Liebe Kolleginnen und Kollegen Abgeordnete, sehr verehrte Mitglieder der Landesregierung, verehrte Gäste auf der Besuchertribüne. Ich darf unsere heutige 70. Plenarsitzung des Thüringer Landtags am 13. September 2002 eröffnen. Ganz besonders herzlich begrüße ich unsere mordwinischen Gäste auf der Besuchertribüne. Wir freuen uns sehr, dass sie da sind.
Unter Leitung des Ersten Stellvertretenden Vorsitzenden der Staatsversammlung der Republik Mordwinien Aleksander Sankin ist diese Delegation bei uns. Sie besucht die Erfurter Grünen Tage und wird einiges im Land mit uns, mit unseren Abgeordneten weiter wahrnehmen. Wir freuen uns über diese Beziehung.
Dann komme ich zu meinen Schriftführern. Es haben Platz genommen Frau Abgeordnete Dr. Wildauer und Herr Abgeordneter Heym. Frau Abgeordnete Dr. Wildauer wird die Rednerliste führen.
Es haben sich für die heutige Sitzung entschuldigt Herr Ministerpräsident Dr. Vogel, Herr Minister Dr. Birkmann, Herr Minister Gnauck, Herr Minister Dr. Sklenar, Herr Abgeordneter Gentzel, Frau Abgeordnete Heß, Herr Abgeordneter Illing, Herr Abgeordneter Otto Kretschmer und Frau Abgeordnete Thierbach. Ist alles richtig oder ist jemand der Entschuldigten anwesend? Nein. Stimmt.
Dann darf ich noch einen Hinweis zur Tagesordnung geben, und zwar zu dem neu aufgenommenen Punkt auf Antrag der Fraktion der CDU "Zur Situation von Frauen in Thüringen" - Drucksache 3/2697 - wurde ein Entschließungsantrag der Fraktion der PDS in Drucksache 3/2702 verteilt. Das ist also jetzt auch bekannt.
Die Ergebnisse der Hartz-Kommission und erste Auswirkungen auf den Thüringer Arbeitsmarkt Antrag der Fraktion der CDU - Drucksache 3/2656
Auf die Begründung wird verzichtet, da die Landesregierung den Sofortbericht angekündigt hat und dann bitte ich, ihn zu geben. Herr Minister Schuster.
Frau Präsidentin, sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete, das Bundeskabinett hat am 21. August die Umsetzung des Hartz-Konzepts beschlossen, noch bevor es seriös geprüft und ausgewertet wurde. Jetzt zeichnet sich ab, dass die Ankündigung einer schnellen Umsetzung wichtiger Schritte noch vor der Bundestagswahl voreilig erfolgte. Bundesarbeitsminister Riester musste einräumen, dass es für die Realisierung aller wesentlichen Vorschläge erst noch umfangreicher Gesetzesänderungen bedarf. Direkte Auswirkungen der Hartz-Vorschläge auf Thüringen sind bisher nicht erkennbar. Die Auswirkungen auf die Arbeitslosen lassen sich allerdings konkret beschreiben. Der Arbeitslose kommt in das Job-Center und unterzieht sich erst einem Profiling. Nach dem Assessment-Verfahren erfolgt dann sogleich eine Quick-Vermittlung. Führt das nicht zum Erfolg, so wird er der Personal-Service-Agentur zugewiesen, um seinen Job-Floater zu holen. Ist er allerdings schon über 55 Jahre alt, dann hilft das Bridge-System weiter und bei alledem stehen ihm die Profis der Nation zur Seite, meine Damen und Herren.
Wenn nun alle Arbeitslosen beim Arbeitsamt gewesen sind, dann ändert sich Folgendes: Die Zahl der Quick-Vermittlungen wird nicht wesentlich ansteigen, es wird die Zahl jener ansteigen, die über das Bridge-System in den Vorruhestand verabschiedet werden. Es wird eine große Zahl geben, die über die PSA zu Scheinbeschäftigten erklärt werden. Fazit: Die Statistik ist korrigiert, man könnte ja auch sagen manipuliert.
Die Lasten sind weggedrückt auf die Alterssicherungssysteme. Die reale Situation der Arbeitslosen hat sich aber in keiner Weise geändert.
Das heißt, die Veränderungen finden auf der begrifflichen Ebene statt, sie finden auf der organisatorischen Ebene statt, aber in der realen Welt, in der Wirtschaft ändert sich gar nichts und für die Arbeitslosen erst recht nichts.
Meine Damen und Herren, es wäre falsch, die Vorschläge der Hartz-Kommission in Bausch und Bogen abzulehnen. Es gibt durchaus einige richtige Ansätze, die aber im Laufe der Kommissionstätigkeit an fachlicher Substanz verloren haben. Zudem greifen auch Themen, denen die Bundesregierung noch vor kurzem ablehnend gegenüberstand, aber sie sind sehr abgeschwächt. Was meine ich damit? Die Einrichtung von Job-Centern und die Verbesserung und Intensivierung der Vermittlung ist zu begrüßen, denn die Betreuung aller erwerbsfähigen Arbeitslosen vor
Auch die vorgesehene Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe ist grundsätzlich sinnvoll. Dies gilt ebenso für die Beweislastumkehr beim Nachweis der Unzumutbarkeit der Annahme von Stellenangeboten und die frühzeitige Meldepflicht für Arbeitnehmer bereits bei Kündigung. Kernpunkt des Konzepts sind aber die PersonalService-Agenturen, PSA genannt. Jedem Arbeitsamt soll entweder eine eigene Organisationshoheit oder ein privates regionales Zeitarbeitunternehmen zugeordnet werden. Bei diesen sollen die erwerbsfähigen Arbeitslosen angestellt und dann an Unternehmen verliehen werden. Durch den flächendeckenden Ausbau von PSA bis Ende 2005 sollen sich die Arbeitslosenzahlen statistisch um 780.000 verringern; das ist ein fauler Trick zur Beschönigung der Arbeitslosenstatistik. Eine solche Form der Erleichterung von Zeitarbeit ist nicht der richtige Weg. Es ändert sich nichts, wenn man die Arbeitslosen in Beschäftigte der PSA umwandelt. Der Staat würde zu einem gigantischen Scheinarbeitgeber, welcher der Wirtschaft Arbeitskräfte verleiht, ihr aber gleichzeitig Konkurrenz macht, meine Damen und Herren.
Zusätzliche Arbeitsplätze werden dadurch nicht geschaffen und dies ist jedenfalls in den neuen Ländern das entscheidende Kriterium.
Dass mit den PSA ein erheblicher zusätzlicher bürokratischer Aufwand verbunden ist, sollte noch erwähnt werden. Das Zentrum für europäische Wirtschaftsforschung warnt deshalb vor dieser Einrichtung. Die PSA sei mit großen Kostenrisiken für den Staat verbunden, außerdem drohe ein Missbrauch. Reguläre Beschäftigungsverhältnisse werden durch Zeitarbeit verdrängt.
Ich komme nun zu der Ich- oder Familien-AG: Die HartzKommission schlägt vor, dass sich Arbeitslose als Ich-AG selbständig machen sollen. Die betreffenden Arbeitslosen zahlen bis zu einem Jahreseinkommen von 25.000 nur 10 Prozent Pauschalsteuer und erhalten daneben noch einen Teil ihres Arbeitslosengeldes. Es handelt sich dabei also um eine steuersubventionierte Einrichtung von Kleingewerbebetrieben. Thüringen unterstützt seit jeher die Förderung von Existenzgründungen und Selbständigkeit, aber gerade in Thüringen, dessen Wirtschaft überwiegend kleinund mittelständisch geprägt ist, würden diese Ich-AGs eine subventionierte Konkurrenz zu bestehenden Kleinunternehmen bilden, die reguläre Steuern zahlen müssen.
Angesichts der derzeit schlechten Konjunkturlage würden sie damit nicht nur Arbeitsplätze schaffen, sondern gleichzeitig andere vernichten. Ich bleibe deshalb bei der For
derung an die Bundesregierung, das Scheinselbständigkeitsgesetz abzuschaffen, damit wäre Selbständigen und Existenzgründern mehr geholfen
Und nun zum Job-Floater-Konzept: Ursprünglich sollte der Job-Floater ein Volumen von 150 Mrd. dem "Aufbau Ost" zugute kommen. Nach erheblicher Kritik, wohl auch des Bundesfinanzministers, ist nun nur noch von 20 Mrd. gigen Unterstützung der ostdeutschen Wirtschaft kann keine Rede sein. Der Job-Floater ist lediglich ein zusätzliches Subventionsprogramm, das weder zu einer realen Verbesserung der Standardbedingungen noch zu einer Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit unserer Unternehmen beiträgt. Das Hauptproblem unserer Wirtschaft ist derzeit der Auftragsmangel, meine Damen und Herren.
Trotz der Förderung werden die Unternehmen auch zukünftig nur dann Einstellungen vornehmen, wenn die Auftragslage dies betriebswirtschaftlich hergibt. Mit dem JobFloater-Konzept würde ein zusätzlicher Schattenhaushalt geschaffen. Die Umsetzung dürfte zusätzlich komplizierte Regelungen erfordern, schon um den Missbrauch der Subventionen in Grenzen zu halten. Ungeklärt ist die Vereinbarkeit des Konzepts mit dem EU-Beihilferecht und den Maastrichtkriterien. Enttäuschend sind die Ausführungen im Hartz-Konzept zu den strukturellen und organisatorischen Änderungen bei der Bundesanstalt für Arbeit. Dieser Punkt sollte ursprünglich "Konzentration der BA auf die Kernaufgaben" heißen. Dies klang viel verspechend, wird im Abschlussbericht allerdings nicht umgesetzt. Eine Reduzierung des bürokratischen Aufwands ist nicht erkennbar. Sachfremde Verwaltungsaufgaben, wie die Familienkassen und die Bekämpfung illegaler Beschäftigung, verbleiben weiterhin in der BA. Die geforderte umfassende strukturelle Reform bleibt damit aus.
Von wesentlicher Bedeutung für die Thüringer Arbeitsmarktpolitik ist der Vorschlag, die Landesarbeitsämter aus der bestehenden hierarchischen Struktur der Arbeitsverwaltung herauszunehmen und zu Kompetenzzentren für die Förderung der Beschäftigung zu machen. Dieser Vorschlag ist äußerst kritisch zu bewerten. Die Landesarbeitsämter werden und sind ein wichtiger Ansprechpartner für die Koordinierung und Abstimmung der Landes- mit der Bundesarbeitsmarktpolitik. Über sie erfolgt eine geordnete Steuerung der einzelnen Arbeitsämter. Ich bin der Meinung, dass die Landesarbeitsämter erhalten bleiben müssen.
Ein regionaler Neuzuschnitt der Landesarbeitsämter wird von allen neuen Ländern entschieden abgelehnt. Doch das entsprechende Positionspapier der neuen Länder, das der Kommission Anfang Juni übergeben wurde, blieb unbeachtet. Die Mitarbeit in der Kommission wurde den neuen Ländern verwehrt.
Nun zu den Finanzierungsfragen: Die versprochenen zusätzlichen Gegenfinanzierungsvorschläge zur Deckung immenser Kosten fehlen. Der zweckgebundene Job-Floater und ein Ausbildungszeitwertpapier reichen dafür bei weitem nicht aus. Die erträumten Einsparungen beim Arbeitslosengeld und bei der Arbeitslosenhilfe in Höhe von 19,6 Mrd. Arbeitslosenzahl um 2 Millionen völlig unrealistisch ist.
Ich will nicht in Abrede stellen, dass es dringend notwendiger Reformen bei der Arbeitsvermittlung und in der Organisation der Bundesanstalt für Arbeit bedarf. Es ist aber nicht die grundlegende Frage. Vielmehr bedarf es bei Reformen in der Finanz- und Wirtschaftspolitik auf Bundesebene und in Deutschland eines beschäftigungsintensiven Wachstums. Dies muss erreicht werden, um nicht mehr Schlusslicht in Europa zu sein.
Die arbeitsmarkt- und insbesondere beschäftigungspolitische Wirkung gerade in den neuen Ländern wird völlig überschätzt. Viele Fachleute sehen dies zwischenzeitlich realistisch und äußern ihre Skepsis auch öffentlich. Ich verweise hier nochmals auf Klaus von Dohnany (SPD), der kürzlich Folgendes festgestellt hat, ich zitiere: "Wirkliche Lösungen liegen außerhalb der von der Kommission betrachteten Fragestellungen, nämlich in den gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen." Beispielhaft nennt er eine Verringerung der Lohnnebenkosten, mehr Raum für Niedriglohnarbeit und eine stärkere steuerliche Entlastung des Mittelstands. Dem ist nichts hinzuzufügen, meine Damen und Herren.
Das war der Bericht des Ministers der Landesregierung. Wird Aussprache gewünscht? Ja, die SPD-Fraktion beantragt die Aussprache. Dann kommen wir zur Aussprache und es hat als Erster das Wort der Abgeordnete Gerstenberger, PDS-Fraktion.
dass wir heute die Hartz-Diskussion in der Variante Wahlkampf bestreiten, sind, denke ich, die Erwartungshaltungen weitestgehend durch den Minister erfüllt worden. Herr Minister, ich finde nur den Einstieg etwas zweifelhaft, das Problem ins Lächerliche zu ziehen in Anbetracht dessen, dass wir 400.000 fehlende Arbeitsplätze in Thüringen haben
und dass es sich um 200.000 registrierte Arbeitslose handelt, halte ich für reichlich makaber und dem Gegenstand völlig unangemessen. Eine Landesregierung, Herr Minister Schuster, die bestätigt, dass die Landespolitiken in Ostdeutschland einen nicht unwesentlichen Beitrag zum Abbau der Arbeitslosigkeit und zur Erhöhung der Erwerbstätigenzahl leisten, muss sich an dieser Aussage messen lassen und Ihre eigene Verantwortung in diesem Prozess ist hier sehr, sehr kurz gekommen. Wer im Glashaus sitzt, sollte vorsichtig sein und sollte sich überlegen, ob er mit Steinen schmeißt.
Ich will Ihnen deshalb noch vier Zahlen nennen: Die Langzeitarbeitslosigkeit, Herr Schuster, hat sich in Thüringen unter Ihrer Verantwortung massiv in Richtung 70.000 bewegt, eine Erhöhung um nahezu 20.000 im Laufe der letzten Jahre. Die sozialversicherungspflichtig Beschäftigten - ich sagte Ihnen die Zahl bereits gestern - hat sich seit 1998 bis heute um 60.000 verringert und, Herr Schuster, um auf die Erwerbstätigen zu kommen, auch die Erwerbstätigenzahl hat sich von 1999 bis heute in Thüringen um reichlich 50.000 verringert und die Arbeitslosigkeit als registrierte Arbeitslosigkeit bewegt sich auf unverändert hohem Niveau. Ob man da nun Volkswirtschaft studiert hat oder nicht, es dürfte klar sein, dass an dieser Stelle die Probleme so nachhaltig sind, dass in keiner Art und Weise von einer erfolgreichen Landespolitik, sondern vielmehr und viel deutlicher, wenn man ehrlich ist, von einer völlig gescheiterten Landespolitik zu reden ist.