassen - das schwebt ja in Ihren Gedanken -, dazu führt, dass weitere drei Millionen muslimische Flüchtlinge den Weg nach Deutschland suchen würden?

Deutschland hat in der gesamten EU die höchsten Sozialleistungen für Flüchtlinge und bietet die größten Anreize. Ich frage Sie: Wie wollen Sie das denn finanzieren? - Das würde implizieren, dass ungefähr 60 bis 80 Milliarden € jedes Jahr noch einmal zusätzlich durch Bund, Länder und Kommunen aufgewandt werden müssten, um diese Menschen hier dauerhaft zu versorgen.

Wir müssen genau den entgegengesetzten Schritt gehen. Es stellt sich deshalb für mich tatsächlich die Frage - ich spreche diesbezüglich nicht für meine Fraktion, sondern für mich -, ob es denn nicht sinnvoller ist, in Syrien für Syrer ein internationales Schutzgebiet zu schaffen und dort Städte, Flüchtlingslager aufzubauen, damit die Menschen heimatnah, in ihrem Sprach- und Kulturraum untergebracht werden. Das ist die Frage, die wir beantworten müssen.

Aber wie wollen Sie es finanzieren, wenn die alle hierher kommen? Das würde geschehen.

Herr Abg. Gallert, bitte.

Herr Raue, erster Punkt: Natürlich ist Ihr Traum: dichte Grenzen, keiner kommt rüber. - Ich sage Ihnen aus meiner eigenen historischen Erfahrung - die dürften Sie übrigens auch haben -: Das Prinzip bewährt sich auf Dauer nicht.

Punkt 2. Ich habe hier erläutert, wie die Situation unter der Bedingung des Flüchtlingsdeals wird, dass nämlich durch diesen Flüchtlingsdeal Erdoğan in der Lage ist, Politik zu betreiben, die die potenzielle Zahl von Flüchtlingen permanent erhöht.

(Zustimmung bei der LINKEN)

Wir reden nicht nur von Syrien. Wir reden vom Irak. Wir reden von Jordanien. Wir reden vom Libanon usw. usf. Die gesamte Region wird destabilisiert und dann reden wir über eine zweistellige Millionenzahl.

Punkt 3. Natürlich ist die Debatte über Schutzzonen in Syrien schon relativ lange geführt worden. Aber das, was jetzt unter den Bedingungen des Erdoğan-Deals, des EU-Türkei-Deals passiert, das sind doch nicht wirklich Schutzzonen. Es ist eine türkisch-islamistische Herrschaft, die dort aufgebaut wird, die damit beginnt, Hunderttausende von Menschen erst einmal zu vertreiben.

Dann müssen wir übrigens ein bisschen über internationale Politik nachdenken, darüber, was in einer solchen Region die Vertreibung von Hunderttausenden Türken, von Hunderttausenden Kurden, um dort dann wieder andere Syrer anzusiedeln, für die umliegenden Bereiche bedeutet. Die bleiben nämlich nicht einfach an der Grenze stehen. Die gehen in den Irak. Die gehen in den Südosten der Türkei, wenn sie die Chance haben. Dort gibt es dann eine weitere Destabilisierung.

Praktisch wie ein Kreis im Wasser werden die Konflikte ausgelagert. Sie werden immer größer. Wenn wir da zugucken und wenn wir Erdoğan gewähren lassen und ihm nicht eindeutig Einhalt gebieten, wird das Problem immer größer, und die Grenze können Sie nicht so hoch bauen, wie Sie sie haben wollen.

Nein, wir könnten diese Geschichte mit Schutzzonen - - Deswegen sagen wir: Der Sicherheitsrat muss mit einem UN-Mandat Schutzzonen einrichten. Aber worüber jetzt diskutiert wird, ist, Schutzzonen einzurichten, in denen Erdoğan die Herrschaft hat und in der die Kurden, die jetzt dort leben, vertrieben werden. Das ist doch keine Lösung.

Deswegen sage ich einmal: Wer wirklich Realist ist, weiß, dass dieser Deal uns in den Abgrund treibt. - Danke.

(Beifall bei der LINKEN)

Vielen Dank, Herr Gallert. Ich sehe keine weiteren Fragen. - Bevor wir in die Debatte mit fünf Minuten Redezeit je Fraktion einsteigen, hat für die Landesregierung Herr Minister Stahlknecht das Wort. Bitte, Herr Minister.

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In einer Sitzung des Nordatlantikrates haben vor allem Deutschland, Frankreich, Albanien, Island, Belgien und Luxemburg deutlich gemacht, dass Ankara von ihnen keine Unterstützung in Nordsyrien erwarten könne. Die Türkei könne auch im Fall eines Gegenangriffs aus Syrien auf türkischem Gebiet nicht mit Beistand nach Artikel 5 des Nordatlantikvertrages rechnen.

Ein Austritt von Deutschland aus der NATO wäre auch ein Bruch mit den anderen Partnerländern dieses Bündnisses und damit nicht tragbar.

Die Landesregierung verurteilt den Angriff der türkischen Armee in Nordsyrien. Kein Land hat das Recht, die Souveränität eines anderen Staates zu missachten, um eigene Interessen durchzusetzen.

Einen Verrat von humanistischen Grundwerten im Rahmen der deutschen Flüchtlingspolitik vermögen wir nicht zu erkennen. Gemessen an den Fakten nimmt Deutschland mehr Flüchtlinge auf als alle anderen Länder der EU.

Weltpolitisch betrachtet ist der türkische Angriff eine große Herausforderung für die europäischen Länder, damit auch eine Herausforderung dahin gehend, darauf angemessen zu reagieren.

Der geopolitische Diskurs mit den Verbündeten der Kurden, das Einschreiten von russischen Truppen in Syrien und das Militärbündnis der Kurden mit Assads Regierungstruppen ordnen die Mächte im arabischen Raum neu und lassen den IS in dieser Region wieder erstarken.

Auch der Machtanspruch der Türkei führt zu einer dramatischen Verschiebung der Kräfte, worauf Europa zugewandte Länder wie beispielsweise Saudi-Arabien unter Zugzwang gebracht werden.

Um die Sicherheit der Bevölkerung in den arabischen Staaten weiterhin zu gewährleisten sowie die wirtschaftliche Lage zu verbessern, muss sich Europa als geeinte Kraft der Türkei entgegenstellen und ihr Einhalt gebieten. Ein Bündnispartner der NATO muss seine und die globalen Grenzen anderer Länder akzeptieren. - Vielen Dank.

Danke, Herr Minister. Es gibt eine Frage, und zwar hat sich der Abg. Herr Striegel zu Wort gemeldet.

Herr Minister, vielen herzlichen Dank sozusagen für Ihre Einschätzung zur grundsätzlichen Lage. - Ich habe eine konkrete Frage Sachsen-Anhalt betreffend.

Wir haben ja mindestens eine Staatsbürgerin aus Sachsen-Anhalt in der betroffenen Region, die derzeit in einem Gefangenenlager interniert ist. Meine Frage ist in dem Zusammenhang eine rein sicherheitspolitische.

Halten Sie es für notwendig, sich um eine Rückkehr dieser Staatsbürgerin zu bemühen? Erstens um Strafverfolgung abzusichern und zweitens aber vor allem auch mit Blick darauf, dass es nicht zu einer unkontrollierten Entweichung von solchen Personen kommt, wodurch dann eine Rückkehr von den Sicherheitsbehörden sozusagen nicht rechtzeitig bemerkt werden würde.

Deshalb frage ich: Welche Maßnahmen unternimmt die Landesregierung, um zu einer geordneten Rückkehr dieser deutschen Staatsbürgerinnen und Staatsbürger zu kommen, auch mit Blick auf die Sicherheitslage in Sachsen-Anhalt und in der Bundesrepublik Deutschland?

Herr Minister Stahlknecht.

Diese Überlegungen oder Verhandlungen oder was dem zugrunde liegt, laufen über das Auswärtige Amt in Berlin. Dazu können wir keine Auskunft geben.

Die Frage - das gilt ja nicht nur in diesem Fall; denn es gibt ja Menschen aus der gesamten Bundesrepublik, die, aus welchen Gründen auch immer, dorthin gegangen sind und jetzt in diesen Lagern sind - ist schwierig zu beantworten, wenn ich ehrlich bin.

Auf der einen Seite sagt man, es ist kontrolliert machbar - was Sie vorgetragen haben -, auf der anderen Seite stellt sich immer die Frage, ob sie von ihrer Ideologie abgelassen haben und dann hier eben nicht wieder eine Gefährdung anderer Art darstellen. In diesem Spannungsfeld bewegen sich die Überlegungen.

Vielen Dank. Ich sehe keine weiteren Fragen. - Somit steigen wir in die angekündigte Debatte mit fünf Minuten Redezeit je Fraktion ein. Der erste Debattenredner wird für die SPD-Fraktion der Abg. Herr Hövelmann sein. Sie haben das Wort, Herr Abg. Hövelmann.

Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was sich derzeit in Syrien vor den Augen der Welt abspielt, ist eine humanitäre Katastrophe.

Berichte von Hilfsorganisationen, die zu einem großen Teil inzwischen selbst die Region verlassen mussten, lassen nur im Ansatz erahnen, welche Dramen sich vor Ort abspielen und ereignen.

Wir wissen von zahlreichen Todesopfern, von Hunderttausenden, die auf der Flucht sind, und das innerhalb eines ohnehin in weiten Teilen ausgezehrten und zerstörten Landes.

Ich will ergänzen: Es ist nicht nur eine humanitäre Katastrophe, es ist auch eine internationale politische Katastrophe. Deren Auswirkungen auf die Neuordnung der Kräfteverhältnisse und die Sicherheitsarchitektur in der Region können wir überhaupt noch nicht abschätzen.

Dass ausgerechnet die Kurden, die massiv dazu beigetragen haben, den Islamischen Staat zurückzudrängen, nun selbst zum erneuten Opfer werden, ist an Tragik kaum zu überbieten.

Nach dem Abzug der US-Truppen sorgt der türkische Staatspräsident mit seinem Einmarsch für ein Wiedererstarken des IS. Er stürzt eine ganze Region ins Chaos und macht sie zur Geisel seiner nationalen, ja, man kann sagen, nationalistischen Pläne.

Das, meine Damen und Herren, ist für die internationale Staatengemeinschaft nicht hinnehmbar. Natürlich hat er damit auch das Sicherheitsbündnis NATO und die ganze Weltgemeinschaft bloßgestellt.

Es gehört auch zur Wahrheit, dass die seit nunmehr zwei Jahren nicht immer auf rationaler Bewertung basierte US-amerikanische Außenpolitik ganz wesentlich Verantwortung für diese Entwicklung trägt.