Wir haben ganz aktuell ein erstaunliches Dokument vor wenigen Tagen in die Hand gedrückt bekommen, alle Fraktionen, die Landesregierung auch. Darüber steht „Gemeinsames soziales Wort“. Ich weiß nicht, Herr Müller, ob Sie das wahrgenommen haben. Eine ganz erstaunliche Leistung, wo sich Organisationen vom DGB über den Sport, die Feuerwehr, Arbeiterwohlfahrt, Arbeitersamariterbund bis hin zu Caritas und Diakonie ja bis hin zum Trachtenbund zusammengetan haben, ein gemeinsames soziales Wort verabschiedet haben, den politisch Verantwortlichen in die Hand gedrückt haben vor wenigen Tagen, mit ganz konkreten Erwartungen und Forderungen auch und gerade an die Bildungspolitik und Sie sagen in zwei Stunden nicht einen einzigen Ton dazu. Wie ignorant ist eigentlich diese Landesregierung?
Sie kennen die Zahlen, dass in den nächsten 10 Jahren 40 Prozent der Lehrer in den Ruhestand gehen - 40 Prozent der Lehrerschaft in 10 Jahren -, im Durchschnitt über die 10 Jahre knapp 900 Lehrer jedes Jahr. Sie haben uns hier erzählt, Sie stellen 35 Lehrer neu ein in diesem Jahr und vielleicht, wenn alles gut geht, im nächsten Jahr 100. Herr Müller, da ist doch keine Perspektive drin. Wie wollen Sie denn die Lücke schließen, die sich in einigen Jahren dramatisch auftut. Sie können doch nicht erst in dem Moment anfangen, wo jedes Jahr über 1.000 Lehrer in den Ruhestand gehen, sich um dieses Problem zu kümmern. Da muss doch in einer Regierungserklärung mal eine Antwort kommen, wie Sie sich das vorstellen in den nächsten Jahren. Mit 100 Lehrern, die eingestellt werden, können Sie dieses Problem auf gar keinen Fall lösen. Das ist Kopf in den Sand und Augen zu.
Ich finde das - ich muss Ihnen ehrlich sagen - unverantwortlich, wie Sie mit der Situation an den Schulen umgehen.
Oder eine andere Zahl, die seit Langem bekannt ist. Wir laufen in den nächsten Jahren in eine Halbierung der Abiturientenzahl, eine Halbierung derjenigen, die mit Abitur die Schule verlassen. Das hat Auswirkungen auf die Hochschulen, auf unser Wissenschafts- und Forschungssystem, das hat Auswirkungen auf die Wirtschaft. Von Ihnen dazu kein Ton in einer zweistündigen Regierungserklärung. Wie wollen Sie eigentlich mit dieser Situation um
gehen? Wie wollen Sie damit fertig werden? Welche Gegenstrategien hat die Landesregierung? Viele brennende Themen, die in diesem Land diskutiert werden, aber ganz offensichtlich die Landesregierung überhaupt nicht berühren, wenn in einer zweistündigen Erklärung kein Platz dafür ist. Herr Minister, ich habe gesagt, Sie haben sich da im Unterholz verloren. Sie haben manches Richtige in Ihrer Regierungserklärung gesagt, aber auch viel Widersprüchliches. Ich will einiges von dem Widersprüchlichen mal aufgreifen. Ich meine, der schönste Widerspruch war ja am Anfang, als Sie gesagt haben, Sie haben ein wohlgeordnetes Ressort übernommen. Das war wahrscheinlich auch der Grund, weshalb Ihr Vorgänger gehen musste, weil er alles so wohlgeordnet hat.
Was dann jetzt Ihre Aufgabe ist, wenn alles so wohlgeordnet ist, das ist mir auch nicht ganz klar geworden, aber das ist Ihr Problem.
Herr Minister, Sie haben nicht nur einmal in Ihrer Rede die Reformpädagogik gelobt. Sie haben die Traditionen der Jenaplan-Schule herausgestellt, das finde ich gut. Aber da, wo es dann in der eigenen Bildungspolitik konkrete Konsequenzen haben muss, da tauchen dann mit einem Mal solche Sätze auf wie - ich darf Sie da zitieren: „erzwungenes gemeinsames Lernen in der Einheitsschule, ist kein Modell für die Zukunft“. Nun ist aber gerade die Jenaplan-Schule eine Reformschule, in der Kinder gemeinsam lernen, und zwar nicht nur bis zur 4. Klasse, sondern bis zum jeweiligen Schulabschluss gemeinsam lernen. Das ist ein Kernelement dieses reformpädagogischen Konzepts.
Sie können doch nicht auf der einen Seite diese Reformpädagogik in hohen Tönen loben und auf der anderen Seite, wo es um Ihre konkrete Politik geht, das Gegenteil tun.
Herr Müller, das ist wenig glaubwürdig. Herr Emde, Sie können sich gleich zu Wort melden, wenn Sie dazu etwas sagen möchten. Ich finde es jedenfalls äußerst widersprüchlich, wie Sie hier vorgegangen sind, Herr Minister, das hat weder Hand noch Fuß.
Ich will einen anderen Widerspruch deutlich machen. Sie haben zutreffend und richtig beschrieben auch mit schönen Zitaten, wie wichtig die erste Lebensphase ist und wie wichtig es ist, in dieser ersten Lebensphase ein möglichst gutes Bildungs- und
Entwicklungsangebot für Kinder zu machen. Das ist dann wahrscheinlich der Grund gewesen für die Landesregierung, weil das so wichtig ist, bei den Kindergärten die Mittel zu kürzen. Wie soll ich denn das verstehen? Wenn das so wichtig ist, dann muss es doch für Sie Konsequenzen in der Politik haben. Dann muss das doch heißen, ich investiere mehr in diesen wichtigen Bereich. Dann kann das doch nicht heißen, die Landesregierung kürzt die Mittel, mal sehen, wie die anderen damit zurechtkommen. Auch diesen Widerspruch haben Sie heute nicht auflösen können.
Sie haben Ihren Bildungsplan erwähnt, und ich will durchaus sagen, ich glaube, da ist etwas Gutes gelungen mit diesem Bildungsplan. Ich habe jedenfalls eine ganze Menge Lob darüber gehört, da, wo er vor Ort auch ausprobiert worden ist und wo er in der Debatte war. Aber so ein Bildungsplan muss auch in der Praxis umgesetzt werden können. Ich habe ja gehört, als Sie den vorgetragen haben vor zweieinhalbtausend Erzieherinnen, dass da nicht sehr viel Beifall aufkam. Das hat vor allem mit einem zu tun, weil Sie die Kindergärten jetzt alleinlassen. Zur Umsetzung dieses Bildungsplanes gehört nämlich auch die personelle und finanzielle Untersetzung, nicht nur ihnen einen schönen Plan in die Hand zu drücken, sondern auch die Leute in die Lage zu versetzen, mit diesem Plan am Ende etwas anzufangen.
Herr Minister Müller, mein Anspruch an eine Regierungserklärung ist, dass die Regierung den aktuellen Zustand beschreibt, auch die Probleme, bei denen es brennt. Mein Anspruch ist, dass eine Regierungserklärung abklärt, wo ist Reformbedarf, welche Erwartungen gibt es an die Politik und dass Sie die anstehenden Entscheidungen erklärt. Davon war heute in den zwei Stunden sehr wenig zu hören. Deshalb will ich noch einmal selbst einige Punkte hier deutlich machen, wo ich sage: Wo liegen eigentlich die Herausforderungen für unser Bildungssystem, für unsere Kulturlandschaft, für Wissenschaft und Forschung in Thüringen?
Die erste Herausforderung liegt nach meiner Überzeugung darin, dass die Ergebnisse unseres Bildungssystems trotz aller Anstrengungen der letzten Jahre, die ich gar nicht kleinreden will, nicht befriedigend sein können. Es kann nicht befriedigend sein, wenn nach wie vor mehr als 7 Prozent aller Schüler die Schule ohne Abschluss verlassen. Das kann uns nicht befriedigen, das sind viel zu viele. Es kann uns nicht befriedigen, dass wir bei internationalen Vergleichen nur im Mittelfeld liegen. Wir müssen den Ehrgeiz haben, besser zu werden in diesem Bereich. Es kann uns überhaupt nicht befriedigen, dass es eine so hohe Abhängigkeit des Bildungser
folgs von der sozialen Herkunft gibt. Sie haben versucht, sich um das Problem ein bisschen drum herumzuschiffen, indem Sie eine Zahl herausgegriffen haben, die mathematischen Leistungen. Aber auch in Thüringen ist es nach wie vor so, dass ein Kind bei gleicher Bildungsleistung, wenn es aus armen Verhältnissen kommt, eine dreimal geringere Chance hat, ans Gymnasium zu kommen, als ein Kind aus gut situierter Familie. Das belegen die Studien. Das ist doch ein Punkt, über den man bildungspolitisch nicht einfach hinweggehen kann.
Vielleicht, wenn Sie mir das nicht abnehmen, Herr Emde, darf ich mal den Bundespräsidenten zitieren, der ja Ihrer Partei angehört. Er hat vor wenigen Tagen auf der Eröffnung des 47. Deutschen Historikertages in Dresden gesagt, ich darf ihn zitieren: „Wir dürfen uns nicht damit abfinden, dass die schulische Entwicklung eines Kindes immer noch maßgeblich und in den letzten Jahren sogar mit wachsender Tendenz von seiner Herkunft und dem Geldbeutel der Eltern bestimmt wird.“ Das sind die Herausforderungen, die im Moment in der gesamten Republik bildungspolitisch diskutiert werden. Wie gehen wir damit um? Wie schaffen wir es, diesen starken Zusammenhang bildungspolitisch aufzubrechen? Dazu war von Ihnen heute wenig zu hören.
Eine zweite Herausforderung, die frühe Entwicklungsphase von Kindern: Wie können wir frühe Förderung gut ausbauen? Und das ist, Herr Müller, ich muss es Ihnen noch einmal sagen, vor allem auch eine Frage, wie sieht es mit dem Personal in Kindertagesstätten aus?
Herr Matschie, geben Sie mir recht, dass wir, was die Abhängigkeit der sozialen Verhältnisse von der Bildungsbeteiligung angeht, in Deutschland die besten Ergebnisse bei allen Bundesländern erzielen?
Herr Emde, ich gebe Ihnen recht, dass wir bessere Ergebnisse in dieser Frage haben als viele andere Bundesländer.
Hören Sie doch einen Moment zu, Frau Groß. Am stärksten ist die Kluft in Bayern und in Baden-Württemberg in dieser Frage. Da ist die Chance, bei gleicher Leistung ans Gymnasium zu kommen, für ein Kind aus gut situiertem Hause sechsmal besser. Dort klafft die Lücke noch weiter auseinander. Trotzdem sage ich Ihnen, der Zustand in Thüringen kann uns doch nicht befriedigen, wenn bei gleicher Leistung das Chancenverhältnis auf einen höheren Bildungsweg 1 : 3 ist.
Damit können wir uns doch nicht einfach abfinden. Ich sage Ihnen noch etwas dazu, Herr Emde. Dieser Zusammenhang ist nicht geringer geworden in den letzten Jahren, sondern der hat sich auch in Thüringen verschärft. Deshalb müssen wir bildungspolitische Gegenstrategien dazu entwickeln.
Zurück zu den Kindertagesstätten und zur frühen Förderung: Wir haben dazu eine Untersuchung machen lassen, die noch mal zeigt, wie sich eigentlich der Personalschlüssel in den Kindertagesstätten darstellt, einmal für die 0- bis 3-Jährigen, einmal für die über 3-Jährigen. Da ist es so, bei den 0- bis 3-Jährigen liegt Thüringen etwa auf dem bundesdeutschen Durchschnitt mit 6,5 Kindern rechnerisch auf eine Erzieherin. Bei den über 3-Jährigen kommen auf eine Erzieherin bei uns 12 Kinder. Im Bundesdurchschnitt sind es 10. Nach Ihren gesetzlichen Vorgaben könnten es sogar 15 Kinder pro Erzieherin sein. Sie wissen auch, dass die europäischen Standards, die wir da diskutieren, deutlich
unter dem liegen, was wir im Moment an Personalschlüsseln haben. Deshalb muss es doch eine Erwartung an eine solche Regierungserklärung sein, dass Sie uns erklären, wie man zu einem vernünftigen Personalschlüssel in den Kindergärten kommt, wenn denn die frühkindliche Bildung so wichtig ist. Ich kann aus dem, was Sie hier vorgetragen haben, nur entnehmen, Ihnen ist das nicht wirklich wichtig, sonst würden Sie hier kräftiger investieren und für Personalaufstockung sorgen.
Ich will eine weitere Herausforderung nennen. Wir haben eine hervorragende Kulturlandschaft, die wir aber besser als bisher fördern und auch besser vermarkten müssen. Die Landesregierung hat bisher vor allem dazu beigetragen, dass der Ruf Thüringens als Kulturland ramponiert worden ist durch die Debatten, die wir in den letzten anderthalb Jahren dazu hatten.
Nein, nicht die Debatten, die wir geführt haben, sondern die Debatte, die Sie losgetreten haben. Herr Müller, Sie stellen sich heute hin und loben sich dafür, dass Sie 60 Mio. € für Theater und Orchester ausgeben. Sie haben kein Wort dazu gesagt, dass es diese Landesregierung war, die diese Summe eigentlich um 10 Mio. € nach unten drücken wollte,
und einen Streit vom Zaun gebrochen hat um die Kulturentwicklung in diesem Land, der massiven Vertrauensschaden angerichtet hat, und zwar nicht nur in Thüringen bei den Kulturinstitutionen, sondern der weit darüber hinaus dem Ruf Thüringens als Kulturland geschadet hat. Herr Minister, ich finde, dass man zu Recht sagt, Thüringen hat eine ganz besondere Kulturlandschaft und es gibt eigentlich kaum eine Region, die sich mit dieser Kulturdichte vergleichen lässt, das hat mit der geschichtlichen Entwicklung zu tun und wir haben ein so reiches Erbe, und dann, anstatt darauf einzugehen, welche besonderen Anstrengungen das notwendig macht, fangen Sie an, sich mit dem Durchschnitt in der Bundesrepublik Deutschland zu vergleichen. Das ist genauso, als wenn sich Schleswig-Holstein beim Deichbau und den Finanzierungsnotwendigkeiten mit dem Durchschnitt der Bundesländer vergleichen würde, Herr Müller.
es doch überhaupt keinen Sinn, sich mit dem Durchschnitt zu vergleichen, sondern dann macht es Sinn, Fragen zu stellen, wie gehe ich mit dieser besonderen Herausforderung um, welche besonderen Maßnahmen und politischen Strategien macht das notwendig. Die Kulturquote von 1,3 Prozent, die Sie genannt haben, das ist eben keine sichere Bank bei schwankenden Landeshaushalten und bei der Perspektive voraussichtlich zurückgehender Landeshaushalte. Denn Sie wissen so gut wie ich, dass die Zuschüsse aus dem Solidarpakt, aus dem Länderfinanzausgleich und aus den europäischen Strukturfonds zurückgehen in den nächsten Jahren und wir es wahrscheinlich mit sinkenden Haushalten zu tun haben. Also ist die Ankündigung, „wir halten 1,3 Prozent Kulturquote“, die Ankündigung, es gibt in Zukunft weniger Geld für die Kultur - das kann nicht Ihr Ernst sein, sage ich Ihnen da.