Protokoll der Sitzung vom 14.07.2006

Die gegenwärtig noch gültige Planungsgrundlage der zehnten koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung für Thüringen bedarf deshalb einer zeitnahen Fortschreibung. Nach Informationen des Thüringer Landesamts für Statistik laufen bereits die Vorbereitungen für die Durchführung der elften koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung, die im kommenden Jahr vorliegen soll.

Der Bericht zeigt neben einer Bestandsaufnahme der Entwicklung seit 1990 die wesentlichen Handlungsfelder und Handlungsansätze auf, die in den nächsten Jahren und Jahrzehnten im Mittelpunkt des Handelns stehen müssen. Die Folgen der Bevölkerungsentwicklung betreffen vor allem die Bereiche Wirtschaft und Arbeit, Infrastruktur, Kultur und Soziales sowie Bildung und die öffentlichen Haushalte. Eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung und eine nachhaltige Familienpolitik sind die Grundvoraussetzungen für die Gestaltung aller gesellschaftlichen Teilbereiche bei der Bewältigung des demographischen Wandels. Strategien zur Anpassung sind insbesondere auf den Gebieten der sozialen Sicherungssysteme, der Schulen und Hochschulen, der Siedlungs- und Infrastruktur sowie der öffentlichen und privaten Investitionen notwendig. Alle Maßnahmen müssen einem Demographiecheck unterworfen werden, das heißt, auf jeder politischen Ebene sind alle Entschei

dungen darauf zu prüfen, ob sie die Folgen aus der demographischen Entwicklung hinreichend berücksichtigen.

Wir müssen Antworten auf die Fragen finden: Wie können wir zukünftig unsere Infrastruktur organisieren und finanzieren? Wie wird sich der Leerstand in den Städten entwickeln? Was bedeutet das für den Stadtumbau?

Meine Damen und Herren, ausdrücklich möchte ich betonen, dass mit dem Bericht keine Patentrezepte, Maßnahmepläne, Hinweise auf neue Verordnungen der Landesregierung oder gar beabsichtigte Gesetzesvorlagen zur eiligen Einflussnahme auf diese oder jene Entwicklung verbunden sind. Der Demographiebericht gibt Denkanstöße und ist eine breite Diskussionsgrundlage für alle, die politische, wirtschaftliche und soziale Verantwortung in Thüringen tragen bzw. tragen wollen. Er zielt darauf ab, die demographischen Fakten zukünftig im Prozess der Entscheidungsvorbereitung und -findung zu berücksichtigen.

Zusammenfassend möchte ich Ihnen die wesentlichen Aussagen des Berichts vorstellen. Die demographischen Veränderungen in Thüringen vollziehen sich im Kontext der gesamtdeutschen Entwicklung und hervorzuheben ist dabei, dass die Abwanderung bei der männlichen Bevölkerung durch Zuwanderung gemildert bzw. sogar von 1992 bis 1996 mehr als ausgeglichen wurde. Dies gilt allerdings nicht für den weiblichen Bevölkerungsanteil.

Der demographische Wandel in Thüringen vollzog sich seit 1989 regional und altersstrukturell sehr differenziert. Anfang der 90er-Jahre verloren alle großen Städte durch Suburbanisierungsprozesse Bevölkerung an das Umland. Heute ist ein eher umgekehrter Trend zu erkennen. Prognostisch wird sich in Thüringen - wie in ganz Deutschland - der Bevölkerungsrückgang fortsetzen. Auch wenn familienpolitische Maßnahmen zu höheren Geburtenraten führen würden, würde sich dies erst längerfristig in einer Verlangsamung des Bevölkerungsrückgangs niederschlagen. Kurzfristige Veränderungen der gegenwärtigen Trends in der Bevölkerungsentwicklung könnten nur durch Beeinflussung der Abwanderung aus Thüringen bzw. durch eine massive Zuwanderung junger und gut qualifizierter Menschen aus dem In- und Ausland erreicht werden. Voraussetzung dafür wäre eine wesentliche Veränderung der dafür erforderlichen Rahmenbedingungen, Arbeitsplätze, Integration der Ausländer, internationale Verkehrsanbindungen, um einige Schlagworte zu nennen. Eine massive Zuwanderung aus dem Ausland ist jedoch nicht realistisch.

In der Altersgruppe der Vorschulkinder wird sich bis 2015 der Stabilisierungsprozess fortsetzen, danach ist wieder eine Abwärtskurve prognostiziert. Der gerade

einsetzende Stabilisierungsprozess der Altersgruppe der 7- bis 15-Jährigen wird noch über das Jahr 2020 hinaus anhalten. In der für die Berufsausbildung wichtigen Altersgruppe der 16- bis 25-Jährigen haben wir im Jahr 2016 einen Gesamtrückgang von über 55 Prozent gegenüber 2004 zu verzeichnen - gewissermaßen das Erreichen der Talsohle. Die Altersgruppe der 26- bis 65-Jährigen wird kontinuierlich und nur unterbrochen von einer kurzen Stagnationsphase bis 2020 um rund 13 Prozent abnehmen. Umgekehrt wird die Altersgruppe der über 65-Jährigen im gleichen Zeitraum um 24 Prozent anwachsen.

Aber hier erst einmal genug der Zahlen. Was geht noch aus dem Bericht hervor? Die Einnahmesituation des Landes aus direkten und indirekten Steuern wird sich stark verändern, auch auf die Mittelzuweisungen aus dem Länderfinanzausgleich und den Bundesergänzungszuweisungen hat der Bevölkerungsrückgang negative Auswirkungen. Sinkende Einwohnerzahlen für Thüringen bedeuten auch eine Veränderung der Pro-Kopf-Kosten und der Leistungserbringung des Landes. Einerseits können durch wirtschaftlichen Aufschwung wieder Mehreinnahmen erzielt werden, andererseits ist ein auf die demographischen Prozesse hin angepasster Leistungsumbau des Staates bis zur kommunalen Ebene erforderlich. Beide Handlungsfelder sollen den zu erwartenden Steigerungen bei Pro-Kopf-Kosten entgegenwirken.

Bei Vollzug der Verwaltungsreform werden die Auswirkungen des Bevölkerungsrückgangs und die Veränderungen in der Altersstruktur berücksichtigt. Schwerpunkt hierbei ist das Behördenstrukturkonzept vom 1. März 2005 mit dem Ziel der Verschlankung der Verwaltung, Ausrichtung auf moderne Informationstechniken, Schaffung von mehr Bürgernähe und stärkere Berücksichtigungen wirtschaftlicher Aspekte.

Ergebnisse von Umfragen in den letzten Jahren zeigen, dass der Kinderwunsch in Deutschland die realisierte Kinderzahl übersteigt, so dass der Familienpolitik ein exponierter Stellenwert einzuräumen ist. Deshalb hat Thüringen mit der Familienoffensive im Gegensatz zu fast allen anderen Ländern die bisherigen Familienleistungen gesetzlich festgeschrieben. So wurde die Finanzierung der Kindertageseinrichtungen dauerhaft gesichert und Thüringen hat als eines von nur zwei Ländern einen umfassenden Rechtsanspruch auf einen Platz in einer Einrichtung bereits ab einem Kindesalter von zwei Jahren eingeräumt und das Thüringer Erziehungsgeld eingeführt.

Meine Damen und Herren, der Demographiebericht setzt sich mit der Situationsbeschreibung, Anpassungsstrategien und Möglichkeiten zur aktiven Beeinflussung der Familienpolitik auseinander. Dabei wird deutlich, dass die Landesregierung besondere

Anstrengungen unternimmt, um Thüringen als ein kinder- und familienfreundliches Land auf der Grundlage des im vergangenen Jahr verabschiedeten Familienfördergesetzes zu gestalten. Bei allen Entscheidungen sollen die Belange von Familie und die bessere Vereinbarung von Beruf und Familie noch stärker als bisher berücksichtigt werden.

Ein enger Zusammenhang und eine zunehmende wechselseitige Beeinflussung zwischen demographischen Veränderungen einerseits, der Thüringer Wirtschaft und der Arbeitsmarktentwicklung andererseits werden nachgewiesen. Eine moderne Wirtschaftsstruktur mit einem hohen Wachstumspotenzial braucht gut ausgebildete Fachkräfte. Es muss unser Ziel sein, diese in Thüringen zu halten bzw. nach Thüringen zu holen, denn dies stärkt damit zugleich den Freistaat als langfristig interessanten Investitionsstandort.

Bevölkerungsrückgang, aber gerade auch die gravierenden Veränderungen der Bevölkerungsstrukturen beeinflussen die Anforderungen an unsere bauliche Umwelt in starkem Maße. Städtebau und Wohnungsbau sehen sich nicht nur durch quantitative, sondern vor allem auch durch qualitative Anpassungsmaßnahmen herausgefordert. Thüringen hat dies schon frühzeitig erkannt und mit Stadtentwicklungskonzepten als Grundlage für Städtebaufördermaßnahmen reagiert. Das Bund-Länder-Programm „Stadtumbau Ost“ sowie die „Thüringer Innenstadtinitiative“ haben auch weiterhin die bedarfsgerechte Umgestaltung unserer Städte im Blick.

(Beifall bei der CDU)

Mit Konzepten einer nachhaltigen Siedlungsstruktur soll auch im ländlichen Raum auf die notwendigen Veränderungen reagiert werden. Im Bereich der Trinkwasserver- und Abwasserentsorgung wird die Anzahl der Nutzer stark abnehmen. Das wird erhebliche ökonomische, aber auch funktionale Probleme hinsichtlich des Betriebs der Netze und Anlagen nach sich ziehen. Die kommunalen Aufgabenträger für die Ver- und Entsorgung sind deshalb gefordert, solche Konzepte und Projekte zu entwickeln, welche unter Einhaltung der qualitativen Normen die Bevölkerungsentwicklung strategisch berücksichtigen. Ähnliches gilt auch für die Energieversorgungsinfrastruktur.

Die prognostizierte Bevölkerungsentwicklung wird auch dazu führen, dass die Kosten für den Ausbau und die Erhaltung des Schienen- und Straßennetzes pro Einwohner weiter ansteigen und die Mittelbereitstellung aus den öffentlichen Haushalten immer schwieriger wird. Deswegen wird es erforderlich sein, die Netze so zu optimieren, dass sie langfristig erhalten werden können.

(Zwischenruf Abg. Kuschel, Die Links- partei.PDS: Diese Einsicht kommt zu spät!)

(Zwischenruf Abg. Thierbach, Die Links- partei.PDS: Vielleicht ist es noch nicht zu spät!)

Wissen Sie, Herr Kaiser, gestern hat hier die Opposition nur gefordert, es muss alles erhalten bleiben, darf nichts abgebaut werden, keine Leistung.

(Zwischenruf Abg. Dr. Scheringer-Wright, Die Linkspartei.PDS: Das stimmt doch gar nicht! Schauen Sie sich unser Steu- erkonzept an.)

Behalten Sie mal Ihre Worte von gestern im Kopf und machen Sie nicht nur populistische Aussagen.

(Beifall bei der CDU)

Meine Damen und Herren, der starke Schülerrückgang führte und führt zu einer Restrukturierung des Bildungswesens und neben den wirtschaftlichen Gesichtspunkten steht auch der Aspekt der wohnortnahen Bildungseinrichtung im Blickpunkt. Die Erhaltung eines wirtschaftlich tragfähigen, ausgewogenen Schulnetzes ist eine der vorrangigen Aufgaben der Landespolitik. Thüringen ist der Größe und Einwohnerzahl des Landes angemessen mit Hoch- und Fachschulen ausgestattet. Es ist unverkennbar, dass bei weiter anhaltendem wirtschaftlichem Aufschwung zukünftig ein verstärkter Fachkräftebedarf entstehen wird. Da jedoch gleichzeitig bis 2020 die Zahl der potenziell Studierenden um rund 18 Prozent zurückgehen wird, sind auch in diesem Bereich Anpassungsmaßnahmen erforderlich, die den qualitativen Anspruch unserer Hochschulen berücksichtigen müssen.

Das in der Öffentlichkeit wohl bekannteste Phänomen des demographischen Wandels ist das Älterwerden unserer Gesellschaft. Die stetig wachsende Lebenserwartung ist eine erfreuliche Tatsache, andererseits hat dies beträchtliche Auswirkungen auf unsere Gesundheits- und Sozialsysteme. Ich verweise hier auf die aktuelle Entscheidung der Bundesregierung. Rückgang und Veränderung der Altersstruktur müssen auch zukünftig noch mehr bei der Krankenhausplanung berücksichtigt werden.

Meine Damen und Herren, unser gesellschaftliches Leben wird maßgeblich von Kunst und Kultur mitgetragen; somit sind auch hier umfassende Anpassungsstrategien an die demographischen Veränderungen notwendig. Die Förderung von Kooperation und Synergien im Kulturbereich können hier genannt werden und gerade im ländlichen Raum spielt das

Vereinsleben auf allen Gebieten eine substanzielle Rolle. Ein gut funktionierendes Vereinsnetzwerk ist ein nicht zu unterschätzender Bindungsfaktor für die Mitglieder an ihre Kommune und Region.

Meine Damen und Herren, die Landesregierung wird sich auch zukünftig mit der demographischen Entwicklung befassen und die Handlungsansätze dementsprechend anpassen; erkennbare Schwerpunktprobleme sollten ggf. auch durch externen Sachverstand untersucht werden. Und die Landesregierung sucht die intensive fachliche Zusammenarbeit mit der kommunalen Ebene. So werde ich beim Gemeinde- und Städtebund den neu gewählten Bürgermeister über die Folgen der demographischen Entwicklung ausführlich informieren. Darüber hinaus wird es VorOrt-Gespräche geben, um das Bewusstsein für die Aufgaben zu stärken.

Diese Veränderungsprozesse sind nicht aufzuhalten, sie sind allenfalls graduell beeinflussbar und politisches Handeln kann zu einer Abschwächung der prognostizierten Trends und zur Vermeidung noch ungünstigerer Entwicklung beitragen. Hier steht aber die gesamte Gesellschaft in Verantwortung.

Abschließend möchte ich noch einmal klarstellen: Der Demographiebericht gibt Denkanstöße, er ist eine breite Diskussionsgrundlage für alle, die politische, wirtschaftliche und soziale Verantwortung in Thüringen tragen bzw. tragen wollen. Gefragt sind jedoch Lösungen und keine Parolen. Sowohl die Bundes- als auch die Landesregierung können vieles regeln und anstoßen, aber das Verständnis für die Auswirkungen des demographischen Wandels auf die vor Ort zu treffenden Entscheidungen, das kann nicht verordnet werden. Erst wenn jeder Bürgermeister, jeder Gemeinde- und Stadtrat, jeder Landrat und jeder Kreistag den demographischen Wandel bei seinen Entscheidungen berücksichtigt, können die aufgezeigten Aufgaben erfolgreich bewältigt werden. Gefordert sind aber auch alle anderen, die Verantwortung tragen. Es gibt positive Beispiele, wo dies bereits geschieht. Es muss jedoch flächendeckend in Thüringen umgesetzt werden und Sie alle sind eingeladen, an der Erledigung dieser Aufgaben mitzuwirken, die der demographische Wandel in Thüringen aufwirft.

(Beifall bei der CDU)

Das Wort hat die Abgeordnete Enders, Die Linkspartei.PDS.

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, der Demographiebericht zeigt vorhandene demographische

Fakten und Entwicklungen auf. Herr Minister Trautvetter hat gerade einige davon vorgestellt. Er macht aber auch erstmalig in dieser Form, und ich betone, in dieser kompakten Form, den Handlungszwang für das Land deutlich und vor allen Dingen auch die Herausforderungen für die gesamte Gesellschaft. In dieser Kompaktheit, in dieser Gesamtheit der Faktenlage kommt erstmals die Brisanz des Themas zum Ausdruck. Dies ist zugleich eine Herausforderung an alle Akteure der Gesellschaft. Der Bericht lehrt uns auch eines: Er lehrt, dass das Thema der demographischen Entwicklung ernst genommen werden muss. Doch es ist kurzfristig und fatal zugleich, wenn auf die demographische Entwicklung allein mit Kürzungen, mit Standardabsenkungen bei sozialen und bei kulturellen Leistungen reagiert wird. Ein solches Handeln, und darüber müssen wir uns im Klaren sein, würde die Probleme nicht lösen, sondern würde die Probleme weiter verschärfen.

Meine Damen und Herren, die allgemeinen Tatsachen - seien wir doch ehrlich - wie Geburtenrückgang und die Abwanderung sind uns doch schon seit Jahren bekannt. Bisher allerdings wurden sie nur sporadisch in die Einzelentscheidungen einbezogen, z.B. immer dann, wenn das Geld knapp wurde oder wenn es gerade einmal in unsere Konzepte passte. Damit wurde vielmal ignoriert, dass wir uns schon lange mitten im Prozess des demographischen Wandels befinden. Durch den vorliegenden Bericht wird jetzt eines ganz deutlich: Der Staat ist in seiner gestalterischen Funktion mehr als gefragt. Ich hoffe, und Herr Minister Trautvetter hat ja - so habe ich ihn zumindest hier verstanden - auch aufgerufen, dass spätestens mit diesem Bericht eine konstruktive, eine allumfassende, eine parteiübergreifende, eine gesamtgesellschaftliche Debatte zur Zukunftsentwicklung eingeleitet wird. Wir alle stehen nun vor der Herausforderung, in einen Dialog darüber zu treten, wie wir die Folgen des demographischen Wandels aktiv und zukunftsorientiert gestalten können. Wobei, und das dürfen wir auch nicht vergessen und das möchte ich auch hier erwähnen, die demographische Entwicklung auch Chancen bietet.

Meine Damen und Herren, mit der Entwicklung, die nun einmal als Fakt nicht zu widerlegen ist, stellt sich für uns die Frage, welche Antworten wir zu finden bereit sind. Vielfach wird die demographische Entwicklung als Vorwand benutzt, um den Sozialstaat in Frage zu stellen. Vielfach ist die Auffassung anzutreffen, dass sich der Staat auf seine Kernbereiche beschränken soll, und im Extremfall bedeutet dieses Staatsverständnis nichts anderes als eine ausschließliche Beschränkung des Staates auf Ordnung und Sicherheit. Nun will ich mich hier und heute nicht mit einzelnen Staatstheorien beschäftigen - doch für uns ist eines klar: Der Sozialstaat und seine Handlungsfähigkeit dürfen nicht preisgegeben werden.

(Beifall bei der Linkspartei.PDS)

Wir, Die Linke.PDS, haben folgendes Staatsverständnis: Wir bekennen uns dazu, dass der Staat steuernd, lenkend und gestaltend in gesellschaftliche Prozesse eingreifen muss. Für uns bedeutet das vor allem, dass auch und gerade unter dem Aspekt der demographischen Entwicklung die finanzielle Handlungsfähigkeit des Landes gewährleistet sein muss. Wir brauchen diese Handlungsfähigkeit, um Chancengerechtigkeit für die Menschen zu sichern und Zukunftsaufgaben zu finanzieren. Zu diesen Zukunftsaufgaben in Thüringen gehören für uns: die Bildung als Investition in die Zukunft zu begreifen, die Sicherung einer leistungsfähigen Hochschullandschaft und eine starke Forschung, die Sicherung einer starken Theater- und Orchesterlandschaft und vor allen Dingen auch leistungsfähige Kommunen.

Dafür benötigen wir Geld, das ist richtig. Das heißt, wir brauchen mehr Einnahmen in den öffentlichen Haushalten in Deutschland insgesamt. Dies ist unserer Auffassung nach nur durch eine gerechtere Steuerpolitik möglich. Unter dieser grundsätzlichen Annahme sehen wir die Notwendigkeit und die Chance, unsere unterschiedlichen Auffassungen zur Beherrschung der demographischen Probleme zu diskutieren.

Wir betrachten deshalb den Bericht als Einstieg in die Diskussion, die hoffentlich nicht nur heute hier im Plenum geführt wird, denn im Grunde muss in allen Ausschüssen des Landtags dieser Bericht ständig im Hinterkopf behalten werden und alle Aktivitäten müssen vor dem Hintergrund dieses Berichts thematisiert werden. Die Fragen der demographischen Entwicklung sind schließlich Kernfragen und Querschnittsaufgaben zugleich. Bei allen politischen Entscheidungen muss es künftig darauf ankommen, diese Entscheidungen vor dem Hintergrund der demographischen Entwicklung zu betrachten.

Meine Damen und Herren, der Bericht bekennt in seiner Klarheit drei Entwicklungen:

1. Die Geburtenrate ist derart niedrig, dass sich die Gesellschaft nicht mehr reproduziert.

2. Die Lebenserwartung der Menschen steigt; kurz gesagt, wir werden weniger und älter.

3. kommt in Thüringen die hohe Quote der Abwanderung in andere Bundesländer oder andere Staaten der Welt hinzu.

Die demographischen Probleme werden nun aber zusätzlich verstärkt, zum einen durch ein anderes, durch ein gesellschaftlich verändertes Familienverständnis. Der Bericht sagt dazu - ich zitiere: „Die tra

ditionellen sozialen Institutionen, wie Ehe und Familie, verlieren in den westlich geprägten Industriestaaten an Bedeutung hinsichtlich ihrer Funktion zur sozialen Absicherung. Individualität hat einen hohen Stellenwert.“ Zum anderen kommt gerade hier im Osten eine hohe Verunsicherung durch die hohe Arbeitslosigkeit, durch fehlende Lehrstellen und niedriges Lohnniveau hinzu. Das hat dazu geführt, dass neben der allgemeinen Tendenz einer geringer werdenden Geburtenhäufigkeit sich ganz bewusst weniger für ein Kind entschieden wird. Der Bericht erkennt klar, dass Kinder in der Gesellschaft viel zu sehr als Kosten- und Unsicherheitsfaktor verstanden werden. Doch gerade hier hat Politik Möglichkeiten, auf diese Entwicklung steuernd Einfluss zu nehmen.

(Beifall bei der Linkspartei.PDS)

Die Frage ist doch, meine Damen und Herren, weshalb beispielsweise in Frankreich die Geburtenrate deutlich höher ausfällt als in Deutschland. Eine Antwort, sicherlich nicht die einzige, ist, dass die staatlichen Rahmenbedingungen für Frauen und Familien in Frankreich qualitativ und quantitativ höherwertig ausgeprägt sind. Warum also sollten wir nicht das, was dort geschafft wird, auch hier in Deutschland ermöglichen? In Deutschland wird ein Kind oft als ein Risiko verstanden, nach dem Einstieg in das Berufsleben nicht mehr an die Karrierepfade anschließen zu können. Und es wird nicht zuletzt auch von Arbeitgeberseite so gesehen. Hier kann der Staat offenbar anknüpfen, um die Entscheidungsfreudigkeit für Kinder zu verbessern. Es müssen also die potenziellen Voraussetzungen geschaffen werden, dass Berufsleben und Familienleben stärker, als gegenwärtig gegeben, miteinander vereinbar sind. Es muss uns gelingen, sowohl die emotionalen als auch die fiskalischen Ängste bei den Menschen deutlich durch die Schaffung von entsprechenden familienfreundlichen Rahmenbedingungen zu verringern. Werden wir diese Anreize schaffen, werden sich Frauen und Familien auch für ihre Kinder entscheiden. Der Staat muss hier seiner Steuerungsfunktion gerecht werden. In diesem Zusammenhang - und das sage ich hier auch ganz deutlich - hat die Familienoffensive zur großen Verunsicherung von Frauen, Familien und Betreuungseinrichtungen beigetragen.

(Beifall bei der Linkspartei.PDS)