Protokoll der Sitzung vom 16.11.2000

Offenkundig muss die Herrschaftsform, die auf solche Weise erfolgreich überwunden werden konnte, von anderer Qualität gewesen sein als die Nazidiktatur.

Eins gebe ich Ihnen zu bedenken, Herr Dr. Vogel, weil ich weiß, dass Sie eigentlich gerade für Äußerungen je

ner Menschen auch sehr empfänglich und sehr nachdenklich sind: Gerade Holocaustopfer aus beiden Teilen Deutschlands, mit denen sich die PDS vor der Kundgebung am 9. November in Berlin traf, haben auf die fatalen Wirkungen der Gleichsetzung von Faschismus und DDR verwiesen. Also, wenn Sie uns schon nicht glauben, dann glauben Sie wenigstens denen, die es durchlebt haben und die aus eigenem Erleben wissen, worin der Unterschied zwischen diesen beiden Formen von Gesellschaft bestanden hat.

(Beifall bei der PDS)

Napoleon wird nachgesagt, er solle eine Definition gegeben haben, was die historische Wahrheit sei, nämlich die Summe von Lügen, auf die sich die Gesellschaft nach 30 Jahren geeinigt habe; mit dieser Tradition sollten wir hier endlich brechen.

(Zwischenruf Abg. Althaus, CDU: Und jetzt sollen wir uns Napoleon anschließen.)

(Zwischenruf Abg. Dr. Zeh, CDU: Wie viele Tote waren es denn an der Mauer?)

(Beifall bei der PDS)

Demokratie ist etwas, was einem Menschen nicht verordnet werden kann. Demokratie ist etwas, was einem Menschen schon deshalb nicht verordnet werden kann, weil sie erstritten werden muss und man sich ständig auch wieder neu darum bemühen muss. Wir brauchen ein anderes politisches Klima in diesem Land, eine andere Moral, ein anderes Selbstbewusstsein, einen anderen intellektuellen Anspruch. Thüringen droht im gleichen Provinzialismus und Kleingeist zu ersticken, an dem schon die DDR zugrunde ging, wenn wieder eine Machtpartei mit Alleinvertretungsanspruch statt Pluralität den Alltag bestimmt. Wir müssen nicht nur die Fenster öffnen und gut durchlüften, sondern selber auch Mann und Frau genug sein, mit lieb gewordenen Gewohnheiten zu brechen. Wir müssen alle begreifen, dass wir mit unseren Worten und Taten Folgen produzieren, die über die Legislatur hinausreichen. Die Enttäuschung, die wir bei Eltern auslösen, pflanzt sich bei den Kindern fort. Die mentalen Wirkungen, die wir erzielen, sind weder kalkulierbar noch messbar. Wenn wir vereinfachen, historische und gegenwärtige Fakten verdrehen oder unter den Tisch fallen lassen, wird die Differenz zwischen dem vermittelten Bild und der Realität, die die Menschen hier in diesem Lande real erleben, immer größer und damit die Glaubwürdigkeit von Politik immer geringer. Der Verlust an Glaubwürdigkeit in die Politiker geht einher mit dem Verlust in Vertrauen in die Demokratie und das ist das besonders Schlimme.

(Beifall bei der PDS)

Es zeigt sich auch nicht zuletzt beim Umgang mit dem Volksbegehren "Für mehr Demokratie". Der Volksmund sagt, sie verstecken diese Listen wie dreckige Wäsche. Meine Damen und Herren von der CDU, was um alles in der Welt hindert politische Verantwortungsträger daran, die Rathäuser für diese Unterschriftensammlung zu öffnen? Warum wird sogar Druck auf Beamte und Beschäftigte des öffentlichen Dienstes ausgeübt, sich nicht am Volksbegehren zu beteiligen? Der Spruch: "Wir haben genügend Demokratie" stimmt eben nicht und wir alle werden die Quittung dafür erhalten, wenn es nicht gelingt, Menschen unmittelbar in demokratische Entscheidungsprozesse einzubeziehen.

(Beifall bei der PDS)

Herr Ministerpräsident, wenn in Thüringen heute junge Menschen nach rechts abdriften, dann hat das in erster Linie mit der Thüringer Gegenwart zu tun.

(Zwischenruf Abg. Dr. Zeh, CDU: Das wird von uns anders gesehen.)

Wenn Menschen das Land verlassen, weil sie in Thüringen für sich keine Perspektive sehen, dann hängt das mit hiesigen Verhältnissen zusammen. Und wenn immer weniger Menschen in Thüringen zur Wahl gehen, ist daran die Politik Schuld und nicht das Wetter. Was tun Sie gegen die massenhafte Abwanderung vor allem junger Menschen und qualifizierter Leistungsträger aus Thüringen, die für sich oder eben auch für ihre Familien hier keine Perspektive sehen? Die Welle der Abwanderung ist ein Aderlass, dem man in Thüringen nicht tatenlos zusehen kann. Es ist nicht nur Leistungskraft, sondern Steuerkraft, die hier verloren geht, und es ist in erster Linie auch geistige Verarmung, die folgt. Es gibt nicht ausreichend Angebote für junge Menschen. Die Förderung von Jugendkultur, kultureller Vielfalt und individueller Kreativität wird Schritt für Schritt eingeschränkt. Dieses Land braucht aber kulturvolle junge Menschen, die eine Antenne für das haben, was um sie herum vor sich geht. Kultur macht immun gegen Rechtsextremismus, Antisemitismus und Rassismus.

(Beifall bei der PDS)

Es werden breite kulturelle Angebote gebraucht, die spätestens dann einsetzen, wenn die Schulstunden zu Ende sind. Das ist eine Herausforderung für uns alle. Nur die extrem Rechten, die Skinheads, verfügen doch gegenwärtig noch über politische Lieder. Auch das sollte uns mal nachdenken lassen. Obwohl ständig die Bedeutung der Bildung für die Zukunft hervorgehoben wird, vollzieht sich auch in diesem Bereich eine gegenteilige Entwicklung. Bis heute gibt es Verunsicherungen unter Lehrerinnen und Lehrern, ständig neue Rechenexempel, wie man mit mehr Schülern in einer Klasse weniger teure Lehrerstunden braucht. Reichen alle Einsparpotenziale dieser Art nicht, wird die Stundentafel gekürzt. Und der viel beschwore

ne integrative Unterricht von Haupt- und Realschülern findet mangels finanzieller Mittel immer weniger statt. Wenn also die Unzufriedenheit im Land wächst, muss etwas faul im Staate sein.

(Beifall bei der PDS)

Ich sage auch, nach Ursachen für neofaschistische und rechtsextremistische Verhaltensweisen zu fragen, fordert eine umfassende Debatte auch zu Werten und zur Zukunft dieser Gesellschaft heraus. Statt zu beklagen, dass die traditionellen Familienmodelle ihre Bindungswirkung verlieren, muss es darum gehen, darüber hinaus neue, alternative, solidarische Familienmodelle zu entwickeln und zu stärken. Dem steht aber beispielweise auch Ihre vehemente Ablehnung, Herr Dr. Vogel, zur Homoehe sehr entgegen. Es geht auch hier in Thüringen um Solidarität statt Wettbewerb. Es geht um Anerkennung statt Ausgrenzung. Und jetzt zitiere ich das Goethewort: "Toleranz sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein, sie muss zur Anerkennung führen. Duldung heißt beleidigen." Genau das ist der Punkt. Im Moment erkenne ich in allererster Linie, dass Sie bereit sind zu dulden, dass Sie aber nicht bereit sind anzuerkennen und diesen Schritt über Toleranz hinauszugehen, dass es nämlich um Akteptanz geht. Das ist der eigentliche Sinn von solidarischem Zusammenleben in einer Gesellschaft.

(Beifall bei der PDS)

Wenn wir akzeptieren, dass die Prämisse gilt, die Würde des Menschen ist unantastbar, stellt sich die Frage nach dem solidarischen Zusammenleben in dieser Gesellschaft. Anders gesagt: Chancen müssen für jede und für jeden eröffnet werden. Vom Prinzip der Chancengleichheit und Gerechtigkeit weicht offizielle Regierungspolitik gern zurück. Dabei wird meistens der wirtschaftliche Sachzwang als Ursache genannt. Doch gerade in diesem Kontex finden rechtsradikale Losungen wie "Leben ist Kampf" oder "Deutschland den Deutschen" ihre Anhängerschaft. Chancenlos bleibt der Schwächere, ihn macht man zum Schuldigen für die eigene Misere. Dies alles in der Komplexität zu analysieren, wäre unseres Erachtens notwendig und auch Teil der heutigen Regierungserklärung gewesen. Dass damit keinesfalls der Anspruch auf Vollständigkeit verwirklicht werden kann, ist völlig verständlich, auch das hätten wir überhaupt nicht erwartet. Was aber als Regierungserklärung vorgelegt wurde, bleibt unter diesem Aspekt hinter den Erwartungen zurück.

Herr Ministerpräsident, Sie haben nicht einmal die Größe besessen, die Umfrageergebnisse, auf die Sie sich vorhin sehr ausführlich bezogen haben, aus den Panzerschränken der Staatskanzlei heraus den Fraktionen im Vorfeld zur Kenntnis zu geben. Das Wissen über gesellschaftliche Zustände verschließen Sie wie mittelalterliche Mönche hinter verschlossenen Türen, um im Besitz dieses Herrschaftswissens zu sein und auch zu bleiben.

(Unruhe bei der CDU)

(Beifall bei der PDS)

Und ich finde das schon sehr bedenklich

(Zwischenruf Abg. Althaus, CDU:.... Mann und Frau....)

und denke auch, dass das auch Ausdruck der geistigen Lage hier im Land Thüringen ist. Demokratie braucht eine Debatte und nicht nur Kanzelreden.

(Beifall bei der PDS)

Aus politischer Verantwortung können Sie sich nicht mit Phrasen und Wortgeprassel stehlen. Zu dieser Verantwortung müssen Sie stehen. Ich fordere Sie deshalb auch namens meiner Fraktion auf und heraus, zivilgesellschaftliches Engagement in Thüringen nicht nur gnädig zuzulassen und es gegebenenfalls auch zu begrenzen, ich fordere Sie auf, solches Verhalten überall zu befördern und zu unterstützen. Es wäre eine Chance für das geistige Klima im Land und es ist eine Chance für Thüringen.

Ihre Überlegung, dass Bildung und Arbeit ein wirksamer Beitrag gegen Rechtsextremismus sei, ist nicht falsch. Wir unterstützen als PDS jeden Schritt in diese Richtung. Aber ich warne vor der Illusion, hier handle es sich um ein Patentrezept. Nach meinem Eindruck sind mehr junge Neonazis in Ausbildung oder Arbeit als auf der Straße. Vernünftige Arbeit schützt doch nicht vor unvernünftigen Gedanken. Und einer, der im Internet surft, wird dadurch nicht automatisch zum Demokraten, dass er einen Computer beherrscht.

Thüringen ist aber derzeit kein Land für junge Leute. Das zeigen auch die Umfragen. Wir müssen, damit sie bleiben und auch nicht nach rechts abrutschen, mehr bieten als Ausbildung und Arbeit, so wichtig das auch ist. Wir brauchen, noch einmal gesagt, ein anderes Klima in diesem Land. Wir müssen raus aus den eingefahrenen Gleisen parteipolitischer Rangeleien, wir brauchen Weitsicht und Souveränität in der Politik, wir brauchen eine andere politische Kultur in Thüringen. Danke schön.

(Beifall bei der PDS)

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Gentzel, SPD-Fraktion.

Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Damen und Herren, die Debatte, die wir heute in diesem Hause führen, ist eine richtige und eine wichtige. Sie reiht sich ein in eine Vielzahl von Kundgebungen und Erklärungen der

letzten Tage, die deutschlandweit stattfanden und abgegeben wurden. Sie, Herr Vogel, haben sich zum einen mit der Situation im Freistaat beschäftigt, ich füge hinzu, auf Grundlage einer Umfrage, die auch wir vor 30 Minuten zur Kenntnis bekommen haben, zum anderen haben Sie die eigene Politik, ich möchte sagen, fast überschwänglich gelobt. Es bleibt die Frage, wenn Sie wirklich so erfolgreich wären, hätten Sie dann heute einen solchen Bericht geben müssen? Ich werde den Rechtsextremismus klar in den Mittelpunkt meiner Rede stellen. Rechtsradikale Extremisten versuchen Kirchenhäuser anzuzünden und ziehen pöpelnd, bombend und schlagend durchs Land. Anderes zu behaupten oder anderes zu konstruieren, ist falsch.

(Beifall bei der SPD)

Ich möchte schwerpunktmäßig fragen: Tun wir in diesem Haus, tut der Thüringer Landtag und die Landesregierung wirklich alles Machbare, um den braunen Chaoten und Ideologen Einhalt zu gebieten? Tun wir das Richtige, um rechtes Gedankengut zurückzudrängen und ihm keine Entwicklungschance zu geben, und nehmen wir die Vorbildfunktion im so oft formulierten Kampf gegen Rechtsradikalismus und Ausländerfeindlichkeit hier im Thüringer Landtag auch wahr? Ich behaupte, dieses Haus, diese Regierung muss Schrittmacher, muss Vorbild, also auch Symbol im gemeinsamen Handeln gegen Rechtsradikalismus sein. Um vorab eines klar zu formulieren: Wir reden über ein gesamtgesellschaftliches Problem. Alle im Land tragen Verantwortung, nicht die Politik allein. Und die Politik ist auch nicht für alles verantwortlich, was hier im Lande passiert. Aber wir stellen hier im Haus wichtige Weichen im präventiven Bereich, insbesondere in der Jugend-, Familien- und Bildungspolitik, im Repressionsbereich, in der Innen- und Justizpolitik. Wir müssen aber nicht nur handeln, sondern auch eine wirkliche Entscheidungs- und Diskussionskultur in diesem Haus entwickeln,

(Beifall bei der SPD)

eine, die Entscheidungen zu dieser Problematik klar nachvollziehbar macht, eine, die überzeugend vermittelt, dass Inhalte und eben nicht Ideologien oder Parteidisziplin und auch nicht Mehrheitsdenken unser Handeln prägt, eine, die wenigstens ab und zu auch eine kritische Betrachtung der eigenen Leistung einschließt.

Meine Damen und Herren, eine klare Aussage der SPD zum immer wieder öffentlich geforderten parteiübergreifenden Konsens in der Frage gegen Rechtsradikalismus muss sein - und für diesen Konsens streiten wir Sozialdemokraten, nämlich dafür -, dass den Rechtsextremisten in Thüringen keine Chance gegeben wird, an keinem Ort und zu keinem Zeitpunkt.

(Beifall bei der SPD)

Über den Weg dahin muss und wird insbesondere nach dieser Regierungserklärung gestritten werden. Der Anspruch einer Partei, immer Recht zu haben, ist Gott sei Dank seit 1990 gelöscht und das ist gut so. Also es wird auch zukünftig Streit geben, insbesondere wenn die ansonsten in dieser Frage nicht nur manchmal schläfrige Thüringer CDU sich fälschlicherweise als Schrittmacher darstellen will, unsensibel und dumm, wie sie manchmal so ist. Dem 9. November dieses Jahres den Stempel aufdrücken zu wollen, nur die CDU steht in Thüringen an der Seite der jüdischen Gemeinde in der Auseinandersetzung mit den faschistischen Hohlköpfen ist eben unsensibel, dumm und falsch.

(Beifall bei der SPD)

Dass sich die Präsidentin dieses Landtags auf diese ausschließliche Parteistrategie einlässt, ist alles andere als ein Ruhmesblatt für dieses Haus.

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zu einer Art Leistungsbilanz dieses Hauses kommen. Ich möchte mit dem Positiven beginnen. Es gibt einiges, was wir auch so immer wieder benennen sollten. Da ist unbedingt zunächst der Aufbau der Jugendhilfe und des Bildungssystems im Freistaat Thüringen zu nennen. Auch wenn es einige vergessen haben, wir haben da bei null begonnen und ohne auch kritische Details anzusprechen, wir waren hier nicht selten schneller und in vielen Bereichen auch besser als die anderen neuen Bundesländer. Positiv sind beispielsweise ebenfalls die im Bereich der Jugendarbeit geschaffenen Feststellen. Ich spreche hier von ca. 900. Und weil es einige immer wieder vergessen, dies ist eigentlich eine kommunale Aufgabe, sich trotzdem als Land dazu zu bekennen und dies auch abzusichern, das steht klar auf der Habenseite der Landespolitik. Dort steht auch, dass wir immer besser in der Lage sind, den Zeitraum zwischen Straftat und Urteil zu verkürzen. Der viel formulierten Forderung, die Strafe muss dem Verbrechen auf dem Fuße folgen, wird immer mehr Rechnung getragen. Zu nennen ist auf jeden Fall die gemeinsame Erklärung dieses Hauses gegen den Rechtsradikalismus.

(Beifall bei der PDS, SPD)

Als Letztes möchte ich ausdrücklich begrüßen, dass sich diese Landesregierung dem Antrag zum NPD-Verbot angeschlossen hat, trotz bestehender Bedenken, die man im Übrigen nachvollziehen kann. Die Landesregierung hat an dieser Stelle richtig erkannt, dass es eben nicht die Zeit der Bedenkenträger ist, sondern die Zeit derjenigen, die handeln wollen.

Ich möchte einen weiteren wichtigen Aspekt des angestrebten NPD-Verbots nennen. Die Verteidigung des Rechtsstaats, die Verteidigung der Demokratie ist richtigerweise immer als ein hohes Gut formuliert worden. Erstmals aber verteidigen wir nicht nur die Demokratie,

sondern wir greifen diejenigen an, die diese Demokratie nicht wollen, die sie unterwandern im Wesentlichen durch Gewalt gegen anders Denkende, gegen Ausländer und gegen Schwache. Dass sich der Staat nicht nur verteidigt, sondern auch angreift, ist für mich eine wesentliche Qualität des angestrebten NPD-Verbots.

(Beifall bei der SPD)