Protokoll der Sitzung vom 23.05.2002

Nach der Veröffentlichung der PISA-Studie hieß es, die Schulen müssten leistungsorientierter werden. Jetzt nach dem Geschehnis in Erfurt warnen manche, man dürfe nicht länger von Wettbewerb und Leistung an unseren Schulen sprechen. Johannes Rau hat die richtige Antwort gefunden ich zitiere ihn: "Ohne Leistung, ohne Leistungsbereitschaft wäre jede Schule wirklichkeitsfremd." Vor Wettbewerb und Konkurrenz dürfen wir unsere Kinder nicht schützen, sie müssen vielmehr lernen, damit umzugehen. Ein Verzicht auf Förderung von Talenten, von individuellen Anlagen und Fähigkeiten bedeutet nicht nur, dass wir diese Gaben der Schüler nicht ernst nehmen, es bedeutet auch, dass wir diesen Schülern nicht gerecht werden, weil wir sie unterfordern, vernachlässigen, langweilen und schließlich entmutigen. Bildung heißt, Benachteiligung vermeiden, heißt aber auch, Begabung, ja auch Höchstbegabung rechtzeitig zu erkennen und zu fördern. Fördern und fordern, aber nicht überfordern. Wir werden nichts daran ändern können, dass es begabte und weniger begabte Menschen gibt. Jeder muss seine Chance bekommen. Eltern müssen einsehen, dass ihr Kind die Schule besuchen soll, die seinen Fähigkeiten gerecht wird und nicht ihren Wunschvorstellungen und dass sie zur richtigen Entscheidung den Rat und die Hilfe des Lehrers brauchen. Eltern tun Kindern nichts Gutes, wenn sie sie auf eine Schule schicken, auf der sie permanent überfordert werden.

Roman Herzog hat die Befürchtung geäußert, dass Enttäuschungen zu der Tat in Erfurt mit beigetragen haben könnten, "die", so schreibt Herzog wörtlich, "daraus entstehen, dass die Eltern aus blindem Ehrgeiz für sich und ihr Kind dieses auf eine Schule schicken, für die es nicht

geeignet ist". Und er fügt hinzu: "... denn nach meiner Erfahrung entspringt daraus das größte Unglück für die Kinder".

Lehrerinnen und Lehrer tragen gemeinsam mit den Eltern eine besondere Verantwortung für die Schüler. Es darf nicht darum gehen, den Kindern einen fest vorgezeichneten Lebensweg vorzuschreiben, sondern es muss darum gehen, ihnen Möglichkeiten zur Entwicklung eigener, individueller Lebenswege zu geben, sie dabei zu beraten und zu fördern. Es geht darum, ihnen das Bewusstsein zu vermitteln, dass sich das Selbstwertgefühl eines Menschen nicht auf Noten und schulische Leistungen reduzieren lässt, sondern dass es aus dem erwächst, was Schüler an Fähigkeiten und Neigungen entwickeln in der Schule und auch außerhalb der Schule.

Selbstverständlich, meine Damen und Herren, ist es notwendig, auch über konkrete Änderungen von Gesetzen und Verordnungen zu sprechen. Dabei wird natürlich der Streit nicht ausbleiben, wenn es etwa um Prioritätensetzungen im Haushalt geht. Der Streit kann gar nicht ausbleiben, denn zu unterschiedlich sind unsere Vorstellungen. Aber wir tun das, was wir da jetzt tun müssen, um eine bittere Erfahrung reicher. Deswegen hoffe ich, dass wir es in einer anderen Geisteshaltung tun und in einem anderen Ton.

Die Landesregierung ist für alle Themenfelder, die sich aus der Tat von Erfurt ergeben, selbstverständlich diskussionsbereit; die Diskussion hat ja längst begonnen. Die Landesregierung wird - nicht heute, aber zu gegebener Zeit natürlich ausgearbeitete Vorschläge vorlegen.

Weil in ein paar Tagen der Bundesrat die Gesetzesnovelle zum Waffengesetz zu beraten hat, hat die Landesregierung die Anrufung des Vermittlungsausschusses beschlossen. Es ist doch schlicht selbstverständlich, dass wir uns nach dem, was vorgefallen ist, den Text dieses Gesetzes noch einmal sehr genau ansehen müssen. Eine Arbeitsgruppe von Bund und Ländern, an der wir natürlich beteiligt sind, hat mit den Vorarbeiten begonnen. Ich meine, wir müssten z.B. über die Heraufsetzung der Altersgrenze für den Waffenbesitz sprechen. Wir können der vorgesehenen Herabsetzung der Altersgrenze von 12 auf 10 Jahre für das Schießen mit Luftdruckwaffen natürlich nicht zustimmen und nicht nur der Käufer, sondern auch der gewerbliche Verkäufer, soll den Eigentumswechsel einer Waffe in Zukunft anzeigen müssen. Nur ein paar Punkte, auf die ich hinweisen will. Dass wir nach der Bluttat die Schützenvereine und die rund 2 Millionen rechtstreuer Sportschützen nicht unter Generalverdacht stellen, ist selbstverständlich.

Die Debatte über eine Novelle des Jugendschutzgesetzes hat mit der Vorlage des Gesetzentwurfs der Bundesregierung bereits begonnen. Weil es uns darum geht, dass der Verleih von Gewalt verherrlichenden Videos und Computerspielen nicht nur an Minderjährige, wie in dem Jugendschutzgesetz vorgesehen, sondern eben auch an

Erwachsene verboten wird, muss auch über eine Änderung des Strafrechts gesprochen werden. Die Entscheidung der Bundesprüfstelle über das Computerspiel "Counter-Strike" kann ich, will ich Ihnen ganz offen sagen, nicht nachvollziehen.

(Beifall Abg. Gentzel, SPD)

Wir wollen die Kontrollmechanismen gegen die Darstellung von extremer Gewalt im Rundfunk, auf Videos und im Internet verbessern. Die Rundfunkkommission der Ministerpräsidenten hat die Bildung eines Präventionsrats "Gewalt in den Medien" angeregt. Dieser soll Vorschläge für eine dauerhafte Einschränkung von Gewaltdarstellungen in den Medien machen. Wir unterstützen diesen Vorschlag und möchten dabei auch den Eltern in diesem Gremium eine Stimme geben. Filme und Spiele, deren zentrale Botschaft Gewalt ist, müssen von den Bildschirmen verschwinden.

Wir werden bei uns in Thüringen eine breit angelegte Debatte über unser Schulgesetz führen. Wir haben, wie Sie wissen, bereits vor Monaten eine Novelle vorgelegt. Mit der Einbringung der Novelle in den Landtag wollen wir, wie angekündigt, warten, bis im Juni die regionalisierten Ergebnisse der PISA-Studie vorliegen und natürlich muss berücksichtigt werden, was nach dem Verbrechen am Gutenberg-Gymnasium überall im Lande an Diskussionen begonnen hat. Das versteht sich ganz von selbst.

An den Grundlagen unseres differenzierten und gegliederten Schulsystems, das den Menschen mit seiner individuellen Begabung, seinen Neigungen und Fähigkeiten in den Mittelpunkt stellt, wollen wir allerdings festhalten. Der Grundsatz des geltenden Schulgesetzes, kein Realschulabschluss und kein Abitur ohne zentrale Prüfung, ist wohl überlegt, weil wir die Regelschule neben dem Gymnasium als eine starke Alternative erhalten wollen und sie nicht zur Restschule werden lassen wollen. Aber über die Art und Weise der Prüfungen und wie und wo sie in Zukunft abgelegt werden, muss gesprochen werden. Wir wollen erreichen, dass auch die Eltern von volljährigen Schülern über die Schullaufbahn ihrer Kinder unterrichtet werden. Das erfordert offenbar, dass zunächst bundesrechtlich die entsprechenden Voraussetzungen geschaffen werden, damit wir unser Landesrecht entsprechend ändern können. Natürlich müssen wir auch überlegen, wie wir die Sicherheit an den Schulen erhöhen können. Aber 40.000 Schulen in Deutschland kann man nicht zu Festungen ausbauen und auch wenn man das könnte, wir wollen das nicht. Schulen müssen offene Orte der Begegnung bleiben. Eine eingemauerte Gesellschaft wollen wir nicht.

Meine Damen und Herren, "Wir müssen einander achten, wir müssen aber auch aufeinander achten.", hat Johannes Rau auf dem Domplatz gesagt. Lassen Sie uns bitte alles tun, damit uns das gelingt, und zwar nicht nur hier, sondern in der ganzen Bundesrepublik, zunächst aber hier bei uns. Natürlich bleiben die Aufgaben und Funk

tionen, bleiben Exekutive und Legislative, Mehrheit und Minderheit, Regierung und Opposition, natürlich bleiben unterschiedliche Ansichten und Absichten, aber geht das nicht auch in Respekt, vielleicht sogar in Hochachtung voreinander? Der verabscheuungswürdige Anschlag auf die Erfurter Synagoge im April 2000, der Terroranschlag von New York und Washington am 11. September 2001, die Bluttat am Erfurter Gymnasium haben uns in diesem Haus hier einig gesehen in der Aussage, Thüringen sagt Nein zu Gewalt und Terror und einig gesehen in der Aussage, wir ziehen Konsequenzen. Ich glaube, dass eine gemeinsame Erschließung aller Fraktionen des Thüringer Landtags am heutigen Tag für diese Gemeinsamkeit ein neuer Beweis ist. Sie haben das Zitat eines unbekannten Mitbürgers inmitten der Blumen vor dem Rathaus vielleicht noch in Erinnerung: "Lasst uns unser Entsetzen in Kraft, unser Leiden in Erkennen und unseren Schmerz in Liebe verwandeln." Es ist ein sehr hoher Anspruch, der dort vorgegeben wurde, aber ich meine, es sei ein Anspruch, den einzulösen sich lohne. Ich meine, wir sollten versuchen, diesem Anspruch hier und in ganz Deutschland gerecht zu werden. Danke.

(Beifall im Hause)

Ich danke Herrn Ministerpräsidenten Dr. Vogel für seine Regierungserklärung. Wir kommen zur Aussprache. Als Erster hat das Wort der Vorsitzende der PDS-Fraktion, Herr Ramelow. Herr Ramelow, ich bitte Sie mit dem Beginn der Rede vielleicht einen kleinen Moment zu warten, damit wir den Entschließungsantrag, über den wir dann abstimmen, noch austeilen und Sie in Ihrer Rede dadurch nicht gestört werden.

Ich sehe, es geht doch ruhig vonstatten. Herr Ramelow, dann können Sie mit Ihrer Rede beginnen.

Sehr geehrte Frau Präsidentin, werte Angehörige, werte Frau und werter Herr Ruge, meine sehr verehrten Damen und Herren Abgeordneten, die Ereignisse in Erfurt am 26. April erzwangen den Abbruch der Plenarsitzung des Thüringer Landtags. Wie viele Menschen, ob Polizisten, Mediziner, Psychologen, Beamte und Angestellte im öffentlichen Dienst, haben sich auch die Abgeordneten des Landtags eingesetzt, um zu helfen und um Solidarität zu üben. Der Thüringer Landtag ist nicht mehr der alte. Er durchlebte mit den Opfern, ihren Angehörigen und vielen Betroffenen schlimme Tage. Er erlebte gegenseitige Unterstützung und Gemeinsinn über die Parteigrenzen hinweg. Das sollte nicht hastig vergessen werden. Es wurden Möglichkeiten sichtbar und eine wertvolle Erfahrung gemacht, bei der die Wahrnehmung unserer Verantwortung als Volksvertreter hilfreich sein kann und es sein sollte. Der Schutz der Menschenwürde und das Wohl der menschlichen Gemeinschaft haben Vorrang vor dem parteipoli

tischen Gerangel. Wir alle wurden durch das Geschehen überrascht und es fällt uns heute noch schwer, das ganze Ausmaß des Schrecklichen zu erfassen. Wir trauern um die Toten, ihren Angehörigen gehören unser Mitgefühl und Beistand. Unser Trost und unsere Unterstützung für die Schülerinnen und Schüler des Gutenberg-Gymnasiums hören nicht auf. Es fand aber nicht nur ein entsetzliches Verbrechen statt, fast zeitgleich unterbrachen die Menschen in Erfurt, im Land Thüringen und weit darüber hinaus ihren Alltag, um sich zu besinnen, um zu helfen, aber auch um zu fragen, warum konnte das geschehen und was kann getan werden, damit sich so etwas nicht erneut wiederholt? Auch wir danken allen Helfern, die spontan und ohne Aufforderung sofort tätig wurden. Wir danken den Lehrern des Gutenberg-Gymnasiums, die sich schützend für ihre Schüler einsetzten, wobei einige ihr Leben lassen mussten. Wir danken den Schülern für ihre gegenseitige Hilfe und Unterstützung. Sie haben vorher kaum gekannte Gefahren durchlebt und ihre Verantwortung für das Leben gewann an Ernsthaftigkeit und Reife. Unser Dank gilt allen Menschen, die als Nachbarn oder als Mitbürger Anteil nahmen, Pflichten übernahmen und erfüllten. Besonderer Dank gilt denen, die als Sicherheitskräfte, Psychologen, Seelsorger und Verantwortliche in der Verwaltung unermüdlich das Erforderliche leisteten. Während bis zu der entsetzlichen Untat der Einzelne meist allein den Problemen des Lebens gegenüberstand und allein versuchte, die Probleme zu meistern, erwuchs in Reaktion auf die Ereignisse ein Zusammengehörigkeitsgefühl, welches ein gemeinsames Handeln zu tragen vermochte. Dieses Erlebnis ist in einer Welt, in der der Mensch dem anderen in der Regel fremd und isoliert gegenübersteht, eine ernste Mahnung, über das Zusammenleben der Menschen nachzudenken und eine Aufforderung, dieses Zusammenleben mitzugestalten.

Meine Damen und Herren Abgeordneten, liebe Kollegen, wir haben zeitlichen Abstand gewonnen in den Wochen nach dem Geschehen bis heute. Aber das bedeutet nicht, wir hätten bereits die schreckliche Wirklichkeit voll erkannt. Sicherlich kennen wir inzwischen viele Einzelheiten, Hergänge, auch einige Zusammenhänge, Missstände und Änderungsnotwendigkeiten. Aber selbst die Fassungslosigkeit ist nicht ganz überwunden und vieles, sehr vieles bleibt noch zu klären. Von uns werden noch große Anstrengungen verlangt, um die Ursachen der Ereignisse zu ergründen, um die Umstände und Bedingungen zu begreifen. Das Thema "Gewalt" bleibt auf der Tagesordnung. Welche Wurzeln hat die Gewalt in der Gesellschaft? Welche Anstöße lösen die Gewalt aus? Warum findet Gewalt Ausdruck in solch extremen grausamen Handlungen? Wie kann Gewalt gebannt werden? Wer trägt neben dem Täter Verantwortung? Was heißt hier Verantwortung? Wie kann und muss diese Verantwortung wahrgenommen werden? In welcher Gesellschaft leben wir eigentlich, die solche Untaten gebärt? Wie ist das mit den Zielen im Leben? Geht es da - wie oft zu beobachten - vordringlich um Geld, Wohlstand, Spaß und damit um Leistungen, um Ellenbogenmentalität, um Egoismus, um Rücksichtslo

sigkeit? Welche Bedeutung hat heute der Mensch für den anderen Menschen, die Bildung und die Erziehung des Menschen, die Familie, die Gemeinschaft in der Schule oder bei der Arbeit? Allgemeiner gefragt: Welche Wertvorstellungen bilden das Fundament unseres Lebens und damit auch der Politik? Wir haben Grund, tiefer als üblich die Gesellschaft und ihre Grundsätze zu erkunden, obwohl politisches Handeln zwingend erforderlich ist, sollte kein Aktionismus Lösungen vortäuschen. Schnelle Verschärfungen von Gesetzen lösen keine gesellschaftlichen Probleme.

Herr Ministerpräsident, Sie haben in Ihrer Regierungserklärung eine persönliche Anmerkung gemacht, auf die ich persönlich eingehen möchte, und zwar nicht als Fraktionsvorsitzender, nicht als Parteipolitiker, sondern als Vater. Sie haben das Thema "Counter-Strike" angesprochen und es macht mich ratlos. Meine Söhne spielen Counter-Strike und wir haben immer die Diskussion zu Hause, weil, wenn ich auf den Bildschirm schaue, sage ich, ich kann das nicht leiden. Meine Söhne erklären mir, das verstehst du nicht. Dieses ist kein Gewaltspiel. Ihr habt als Kinder Räuber und Gendarm gespielt. Wir spielen in der Gruppe elektronisch Räuber und Gendarm. Ich bin an einer Stelle, wo ich mit meinen Söhnen darüber diskutiere und diskutieren muss und nicht einfach nur sagen kann, das will ich dir verbieten, weil sie am Wochenende ihre Computer einpacken und ich stolz darauf bin, dass mein Sohn eine IT-Fachausbildung macht und im Moment gerade in der Prüfung ist. Er wird IT-Fachmann, er wird das, was wir vor Wochen noch so gelobt haben, die elektronische Gesellschaft der E-Commerce, alles das, was am neuen Markt die Börsenkurse so haben hoch spielen lassen. Er bewegt sich in dieser elektronischen Welt und er sieht mich an und sagt: "Vater, das verstehst du nicht." Ich glaube, da gibt es etwas zum Nachdenken. Als die erste Dampfeisenbahn von Nürnberg nach Fürth gefahren ist, gab es auch viele, die diskutiert haben, so eine Dampfeisenbahn muss man verbieten. Als es dann die Welt verändert hat, würde man heute darüber lachen. Die Elektronik verändert auch die Welt. Die Wissensgesellschaft verändert auch die Welt. Wir müssen, glaube ich, genauer und mehr miteinander reden und Medienkompetenz zur Verfügung stellen, dass wir diejenigen, nämlich Lehrer, Eltern, in die Lage versetzen, damit umzugehen. Ich gestehe an dieser Stelle, ich will und kann meinem Sohn das Spiel nicht verbieten, weil er mir klar gemacht hat, das Blutige in dem System haben sie abgestellt, weil es sie stört. Aber am Wochenende spielen sie drei Tage mit 150 Jugendlichen ein Gruppenspiel. Und er sagt mir, das entspricht dem, als ihr früher mit dem Streifen an der Seite als Pfadfinder rumgelaufen seid, die eine Gruppe musste der anderen Gruppe den Streifen abnehmen. Ihr habt dann auch gesagt, der, der keinen Streifen mehr hat, der ist tot. Und nichts anderes ist das Spiel Counter-Strike. Ich weiß es nicht. Ich bin kein Wissenschaftler, ich bin kein Fachmann, ich will als Elternteil nur meine Not hier schildern und sagen, ich glaube, wir müssen uns mehr Wissen darüber verschaffen, um zu wissen, ob es denn verbietbar ist, ob es

überhaupt sinnvoll ist, es zu verbieten. Mein Sohn hat mir gesagt, er kann die Diskussion nicht mehr hören. Er nimmt uns als Politiker nicht ernst, wenn man so über das redet, über die Welt, in der er sich bewegt. Deswegen habe ich mir erlaubt, als persönliche Anmerkung das hier zu sagen, weil ich nicht glaube, die Weisheit mit Löffeln gefressen zu haben, aber weil ich auch weiß, das Spiel auf dem Bildschirm bei meinem Sohn gefällt mir nicht. Trotzdem liebe ich meinen Sohn und mein Sohn liebt mich.

Meine Damen und Herren, deswegen sage ich, schnelle Verschärfung von Gesetzen löst keine gesellschaftlichen Probleme, schon gar nicht, wenn sich die Welt so rasant ändert wie sie sich zurzeit ändert.

Erörterungen politischer und moralischer Grundsätze stehen an. Wahlkämpfe erlauben keine Tiefe der Gesellschaftsanalyse und keine prinzipiellen Reformen. Meine Damen und Herren Abgeordneten, wir können hier im Landtag nur den Anstoß zu einer Wertediskussion geben. Diese selbst muss breit zwischen den Menschen in Thüringen und darüber hinaus geführt werden. Die Themen sind weit gefächert. Die Formen mannigfaltig und die Ansichten sicherlich verschieden. Unverzichtbar wird sein, tolerant miteinander zu kommunizieren. Wir werden dem anderen zuhören müssen, den anderen verstehen lernen, uns Zeit zum Nachdenken lassen, die Bereitschaft aufbringen, die eigene Meinung in Frage zu stellen, Verbindendes und Übereinstimmendes zu suchen, einen Kompromiss nicht als Niederlage empfinden. Ich glaube zu wissen, dass die Wertvorstellungen in unserer Gesellschaft unterschiedlich sind. Auch die weltanschauliche Grundlage der Wertvorstellungen ist verschieden. Es gibt aus dem christlichen Menschenbild abgeleitete Wertvorstellungen, aber es gibt auch aus dem demokratischen Sozialismus verbundene Wertvorstellungen. Da gibt es Unterschiede. Die Vielfalt der Weltanschauung und die Wertvorstellung ist konkret gesehen so groß wie die Zahl der Menschen. Wir müssen den Wertepluralismus sehen und akzeptieren. Wer nur die Existenzberechtigung der eigenen Wertvorstellung verficht, landet bei einem Fundamentalismus. In dieser Welt ist es weder möglich allen Menschen christliche Wertvorstellungen, die übrigens in sich auch verschieden ausfallen und nur in einigen Punkten übereinstimmen, aufzuzwingen, noch sozialistische aufzuzwingen, noch beliebig andere aufzuzwingen. Mit Zwang geht gar nichts. Gemeinsames Handeln ist aber häufig erforderlich. Handlungszwänge aus der Diskussion gibt es. Deshalb muss man sich auch über gemeinsame Werte verständigen. Diese gemeinsamen Wertevorstellungen könnte man als die humanistischen Werte bezeichnen. Da bleibt genügend Raum für weltanschauliche, religiöse oder individuelle Unterschiede. Auch sollte bei der Gestaltung, Diskussion und Einbringung von Wertevorstellungen die jeweiligen örtlichen, lokalen, regionalen oder landesspezifischen Gegebenheiten berücksichtigt werden. Wenig hilfreich und meist durch Konflikte gekennzeichnet sind jene Situationen, wenn aufgrund von gesellschaftlichen Stellungen eine Ethik als die zwingend richtige

dargestellt wird und das in einer Umgebung, welche vorrangig mit Menschen geprägt ist, die diese nicht vertreten.

Meine Damen und Herren, wenn man sich das Verhalten der Menschen nach dem 26. April anschaut, kann man zugleich neben einer starken Werteorientierung eine große Verschiedenheit des Wertebewusstseins feststellen. Keine Sicht der Werte kann aus den Erfurter Ereignissen für sich allein Ansehensgewinne verbuchen. Vielleicht kann man und ich sage das mit Vorsicht - behaupten, sichtbar wurde nicht nur das eine, nicht an humanistischen wertorientiertes Handeln ein schreckliches Verbrechen nachweist, sondern auch, dass Wertebewusstsein häufig im Widerspruch zur Realität steht. In unserer Gesellschaft existieren Räume, die ohne ethische Werte funktionieren und funktionieren können, zum Beispiel die Wirtschaft. Es liegt an uns, ob es Marktwirtschaft pur oder soziale Marktwirtschaft gibt. Diese Differenz kann sich nicht nur in Thüringen, sondern auch weltweit auftun, das Stichwort lautet Globalisierung.

Der Bundespräsident hat in der Trauerveranstaltung auf dem Domplatz in Erfurt diese Fragen nicht ausgeklammert, wie Sie sich erinnern werden. Wie sich reines ökonomisches Denken in allen gesellschaftlichen Bereichen ausprägt, kann man beobachten. Die Kategorie Gemeinwohl verliert an Bedeutung. Wettbewerb, Effizienz sind die an Einfluss gewinnenden Orientierungen. Nicht der Mensch, der Standort ist scheinbar der höchste Wert vieler Ökonomen und Politiker. Dem wollen und müssen wir entgegentreten. Bei dem hier dargestellten Befund ist es nicht verwunderlich, dass immer stärker Gesellschaftskritik aufkommt und über das richtige Zusammenleben in unserer Gesellschaft nachgedacht werden wird und werden muss. Der Bundespräsident fordert am oben schon genannten Ort, ich zitiere: "Wir brauchen zweierlei: Wir müssen einander achten und wir müssen aufeinander achten." Das ist sehr schön und sehr richtig zugleich. Aber wir leben in einer Gesellschaft, in der die Lebenschancen der Menschen miteinander konkurrieren. Wir nähern uns wieder frühkapitalistischen Strukturen und Verhaltensweisen, von denen schon Thomas Hobbes feststellte: "Der Mensch ist des Menschen Wolf." In diesem Zusammenhang war es für mich erfreulich, gestern in der FAZ lesen zu können, die CDU-Vorsitzende sagt, Gesellschaft und Politik seien nicht ohnmächtig gegen die ökonomischen Zwänge der Globalisierung. Ein richtiger Satz. Nun muss den Worten praktische Politik folgen. Die PDS will mit ihrem Politikangebot auf eine menschenfreundlichere Gesellschaft zusteuern. Das ist unser Angebot, das muss man nicht akzeptieren, das muss man nicht annehmen, darüber müssen wir sozusagen parteipolitisch streiten. Aber meine Ausgangsposition als Vertreter der PDS heißt, Angebote zu unterbreiten, Programme vorzulegen, die Gewährleistung von Chancengleichheit sichern, insbesondere hinsichtlich von Bildung und Erziehung für junge Menschen und in Ablehnung von Studiengebühren und Bildungsprivilegien. Soziale Gerechtigkeit ist ein Grundwert in unserem Programm, der Defizite der heutigen Gesellschaft ausdrückt

und Orientierung für eine Reform der Gesellschaft aufzeigen soll. Johannes Rau hat in seiner Erfurter Trauerrede zutreffend gesagt, niemand darf abgedrängt werden, darf an einen Punkt kommen, dass er glaubt, sein Leben sei nichts wert, weil er in einem bestimmten Bereich nur wenig leisten kann. Wir müssen aber aufeinander achten. Sehr gut. Reformieren wir die Gesellschaft im Sinne humanistischer Werte.

Meine Damen und Herren, die vom Ministerpräsidenten geforderte grundsätzliche und umfassende Debatte wird, wie meine bisherigen Darlegungen gezeigt haben, von uns nachdrücklich unterstützt, wobei sich in der Debatte Meinungsunterschiede und andere oder weiter gehende Lösungsansätze zeigen werden. Wir begrüßen ein Forum "Bildung" oder einen runden Tisch "Bildung" oder ein "Bündnis für Bildung". Beim Namen und hinsichtlich der Form sind wir offen. Hauptsache ist, in der gewählten Form kann, ja muss die Kommunikation zwischen Politik und Öffentlichkeit stattfinden. Unter Öffentlichkeit verstehen wir vor allem Lehrer, Schüler, Eltern, aber auch Repräsentanten der Wirtschaft, des Handwerks sowie der Hochschulen und natürlich der Kirchen. Für diesen öffentlichen Dialog zur Bildung in Thüringen sollte, ja darf es keine Tabus geben. Wie die PISA-Studie zeigte und ihre auf die Bundesländer bezogene Ergänzung erwarten lässt, gibt es nicht wenige Schieflagen im Bildungswesen der Bundesrepublik, aber auch in Thüringen. Das ganze Thüringer Schulgesetz gehört auf den Prüfstand, ohne sicherlich alles ändern zu müssen. Bewährtes ist eben Bewährtes und sollte es bleiben. Ob zum Bewährten auch das differenzierte und gegliederte Schulsystem gehört, wird sich zeigen. Die vorliegende PISA-Studie erweckt Zweifel. Sie erwachsen besonders aus der Kritik an der sozialen Selektion des deutschen Bildungssystems. Wir vermuten, dass das existierende Schulsystem und die Gewährleistung gleicher Bildungschancen nicht besonders gut zueinander passen. Sollte sich das bestätigen, müsste man unseres Erachtens Reformschritte erwägen.

Denken wir, meine Damen und Herren, an die Erfurter Schülerdemonstration, dann bezog sich deren Schrei nach Veränderung vor allem auf die Abschlüsse. Der Zustand, dass 13,3 Prozent der Schüler ohne Hauptschulabschluss die Schule verlassen in Thüringen, kann nicht weiter hingenommen werden und wir bitten in diesem Zusammenhang auch tabulos über vorhandene und neue Möglichkeiten von Abschlüssen von Schülerinnen und Schülern nachzudenken und nicht womöglich heute schon wieder als einzige Chance eine Prüfung in der 10. Klasse zu präferieren. Was wir ändern, müssen wir gründlich prüfen. Ziel muss es sein, mehr Schüler mit einem Schulabschluss von den Thüringer Schulen verabschieden zu können.

Bei dieser Frage zeigt sich auch, dass der Vorschlag meiner Fraktion vom 4. Dezember des vorherigen Jahres - Drucksache 3/2041 -, eine Enquetekommission zu den Schulleistungen einzusetzen, sehr sinnvoll war, da mittels dieser Methode Expertenanalysen und Expertenvorschläge

für die Gesetzgebung genutzt werden können. Inzwischen unterstützt ja nach einem Meinungswandel sogar die SPD diese Enquetekommission. Während der runde Tisch die Politik mit der Öffentlichkeit verbindet, schafft die Enquetekommission die Verbindung zwischen Politik und Wissenschaft. Beides ergänzt sich und beides ist unverzichtbar. Wie mit dem Erfurter Ereignis klar wurde, haben Schüler Probleme mit Leistungsdruck fertig zu werden. Richtig ist, Leistung muss verlangt werden. Wir werden deshalb zu erörtern haben, wann und wie werden Schüler auf Leistung orientiert. Sicherlich muss da schon etwas in der Vorbereitung auf die Schule geschehen - natürlich angemessen. Es ist sicherlich auch der Frage nachzugehen: Wurde bisher der Leistungsforderung entsprechend genügend gefördert? Wird der Leistungsdruck nur übermächtig, weil es an Förderung fehlt? Die PISA-Studie zeigt, die Differenz zwischen schlechten und guten Schulleistungen ist zu groß, wobei die guten im internationalen Vergleich nicht gut sind. Die Politik wird sich in Verbindung mit Öffentlichkeit und Experten damit befassen müssen, wie mehr Zeit der Lehrer für die Schüler zu erreichen ist. Was Schulsozialarbeit an günstigen Bedingungen für Lernen und Erziehung beitragen kann, wäre auch ein Thema.

Meine Damen und Herren, zum Waffenrecht und seiner Änderung will ich ebenfalls kurz Stellung nehmen. Wir unterstützen, Herr Ministerpräsident, Ihre Initiative zum Waffengesetz im Bundesrat, den Vermittlungsausschuss anzurufen. Auch wir halten z.B. eine Heraufsetzung der Altersgrenze für Waffenbesitz für nötig. Aber insgesamt muss es nach unserer Auffassung um eine generelle Verschärfung des Waffenrechts in unserer Gesellschaft gehen. Es geht weniger darum, ob man 10 oder 12 Luftdruckwaffen benutzen darf, denn das sportliche Schießen ist in keiner Altersgruppe das eigentliche Problem. Es geht eigentlich darum, Besitz von Waffen, Gebrauch von Waffen und auch das Sammeln von Waffen zu erschweren und zu kontrollieren. Es muss nicht hinzunehmen sein, dass der Besitz oder das Führen eines Kraftfahrzeuges schwieriger ist als der Umgang mit Waffen. So schlagen wir die Schaffung eines bundesweiten Waffenzentralregisters vor und ein dichtes Kontrollnetz für Waffen, das jeden Besitz, Erwerb oder Verkauf einer Waffe verzeichnet. Wer eine Waffe besitzen oder benutzen will, sollte eine Eignungsprüfung ablegen müssen und einen Berechtigungsschein dafür erwerben, der regelmäßig erneuert werden muss. Weil es uns nicht um die Diskriminierung von Sportschützenvereinen und sportlichem Schießen geht, sollte die Verschärfung des Waffenrechts auch darauf zielen, z.B. Kampfschießen oder auch das Schießen auf Personenscheiben oder ähnliche unsportliche Anwendungen von Waffen per Gesetz zu verbieten, genauso aber auch Waffentypen, die nicht dem sportlichen Gebrauch dienen. Nicht zuletzt sollte der illegale Besitz von Waffen schärfer bestraft werden als bisher. Über Freiheitsstrafen ohne Bewährung muss hier nachgedacht werden. Es handelt sich bei Waffen schließlich genetisch gesehen um Erfindungen der Menschheit, die zum Töten dienen, und dem illegalen Be

sitz solcher Instrumente muss mit allen Möglichkeiten, auch denen der Abschreckung, vorgebeugt werden. Das dürfen und wollen wir in Anbetracht der Ereignisse vom 26. April am Gutenberg-Gymnasium nicht vergessen. Dies alles, und das wissen Sie so gut wie ich, leistet noch nichts oder nur sehr wenig gegen die in unserer Gesellschaft verhängnisvolle Verehrung von Waffen und den ebenso verhängnisvollen und weit verbreiteten Drang, sich mittels Waffen anderen gegenüber Respekt zu verschaffen. Dazu bedarf es noch viel weiter gehender Veränderungen in dem, was in unserer Gesellschaft als erstrebenswertes, soziales Verhalten Anerkennung findet.

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich am Schluss sagen, der Gegenstand von Bildung und Erziehung - und es ist nicht falsch, dass dieser Gegenstand beim gegebenen Anlass der Schwerpunkt meiner Rede war - umfasst stets die Entwicklung von Personen, also von Persönlichkeiten und Psyche. Der Vorgang ist verknüpft mit der Entwicklung von Staatsbürgern. Unsere Zukunft hängt von dem demokratischen Selbstbewusstsein ab, den Fähigkeiten und dem Handeln seiner Staatsbürger, von Staatsbürgern mit aufrechtem Gang, die auf die gesellschaftliche und politische Ordnung zurückwirken, in der sie Bildung und Erziehung genossen haben. Demokratie ist Selbstformung der Gesellschaft durch seine Bürgerinnen und Bürger, das ist auch Zivilisation und Kultur. Wir, die PDS, sind bereit, Verantwortung zu tragen und bei den notwendigen Veränderungen mitzuwirken. Vielen Dank.

(Beifall bei der PDS)

Es hat jetzt das Wort der Vorsitzende der SPD-Fraktion, Herr Gentzel.

Sehr geehrte Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, vor dem Erfurter Rathaus hat eine Schülerin mitten im Blumenmeer ein Plakat aufgestellt mit der Überschrift: "Sie lernen ja doch nichts dazu!" Der Schlüsselsatz lautet: "Bald langweilt das Thema 'die Blutspur in der Schule', weil eben alle Spuren weggewischt sind, doch was wird mit den Spuren in unseren Seelen?"

Meine Damen und Herren, wir dürfen und wir werden nicht vergessen. Wir trauern um 17 sinnlos getötete Menschen, einen Polizisten, eine Sekretärin, zwei Schüler und 12 Lehrer. Wir sind in Gedanken immer noch bei denen, die so Schreckliches erlebt haben, bei den Opfern und bei den Hinterbliebenen der Opfer, deren Väter, deren Mütter, deren Ehe- und Lebenspartnern, ihren Kindern, ihren Verwandten, ihren Freunden. Wir haben uns bei vielen mutigen Menschen zu bedanken. Wir danken den mutigen Polizisten, die unter Einsatz ihres eigenen Lebens andere retteten, ebenso wie den Rettungsdiensten und der Feuerwehr. Wir danken den mutigen Lehrern und Mitarbeitern

des Gutenberg-Gymnasiums in Erfurt, die trotz eigener Lebensgefahr Leben schützten und somit retteten. Wir danken den Kirchen für die Begleitung in dieser schweren Stunde und wir danken denjenigen Journalisten, die sensibel über die Geschehnisse aus Erfurt berichteten, die die Opfer und nicht die Sensation in den Vordergrund der Berichterstattung stellten.

Meine Damen und Herren, die Stunden, die Tage, die Wochen nach diesem furchtbaren Geschehnis waren nicht die Zeit für politische Auseinandersetzungen. Ihnen, Herr Ministerpräsident Dr. Vogel, möchte ich im Namen der SPD-Landtagsfraktion danken. Sie haben in dieser schweren Zeit die richtigen Worte zum richtigen Zeitpunkt gefunden. Ihre ersten Hilfsmaßnahmen für die Angehörigen der Opfer waren und sind richtig und angemessen. Sie haben zu jedem Zeitpunkt dieses Haus umfassend informiert und Sie haben zugehört, als wir Ratschläge formulierten. Sie, Frau Landtagspräsidentin, haben den Kontakt zwischen den Fraktionen nicht abbrechen lassen, auch dafür gebührt Ihnen Dank, genauso wie dem Oberbürgermeister der Stadt Erfurt, Herrn Manfred Ruge, der wohl in der schwärzesten Stunde der Stadt Erfurt in der Nachkriegszeit Haltung zeigte und sich seiner Emotionen nicht schämte.

Meine Damen und Herren, in diesen schlimmen Stunden sind die Erfurter, die Thüringer, die Deutschen ein Stück zusammengerückt und es war gut und richtig, dass die Repräsentanten aller großen Parteien nach Erfurt kamen. Die 100.000 auf dem Erfurter Domplatz und nicht zu vergessen die vielen Menschen in den Kirchen, auf den Plätzen, in den Schulen haben nicht nur getröstet, sondern auch Mut gemacht, Mut gemacht zu einer Diskussion und Mut gemacht zum Handeln. Es ist nur folgerichtig, dass wir jetzt das diskutieren, was dieser schrecklichen Bluttat folgen muss, aber es wird kein Gesetz geben, keine Verordnung, keinen Erlass und keine noch so intensive Diskussion, die garantiert, dass so etwas wie in Erfurt nicht wieder passiert. Wir können dieses Puzzle von Ursachen, die zu dieser Tat geführt haben, versuchen zu verstehen und wir können einzelne Puzzlesteine herauslösen und es wahrscheinlicher machen, dass eine solche Untat nie wieder geschieht. Aber ich warne auch vor einer zu aufgesetzten Diskussion; ich halte es da wie der Bundeskanzler. Ich brauche keinen unmittelbaren wissenschaftlichen Beweis für den direkten Zusammenhang zwischen der Tat und der Darstellung von Gewalt in Medien. Ich weigere mich zu verstehen, dass es richtig sein soll, dass unsere Jugend heute in den elektronischen Medien mit so viel Gewalt konfrontiert wird. So etwas hat immer Einfluss auf junge Menschen und gerade auf ihre Seelen.

(Beifall bei der CDU, SPD)

Ich bin erschüttert, dass nur drei Wochen nach der schrecklichen Tat am Erfurter Gutenberg-Gymnasium sich 60 Jugendliche in Erfurt treffen dürfen, ihre Computer vernetzen und auf einer so genannten "LANE-Party" sich über das Videospiel Counter-Strike bekämpfen. Nach Aussage des

Organisators haben viele Spieler ihre Spielmodi "Blut" und "Waffen" ausgeblendet. Die Grafik, so sagte er, irritiert beim Spielen. Meine Damen und Herren, dieser vielleicht ungewollte Zynismus ist doch kaum noch zu ertragen. Haben wir so wenig dazugelernt? Im Übrigen gibt es nach dem Strafgesetzbuch die Möglichkeit, diejenigen Produzenten zu verfolgen, die Gewalt verherrlichende Medien herstellen oder zugänglich machen. Ich weiß keinen Grund, warum Videos existieren, hergestellt und vertrieben werden, in denen Menschen auf brutalste Art und Weise zerstückelt werden. Die strafgesetzlichen Möglichkeiten zu deren Verbot und Ahndung werden meines Erachtens in sträflicher Weise nicht genutzt.

Meine Damen und Herren, lassen Sie uns über die Puzzlesteine reden, für die wir Verantwortung tragen. Der heutige Tag, mit dem Versuch eine gesellschaftliche Wertedebatte anzustoßen, ist ein wichtiger Tag dabei. Sie, Herr Ministerpräsident, haben unsere Unterstützung bei Ihrem gemeinsamen Bemühen mit den Fraktionsvorsitzenden im Bundestag diese Debatte auf Bundesebene fortzusetzen. Im Mittelpunkt dieser Debatte muss die Familie stehen. Solche Dinge wie Werte und Normen werden immer und zuallererst in der Familie vermittelt. Die Familie muss auch der Ort sein, wo zuallererst Kommunikation gelernt wird oder anders gesagt, wo man lernt zuzuhören, mitzureden, nachzudenken, sich einzumischen. Dort müssen die Grundsteine gelegt werden, um aus Kindern Erwachsene zu machen, die, wie es Johannes Rau sagt, einander achten, aber auch aufeinander achten. Gewalt darf von Anfang an keinen Platz in der Familie haben. Gewaltfreie Erziehung ist und bleibt ein wesentliches Ziel unserer Familienpolitik. Natürlich ist es neben dem Erwähnten auch wichtig, in der Familie solche Dinge wie Respekt voreinander und gegenseitiges Rückenstärken einzuüben.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, vieles von dem, was ich formuliert habe, ist sicherlich in vielen Thüringer Familien gang und gäbe, doch wir alle kennen auch Familien, wo das eben nicht funktioniert, aus Gesprächen mit Eltern, die verzweifelt sind, weil sie keinen Zugang zu ihren Kindern mehr bekommen, aus Gesprächen mit Lehrern, die uns teilweise ihre Hilflosigkeit schildern, weil sie vom Elternhaus keine Unterstützung bekommen und auch aus Gesprächen mit der Polizei, die uns schildert, dass gewaltfreie Erziehung in so mancher Familie ein Wunschtraum ist. Wir haben ein System aufgebaut von Familienberatungen über Erziehungsberatungen bis hin zum Jugendamt. Das funktioniert aber nur, wenn Eltern oder Kinder sich an diese Einrichtungen wenden. Ohne Anlass greifen diese Institutionen nur in Extremfällen ein. Was wir erreichen müssen, ist an dieser Stelle ein Stück mehr Miteinander. Schulfreunde, Nachbarn, Arbeitskollegen müssen hinhören, müssen offen sein, wenn Probleme angesprochen werden, und sie müssen Hilfe anbieten. Viele Menschen trauen sich aus Scham oder aus Sorge als Versager abgestempelt zu werden, nicht, Hilfsangebote, zum Beispiel von Beratungsstellen, anzunehmen. Diese Ängste müssen wir ihnen nehmen durch bessere Informationen und durch

mehr Verständnis.

Meine Damen und Herren, ich halte es für wichtig, dass wir in der Familiendebatte den so oft gebrauchten nostalgischen Unterton vermeiden. Erstens stimmt dies generell nicht - "früher war alles besser" -, zweitens ist das Umfeld einer Familie ein anderes geworden und so bringen solche Antworten wie: "Früher musste ich auch um 20.00 Uhr ins Bett", keine Hilfe. Wir sind direkt dafür verantwortlich, dass die Familien wieder Vertrauen auch in die Politik bekommen. Ich halte das in der jetzigen Situation für beinahe unerträglich, was teilweise für unverantwortliche Versprechen im Bundestagswahlkampf an die Familien gemacht werden. In ihrer Zielstellung sicherlich wünschenswert, zur finanziellen Umsetzung wird wohlweislich nichts gesagt. Es wäre richtiger an dieser Stelle eher zu schweigen, als vollmundige Versprechen in die Welt zu setzen, von denen man heute noch nicht weiß, wie man sie morgen einlösen kann.