Frau Präsidentin, werte Kolleginnen und Kollegen! Herr Zeh, wenn ich Ihre Rede zusammenfassen müsste, dann würde das ungefähr so aussehen: Im Grunde genommen ist alles gut, eigentlich müssen wir nichts tun, alles ist geregelt.
(Zwischenruf Dr. Zeh, Minister für Sozia- les, Familie und Gesundheit: Das habe ich nicht gesagt, nein, nein, nein.)
(Zwischenruf Dr. Zeh, Minister für Sozia- les, Familie und Gesundheit: Ich habe ausdrücklich gesagt, dass Handlungsbe- darf besteht!)
Und da sage ich Ihnen noch mal ganz deutlich, das ist die Politik des Abwartens, die diese Landesregierung kennzeichnet - abwarten, Augen verschließen vor den aktuellen Entwicklungen, Augen verschließen vor kritischen Situationen.
Wir haben das in vielen anderen Beispielen erlebt. Ich nenne nur ein Beispiel, was hier auch immer heiß diskutiert worden ist, die Notwendigkeit einer Gebietsreform. Jahrelang wurde von diesem Pult verkündet, wir brauchen die nicht, wir brauchen die nicht, wir brauchen die nicht. Letztes Wochenende durfte das erstaunte Publikum zur Kenntnis nehmen, oh, auch die CDU hat endlich begriffen, wir brauchen eine Gebietsreform.
(Zwischenruf Dr. Zeh, Minister für Sozia- les, Familie und Gesundheit: Die Kinder- armut bekämpfen wir aber damit nicht, Herr Matschie.)
Das ist Ihre Politik des Abwartens, des Hinhaltens, des Taktierens, so lange, bis es irgendwann gar nicht mehr anders geht. Wir wollen aber eine aktive Politik, die gestaltet, statt abzuwarten. Darauf kommt es an in Thüringen.
Dann bitte ich Sie auch einfach mal, die Zahlen zur Kenntnis zu nehmen. UNICEF hat eine Studie vorgelegt. Nach dieser Studie gelten 20 Prozent der Kinder und Jugendlichen bis 18 Jahre als arm. Das sind Zahlen von 2002. Wer es ein bisschen aktueller möchte, der kann auf die Forschung der FriedrichSchiller-Universität zurückgreifen. Prof. Merten hat dazu Untersuchungen gemacht und Zahlen veröffent
licht. Nach diesen Zahlen sind aktuell rund 60.000 Kinder unter 15 Jahren in Thüringen von Sozialgeld abhängig. Das heißt, ein Viertel aller Kinder sind von Sozialgeld abhängig, müssen mit diesem finanziellen Niveau auskommen.
Natürlich ist Armut ein Begriff, der immer auf das Umfeld bezogen ist. Das ist doch gar keine Frage, das ist eine Binsenweisheit. Natürlich ist Armut in Deutschland nicht, dass fünf- oder sechsjährige Kinder Steine schleppen für eine Hand voll Reis. Trotzdem gibt es Armut in diesem Land. Es gibt auch Kriterien, die zu beschreiben. Das Finanzniveau, auf dem sich ein Viertel der Kinder in Thüringen bewegen müssen, das gilt nach gemeinsamen europäischen Kriterien als strenge Armut. Das sind 40 Prozent des Durchschnittseinkommens, das gilt als strenge Armut. Diese Situation, Herr Panse, kann man nicht einfach wegdefinieren, indem man sagt, das ist doch alles relativ und es ist doch gar nicht so schlimm und woanders auf der Welt sind die Kinder noch viel ärmer. Natürlich gibt es woanders auf der Welt Kinder, die ärmer sind.
Natürlich gibt es Kinder auf der Welt, die ärmer sind als Kinder in Deutschland, das bestreitet überhaupt niemand. Das hilft aber den Kindern hier nicht, die unter schwierigen Bedingungen aufwachsen müssen.
Deshalb lohnt es sich, einfach einmal einen Blick in die Armutsforschung zu werfen. Ja, es lohnt sich, denn die beschreiben uns, was da passiert unter den Bedingungen von Armut in Deutschland, unter dem, was hier als Armut gilt. Die Ergebnisse sind doch eindeutig: Armut führt häufig zu schlechteren Bildungschancen. Das ist auch gerade eine Situation, mit der wir hier in Deutschland zu kämpfen haben. Kein anderes Industrieland hat einen so engen Zusammenhang von Bildungserfolg und sozialer Herkunft wie Deutschland, kein anderes Industrieland. Das heißt, Armut führt zu schlechteren Bildungschancen unter den ganz konkreten Bedingungen der Bundesrepublik Deutschland, auch hier in Thüringen. Es lässt sich nun einmal nicht wegdefinieren.
Armut führt auch häufig dazu, dass das Gesundheitsrisiko höher ist, weil es oftmals falsche oder schlechte Ernährung gibt. Auch das ist ein Zusammenhang, der sehr gut belegt ist in der Armutsforschung. Armut führt häufig auch dazu, dass es soziale Ausgrenzung gibt, dass Kinder aus armen Familien nicht so integriert sind sozial, dass sie mit den verschiedensten Schwierigkeiten zu kämpfen haben, was auch damit zu tun hat, dass sich Armut oft ver
steckt. Deshalb sage ich Ihnen, wer mit offenen Augen durch das Land geht, der findet viele Beispiele dafür, der kann erleben, wenn er im Kindergarten ist, dass die Kindergärtnerin sagt, da sind Kinder, die kommen ohne Frühstück in den Kindergarten. Bei manchen sind wir froh, wenn das Wochenende herum ist, dass wir die wieder bei uns haben, weil wir Sorge um die Kinder haben, um ihre Ernährung, um die Betreuung solcher Kinder. Das alles gibt es und das lässt sich nicht wegdefinieren.
Herr Matschie, würden Sie mir beipflichten, wenn Sie tatsächlich solche Fälle kennen, dass es Ihre Aufgabe wäre, das Jugendamt zu informieren, und dieses Jugendamt da handelnd eingreifen müsste?
Die Aufgabe liegt hier ganz klar bei den Kindergärten, die Sorge dafür zu tragen haben, dass es ein Auge gibt auf das Kindeswohl und da, wo so etwas auftaucht, weiß ich, dass Kindergärtnerinnen und Kindergärtner verantwortlich mit dieser Situation umgehen und da, wo das notwendig ist, auch das Jugendamt einschalten, Herr Panse.
Wer mit offenen Augen durch das Land geht, der sieht auch, beispielsweise in Schulen, dass es Kinder gibt, die sich verschämt verdrücken beim Mittagessen, weil ihre Eltern kein Essengeld bezahlen oder bezahlen können. Der sieht auch, dass es Begabungen gibt, die nicht gefördert werden können, dass Kinder nicht zur Musikschule gehen können, obwohl sie vielleicht musikalisch begabt sind, weil die Eltern nicht über ein entsprechendes Einkommen verfügen. Der kennt Kinder, die sich nicht den Sportverein leisten können. Das alles gibt es und das hat ganz konkrete Auswirkungen auf die Entwicklung von Kindern.
Ich sage noch einmal, Armut versteckt sich oft, aber sie wirft einen Schatten auf die ganze Gesellschaft,
und zwar umso stärker, je größer das Ausmaß ist. Wir reden hier über Zahlen, bei denen es nicht einfach mehr um Randerscheinungen der Gesellschaft geht. Wenn 25 Prozent der Kinder in einer solchen Situation leben mit verminderten Bildungschancen, mit erhöhten Gesundheitsrisiken, mit höheren Risiken der sozialen Integration, dann muss uns das beschäftigen und dann müssen wir fragen, ob wir auch Antworten darauf haben über das hinaus, was wir bisher tun. Kein Mensch behauptet, dass nichts getan wird. Das ist hier auch noch einmal deutlich angesprochen worden. Aber ich sage auch, wir müssen weiter darüber nachdenken, was wir zusätzlich tun können. Das ist eben nicht, den Eltern die Verantwortung abzunehmen, und da geht es nicht um den bevormundenden Sozialstaat, sondern da geht es um kluge Vorsorge bei dieser Frage. Ihre Argumentation ist ja ganz eigentümlich, sowohl die von Ihnen, Herr Zeh, als auch von Ihnen, Herr Panse, die ist ja völlig widersprüchlich. Warum ist es denn ein bevormundender Sozialstaat, wenn ich sage, ich biete den Kindern ein kostenloses Essen an, und kein bevormundender Sozialstaat, wenn ich sage, die Lernmittel sind frei. Wo ist denn da der prinzipielle Unterschied? Natürlich sagen wir, wir wollen Lernmittelfreiheit, um allen gleiche Chancen zu garantieren. Aber mit dem gleichen Recht kann ich doch sagen, es ist sinnvoll, Mittagessen zur Verfügung zu stellen, damit Kinder gesund und ausreichend ernährt sind. Das ist doch kein prinzipieller Unterschied.
Da muss man doch hier nicht eine Ideologiedebatte daraus machen, dass der eine die Vorsoge meint und der andere die Bevormundung meint. So kommen wir, glaube ich, nicht weiter. Dann will ich ganz deutlich sagen, ich sehe schon eine Reihe von Fehlentscheidungen dieser Landesregierung. Es war eine Fehlentscheidung der Landesregierung, den Zuschuss für das Essengeld zu streichen.
Es war eine Fehlentscheidung der Landesregierung im Zusammenhang mit der Familienoffensive, ausgerechnet die gering verdienenden Eltern schlechterzustellen.
Die haben vorher das Landeselterngeld bekommen und konnten davon beispielsweise Beiträge bezahlen oder das Geld fürs Kind einsetzen. Heute müssen die gleichen Eltern, die das Geld bekommen, dieses Geld an den Kindergarten geben, wenn das Kind in den Kindergarten geht. Gerade die schlechter verdienenden Eltern sind durch Ihre Familienpolitik noch einmal benachteiligt worden.
Eine ähnliche Fehlentscheidung ist es, gegen das Elternvolksbegehren vor Gericht zu Felde zu ziehen. Warum setzen wir uns nicht inhaltlich mit diesen Forderungen auseinander? Wir verlieren durch diese Gerichtsverfahren nur Zeit, die wir eigentlich dringend brauchen, das Angebot weiterzuentwickeln und besser zu machen. Der Bund unterstützt doch sogar den Ausbau von Kinderkrippen und Kindergärten. Es ist vereinbart worden, eine gemeinsame Anstrengung von Bund, Ländern und Kommunen hier auf den Weg zu bringen, um sowohl das quantitative Angebot als auch die Qualität verbessern zu können. Dahinein lohnt es sich, Energie zu stecken und nicht gegen das Elternvolksbegehren zu Felde zu ziehen.
Ich will hier noch mal deutlich sagen, was wir wollen. Natürlich kommt es darauf an, die Einkommenssituation von Eltern zu verbessern - das ist immer die erste und beste Vorsorge - auch damit es Kindern gut gehen kann und Kinder nicht in Armut aufwachsen müssen. Niemand bestreitet das, aber auch da ergeben sich deutliche Widersprüche.
Wir haben die Debatte zum Mindestlohn gehabt hier in diesem Haus. Die Festlegung von Mindestlöhnen und damit auch die Garantie eines bestimmten Einkommens, wenn Menschen Vollzeit arbeiten, die gehört eben auch genau in diesen Bereich der Armutsbekämpfung hinein. Es kommt ja nicht von ungefähr, dass außer Zypern und Deutschland in allen europäischen Staaten Mindestlohnregelungen existieren, weil eben in diesen Ländern die Überzeugung vorherrscht, dass menschliche Arbeit einen Wert hat, den man nicht beliebig drücken kann und dass der Arbeitsmarkt nicht irgendein Markt ist, auf dem das Motto „saubillig“ besonders gut wäre, sondern hier geht es darum, dass Menschen von dieser Arbeit leben müssen, dass Kinder davon ernährt werden müssen, dass Kinder in dieser Gesellschaft vernünftig aufwachsen können. Deshalb kann ich Sie nur noch mal ersuchen, stellen Sie sich in dieser Frage nicht weiter stur; Familieneinkommen kann verbessert werden über Mindestlöhne.
Wir wissen auch, dass wir nicht so schnell die Einkommenssituation aller Familien verbessern können. Auch dann wird es immer noch Familien geben, die in Armut leben müssen, Kinder, die in Armut aufwachsen. Auch dann müssen wir weiter fragen, was können wir denn tun, was den Kindern direkt zugute kommt? Wie können wir sie unmittelbar fördern, ihnen unmittelbar helfen? Da schlagen wir vor, darüber nachzudenken, ein kostenloses, gesundes, warmes
Mittagessen in Kindergärten und Schulen zur Verfügung zu stellen. Das ist eine Leistung, die Kindern unmittelbar zugute kommt, die ihre Situation verbessern kann, die dazu beiträgt, dass wir nicht mehr Situationen haben, die wir immer wieder geschildert kriegen, dass Kinder eben nicht am Mittagessen teilnehmen können, weil das Essengeld nicht bezahlt wird und Kinder damit ausgegrenzt werden.
Wir sagen auch, wir wollen, dass Lernmittelfreiheit möglichst umfassend definiert wird. Es ist ja gut, dass die Gerichte Sie gestoppt haben bei Ihrem Versuch, die Lernmittelfreiheit abzuschaffen in Thüringen, sonst hätten wir längst eine deutlich schwierigere Situation für viele Familien.
Wir wissen auch - und jeder, der Kinder in der Schule hat, weiß das -, es geht ja nicht nur um die Schulbücher, es kommen ja noch viele andere Ausgaben dazu. Da gibt es hier 10 € Kopiergeld und dort 8 € für Werkmaterial, es bleibt ja nicht allein beim Büchergeld. Deshalb sagen wir: Lassen Sie uns das anschauen! Was kann man tun, um Lernmittelfreiheit umfassend für Kinder zu garantieren und damit einen weiteren Schritt zu mehr Chancengleichheit zu tun? Das hat doch nichts mit Bevormundung der Eltern zu tun, sondern damit, dass wir insbesondere einkommensschwache Eltern finanziell entlasten. Die haben doch nach wie vor die Verantwortung für ihre Kinder.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, unsere Überlegungen gehen auch über das hinaus, was in dem Antrag jetzt schon aufgeschrieben ist. Natürlich würden wir auch mit Ihnen gemeinsam gern darüber nachdenken: Was kann man tun, auch um Begabungen besser zu fördern, gerade bei Kindern aus einkommensschwachen Familien, wo das Geld vielleicht nicht reicht, um eine musikalische oder sportliche Begabung zu fördern? Natürlich wird man sich auch, wenn über die Regelsätze im Arbeitslosengeld II jetzt diskutiert wird und die Überprüfung läuft, genau die Regelsätze für die Kinder anschauen müssen. Ist das ausreichend, was in diesen Regelsätzen definiert ist oder müssen wir an dieser Stelle handeln? Auch die Frage der anlassbezogenen Förderung würde ich gern wieder aufgreifen. Es gab eine Entscheidung, diese früher anlassbezogene Förderung in die Regelsätze zu integrieren, weil man gesagt hat, wir geben den Betroffenen damit mehr Autonomie, eigene Entscheidungen zu treffen. Aber wir sehen auch an der praktischen Erfahrung, dass es bei so geringen Haushaltseinkommen oft gar nicht gelingen kann, Vorsorge für besondere Situationen zu treffen. Deshalb bin ich dafür, dass wir darüber
Das ist das, was ich unter „vorsorgender Sozialstaat“ verstehe, die Situation erkennen, in der sich viele Kinder befinden, sehen, welche Nachteile das bedeutet für jedes einzelne betroffene Kind. Manchmal läuft einem ja eine Gänsehaut über den Rücken, wenn man solche konkreten Fälle sieht. Aber wir müssen auch begreifen, was es für eine Gesellschaft bedeutet. Wir laufen Gefahr, einen Teil einer ganzen Generation zu verlieren, wenn wir bei Kinderarmut nicht stärker gegensteuern. Deshalb brauchen wir einen aktiven und aktivierenden Sozialstaat. Und ich sage Ihnen auch noch dazu: Das ist allemal besser, als das Abspeisen mit einem Bürgergeld. Das Bürgergeld ist nur „ruhigstellen“.
Hier kriegst du eine Minimalleistung, mit der du dich an der Grenze irgendwie noch halten kannst und das war es. Es gibt keinen aktiven Staat, der eingreift, der gezielt fördert, der Chancen vermittelt. Der ist bei dem Bürgergeldkonzept nicht mehr vorgesehen. Deshalb sagen wir: Wir lehnen ein solches Konzept ab. Wir wollen lieber einen aktiven Sozialstaat, der Vorsorge betreibt, der konkret eingreift, der Hilfe gibt. Sie haben es doch selber gesagt: Armut ist nicht nur eine Frage von wenig Geld; Armut hat viele Dimensionen und an all diesen Dimensionen muss ein vorsorgender Sozialstaat versuchen anzupacken. Nur eine Geldleistung allein ist zu wenig.