Protokoll der Sitzung vom 12.11.2004

(Beifall bei der CDU)

Es müssen in naher Zukunft weit reichende und auch einschneidende Entscheidungen im Bereich der sozialen Sicherung getroffen werden. In solchen Situationen ist es gerade Aufgabe des Parlaments, Entscheidungen zum Gesamtwohl zu treffen, auch wenn diese zunächst für Einzelne wenig komfortabel sind und Einschnitte bedeuten. Auch als Mittel gegen den Parteinverdruss - es wurde vorhin schon mal genannt - ist es ein falscher Weg; das Gegenteil dessen, was man sich erhofft, tritt ein. Es ist eine weitere Entwertung der Parteien, wenn - wie es die SPD und Grünen zum Beispiel in ihrem Gesetzentwurf vorschlagen - es von der Zustimmung des Parlaments abhängt, ob in außenpolitischen Fragen ein Referendum überhaupt stattfindet. Es liegt doch auf der Hand, dass dann dem Bürger der schwarze Peter zugeschoben wird, wenn es der Regierung sowieso bei bestimmten Entscheidungen schon mulmig wird. Dann soll der Bürger entscheiden, vorher will sich dann die Regierung vorbehalten, es nicht zu einem Referendum kommen zu lassen. Ein solches System entwertet in der Tat die parlamentarische Demokratie weiter.

(Beifall bei der CDU)

Im Übrigen ist der Gesetzesvorschlag ja ein alter Hut, den gibt es schon seit Jahren, den Sie jetzt wieder herausgezogen haben. Das ist wirklich nichts Neues. Und was für Plebiszite und auf Bundesebene gilt, das gilt auch auf länderbezogene EU-Referenden zum Verfassungsvertrag. Hier sind die Gefahren besonders groß und hier wären die Auswirkungen auch besonders dramatisch. Ein Referendum über den EUVerfassungsvertrag könnte dazu genutzt werden, Ressentiments gegen die europäische Integration oder auch gegen Ausländer zu schüren. Man muss auch die Gefahr sehen, dass eine Volksabstimmung oder ein Referendum mehr die Zufriedenheit oder die Unzufriedenheit mit der jeweiligen Regierungspolitik des Mitgliedslands zum Ausdruck bringt als die Zu

stimmung oder Ablehnung zu dem gestellten Verfassungsvertrag. Denken Sie nur an das Stichwort "Denkzettelwahl". Es gab Untersuchungen, wenn wir schon vorhin bei Emnid-Untersuchungen waren, zur gescheiterten Volksabstimmung Brandenburg-Berlin. Da sind die Untersuchungen zu solchen Ergebnissen gekommen. Gerade im Bereich der Außenund Europapolitik können und dürfen wir solche Risiken nicht eingehen. Wird denn bei einem solchen Referendum über den Verfassungsvertrag wirklich über die Verfassung entschieden oder entscheidet der Bürger bei einem solchen Referendum vielleicht eher über die Frage, ob er die EU gut oder schlecht findet? Diese Frage muss man sich einmal stellen, auch im Hinblick auf den Umfang des Verfassungsvertrags von ungefähr 300 Seiten und seinem komplizierten, vorhin angesprochenen Inhalt.

Zu guter Letzt will ich natürlich noch den Bundesaußenminister Joschka Fischer, wie er in der "Frankfurter Rundschau" vom 29. Oktober dieses Jahres zitiert wird, auch hier zitieren, mit Ihrer Erlaubnis, Frau Präsidentin: "Wo wären wir, wenn es jeweils eine Volksabstimmung gegeben hätte. Berlin wäre nie Hauptstadt geworden, wenn per Referendum entschieden worden wäre, und den Euro gäbe es bis heute nicht." Ich glaube, er hat mit dieser Meinung Recht. Ich meine, die Legitimation des Verfassungsvertrags ergibt sich aus den Verhandlungen zwischen den Staatsund Regierungschefs und den nachfolgenden Ratifizierungen durch die nationalen Parlamente. Eines zusätzlichen, nach Nationen aufgespalteten Referendums bedarf es aus unserer Sicht nicht. Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU)

Das Wort hat der Abgeordnete Matschie.

Frau Präsidentin, liebe Kolleginnen und Kollegen, Herr Scherer, Sie haben natürlich Recht, man kann unterschiedlicher Auffassung zu dieser Frage sein. In der Union gibt es offensichtlich unterschiedliche Auffassungen, wenn ich Ihren Vortrag und den von Frau Lieberknecht gehört habe. Ich will an dieser Stelle noch mal sagen, bei all den Problemen, die Sie hier an die Wand gemalt haben: Es gibt eine ganze Reihe von Staaten, die der EU angehören, in denen das Volk über diesen Verfassungsvertrag abstimmt.

(Beifall bei der PDS)

Wenn man Ihren Worten Glauben schenkt, dann kann das nur in die Katastrophe führen. Ich bin nicht dieser Überzeugung. Ich glaube, dass wir gerade durch eine öffentliche Auseinandersetzung über diese

Europäische Verfassung, gerade durch die öffentliche Auseinandersetzung die Zustimmung zu Europa verbessern können, das Verständnis für Europa verbessern können,

(Beifall bei der SPD)

auch das Verständnis darüber, wie europäische Institutionen funktionieren, verbessern können.

Abgeordneter Matschie, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Kollege Matschie, wenn Sie so vehement für Volksentscheide über die Europäische Verfassung eintreten, sind Sie da auch so konsequent und würden über die Frage "Beitritt der Türkei zur EU" auch ein Referendum befürworten?

Herr Kollege, ich habe auch mit dieser Frage kein Problem. Mein Anliegen ist, dass wir uns zunächst mal darüber verständigen, dass wir Volksentscheide in der bundesdeutschen Verfassung möglich machen.

(Beifall bei der PDS, SPD)

Dann muss die Frage diskutiert werden: Wie wird genau abgegrenzt? Denn es ist ja in jeder Regelung über Volksentscheide so, dass es Fragen gibt, die Volksentscheiden zugänglich sind, und es Fragen gibt, die Volksentscheiden nicht zugänglich sind. Eine solche Frage müsste nach meiner Überzeugung auch einem Volksentscheid zugänglich sein, so, wie das in anderen europäischen Staaten auch der Fall ist. Ich habe an dieser Stelle also kein Problem.

Ich will an dieser Stelle noch mal deutlich sagen: Wir haben uns als SPD nicht erst jetzt für die Verankerung von Volksentscheiden im Grundgesetz eingesetzt, sondern Sie werden sich erinnern, dass wir natürlich nach der Wiedervereinigung eine Debatte im Deutschen Bundestag darüber hatten, wie das Grundgesetz geändert werden muss. Es gab eine Verfassungskommission, die da gearbeitet hat. Wir haben als SPD damals diese Überlegungen eingebracht, eben gerade auch als ostdeutsche Erfahrung, weil wir gesagt haben, wir müssen den Menschen selbst mehr politische Entscheidungen zutrauen. Es

ist auch damals an der Union gescheitert, dass es Plebiszite im Grundgesetz gibt.

Ich will an dieser Stelle aber auch noch mal deutlich in Richtung PDS sagen: Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir über die Rede abstimmen müssten, die Sie hier gehalten haben, Frau Naumann, dann könnte ich meiner Fraktion hier keine Zustimmung empfehlen. Wir stimmen aber ab über einen Antrag, der Antrag fordert aus meiner Sicht etwas Vernünftiges, nämlich Plebiszite im Grundgesetz zu verankern und über den Europäischen Verfassungsvertrag einen Volksentscheid in Deutschland möglich zu machen. Wir als SPD wollen das und stimmen deshalb diesem Antrag zu.

(Beifall bei der PDS, SPD)

Mir liegen jetzt keine weiteren Wortmeldungen vor. Bitte, Herr Abgeordneter.

Verehrte Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, Herr Staatssekretär Scherer, ich muss sagen, Sie haben hier namens der Landesregierung eine Position vorgetragen, die offensichtlich nicht unseren Antrag zum Inhalt hatte, sondern das Risiko Bürger in diesem Land.

(Beifall bei der PDS)

Ich bin doch schon sehr erstaunt über Ihren Vortrag hier in diesem Haus. Herr Scherer, wenn Sie offensichtlich mit Blick auf die Bundesregierung und die SPD anmahnen, dass man sozusagen je nach Stimmungslage dort Volksbegehren wünsche oder nicht wünsche, da muss ich Ihnen aber sagen, Sie haben das genau vorgeführt, dass das Ihre Auffassung ist. Sie wollen, wenn es um komplizierte Fragen geht, wie z.B. die sozialen, wirtschaftlichen Veränderungen in diesem Land, so habe ich Sie verstanden, doch offensichtlich gerade nicht die Diskussion mit den Bürgerinnen und Bürgern in Dingen, die sie unmittelbar in ihrem täglichen Leben betreffen. Das wollen Sie einschränken allein auf die Debatte im parlamentarischen Raum.

(Beifall bei der PDS)

Und was uns betrifft, meine Damen und Herren, wir haben niemals einen Zweifel daran gelassen, dass wir auch nur in irgendeiner Weise repräsentative Demokratie einschränken möchten. Wer uns das unterstellt, der liest dann allerdings und hört uns allerdings wirklich nicht richtig zu. Ich will aber eines deutlich sagen: Es gibt nicht nur in Deutschland - Kolle

ge Matschie hat auf andere europäische Länder verwiesen -, es gibt auch im Überseemaßstab viele Erkenntnisse, die sagen, die repräsentative Demokratie wird dann gestärkt, wenn die plebiszitären Elemente im Land und in der Bevölkerung gestärkt werden.

(Beifall bei der PDS, SPD)

Nur so, meine Damen und Herren, wächst nämlich das Zutrauen in die Politik von Parteien. Ich muss konstatieren, dass schon ein Großteil der Politikverdrossenheit in diesem Land damit zusammenhängt, dass etablierte Parteien vor allen Dingen dann, wenn sie regieren, meine Damen und Herren, offensichtlich Entscheidungen treffen, die sie weitestgehend nicht mit der Öffentlichkeit beraten wollen, die sie oft auch sozusagen intern - und ich muss es Ihnen auch sagen, meine Damen und Herren von der CDU-Fraktion - ein Stück weit auch mit einer gewissen Arroganz der Macht treffen,

(Unruhe bei der CDU)

(Beifall bei der PDS, SPD)

denn Sie haben natürlich die Mehrheit in diesem Haus. Und die Wähler in diesem Land haben Ihnen diese Mehrheit zugebilligt, weil sie von Ihrer Politik die richtigen Inhalte für das Land erwarten.

(Unruhe bei der CDU)

(Zwischenruf Abg. Groß, CDU: Genau!)

Darüber kann man natürlich streiten. Wir sind anderer Auffassung. Aber vergessen Sie doch bitte nicht darüber, dass außer der Mehrheitsentscheidung auch noch eine ganze Reihe Thüringerinnen und Thüringer andere Personen in diesen Landtag gewählt haben, bei denen sie der Auffassung sind, dass sie an der politischen Meinungsbildung mitwirken sollen.

(Beifall bei der PDS)

Dazu gehört dann auch, dass man dieser Fraktion und dieser Position entsprechend demokratischer Gepflogenheiten der Bundesrepublik die Mitarbeit in allen Gremien dieses Landtags gestattet und sie nicht blockiert und verwehrt, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der PDS)

Insofern hätten wir über den Antrag durchaus hinausgehend immer weiter eine Debatte über demokratische Positionen hier zu führen. Ich hoffe, Sie können das in Ihrer Diskussion berücksichtigen. Danke.

(Beifall bei der PDS)

Ich beende die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt. Es liegt kein Antrag zur Ausschussüberweisung vor, deshalb werden wir unmittelbar über den Antrag der PDS in Drucksache 4/269 abstimmen. Wer für diesen Antrag ist, den bitte ich um das Handzeichen. Danke. Wer enthält sich der Stimme? Wer ist gegen diesen Antrag? Danke. Wir haben gezählt: Es sind 41 zu 38 - damit ist der Antrag abgelehnt.

Wir kommen zum Aufruf des nächsten Tagesordnungspunkts, das ist der Tagesordnungspunkt 11

Ärztliche Versorgung der Thüringer Bürger im ambulanten Bereich Antrag der Fraktion der PDS - Drucksache 4/270

Frau Abgeordnete Jung gibt für die PDS eine Begründung. Bitte.

Sehr geehrte Frau Präsidentin, sehr geehrte Damen und Herren, liebe Gäste, eines der wichtigsten Ziele der Gesetzlichen Krankenversicherung ist die Sicherstellung einer flächendeckenden Versorgung auf dem Gebiet der ambulanten vertragsärztlichen Tätigkeit. Dieses Ziel wird aufgrund der immer älter werdenden Bevölkerung, insbesondere der Hausärzte, aber auch in Teilbereichen der gebietsärztlichen Versorgung in naher Zukunft nicht erfüllt werden, wenn nicht umgehend mit wirkungsvollen Maßnahmen gegengesteuert wird. Verschärfend wirkt auf die Situation die Unterfinanzierung vertragsärztlicher Tätigkeiten in den neuen Bundesländern und so auch in Thüringen. Der Ärztemangel ist seit mehr als zwei Jahren in Thüringen bekannt.

Im Bericht über Maßnahmen der Landesregierung wird diese Situation als Herausforderung für die Gesundheitspolitik beschrieben. Danach hat sich das Thüringer Ministerium für Soziales, Familie und Gesundheit dieses gesamtgesellschaftlichen Problems mit allen Verantwortlichen angenommen. Ich zitiere mit Ihrer Genehmigung aus dem Bericht "Gesundheit in Thüringen": "Neben einer besseren Honorierung der ärztlichen Tätigkeit und einer gezielten Landesförderung für eine Praxisübernahme soll besonders für die hausärztliche Versorgung die geplante Einrichtung eines Lehrstuhls für Allgemeinmedizin an der Friedrich-Schiller-Universität Jena mithelfen, dem Mangel an Hausärzten entgegenzuwirken." Neben diesen offensichtlichen Wahlversprechen und der gegenwärtig unveränderten bzw. sich noch verschärfenden Situation klafft ein Widerspruch. Deshalb fordern wir die Landesregierung auf, einen Bericht zur

ärztlichen Versorgung der Thüringer Bürger im ambulanten Bereich im Parlament zu geben.