(Zwischenruf Dr. Voß, Finanzminister: Herr Ramelow, war ich an den 230 Mio. Schulden der Stadtwerke beteiligt?)
Herr Abgeordneter Ramelow, Sie haben das Wort und ich bitte die Ministerbank, die Zwischenrufe in dem Maß zu lassen. Sie können jederzeit einen Redebeitrag anmelden, wenn die Fraktionen die Aussprache durchgeführt haben.
Wir waren beim Thema kommunale Demokratie, weil es für mich ein Demokratiethema ist. Es ist ein wirtschaftspolitisches Thema, es ist ein Regionalentwicklungsthema und es ist ein demokratiepolitisches Thema. Dazu gehört auch ein Gesetzeswerk, das Ihre Regierung in Ihrer Amtszeit auf den Weg gebracht hat: Straßenausbaubeiträge. Sie haben gesagt, Sie hätten damit eine Beruhigung erfolgen lassen, es wäre eine Beruhigung durch Ihr Regierungshandeln erfolgt.
Ja, sagen Sie. Das Erstaunliche ist, ich darf es einfach mal erwähnen, die Frage der rückwirkenden Straßenausbaubeiträge hat das Verfassungsgericht am Beispiel von Bayern geklärt. Ich habe mal von früheren Landesregierungen gehört, dass man sich an Bayern orientieren soll, wie man erfolgreiche Landespolitik macht. Das sagten jedenfalls früher immer CDU-Vertreter, wenn es darum ging. Wenn wir dann konkrete Vorschläge aus Bayern hier einmal vorgelegt haben, nämlich Vergabegesetz, hat man gesagt, so viel Bayern wollen wir hier doch
nicht. Jetzt will ich mal auf Straßenausbaubeiträge gehen, weil das für mich auch demokratiepolitisches Thema ist. Das Verfassungsgericht hat entschieden, 12 Jahre rückwirkend Straßenausbaubeiträge zu erheben, sei verfassungswidrig. Was beschließt Ihre Landesregierung? 30 Jahre rückwirkend,
faktisch 30 Jahre rückwirkend, und erst im Jahr 2021 soll die zwölfjährige Frist gelten. Selbst die Abgabenordnung kennt ein vierjähriges Verfristungsgebot und das BGB, das Bürgerliche Gesetzbuch, kennt ein dreijähriges Verfristungsgebot. Nur wenn es titulierte Forderungen gibt, darf man 30 Jahre einen Titel einklagen. Hier gibt es überhaupt keine Titel. Hier ist noch gar nichts abgerechnet. Hier werden Gemeinden mit der Landesregierung, mit der Keule eines Landesgesetzes gezwungen, gegen die Bürger 240 Mio. € einzutreiben. Sie haben das so organisiert - und das, Herr Geibert, nehme ich Ihnen übel -, dass es erst nach der Landtagswahl vollzogen werden soll.
Sie haben es mit auf den Weg gebracht, dass die Anweisungen und Empfehlungen gekommen sind, diese drohende Schuld bei den Bürgern erst nach der Landtagswahl beizutreiben, weil dann könnte der Satz, den Sie hier so wohlfeil angeboten haben, nicht mehr ausgesprochen werden, dass Ruhe eingetreten wäre. Wie kann denn Ruhe eintreten, wenn Straßen, die im vorigen Jahrtausend gebaut worden sind, von den Bürgern jetzt bezahlt werden sollen? Die Gemeinden müssen es durchsetzen, die, von denen ich gerade sprach, dass sie keine Haushalte haben, dass sie in Haushaltsnotlage sind, dass sie sich nicht erlauben können, finanziell große Sprünge zu machen. Dann sagen die Bürger, es war unser Gemeinderat. Und der kann gar nichts dafür. Der wird gesetzlich gezwungen durch Ihr Handeln. Deswegen, liebe Frau Lieberknecht, Ruhe ist hier überhaupt nicht eingetreten.
Hier ist nur ein Etikett darüber geklebt worden, wie kommen wir unfallfrei über die Landtagswahl und wie schaffen wir es, dass die Bürger gar nicht merken, dass sie hinterher brutalst zur Kasse gebeten werden. Selbst der VDGN, der zuständige Fachverband, sagt, es gibt in Deutschland kein anderes Bundesland, das ein derartiges Gesetz erlassen hat.
(Zwischenruf Lieberknecht, Ministerpräsiden- tin: Die Bürger haben es doch gar nicht ge- merkt, aber Sie haben es gemerkt.)
Natürlich haben sie es nicht gemerkt. Ich lese Ihre Gesetze und ich verstehe sie sogar, im Gegensatz zu Ihnen. Ich verstehe sie.
Das habe ich ihnen schon gesagt. Ich würde trotzdem darum bitten, dass jetzt dem Abgeordneten Ramelow für die Fraktion DIE LINKE zugehört wird.
Einmal schreit er, ich sei ein Junge, dann sei ich ein Mann. Dann darf ich nicht ausreden. Es ist ein merkwürdiger Stil, den die CDU am Ende ihrer Amtszeit an den Tag legt. Offenkundig macht Sie die Angst davor, die Staatskanzlei zu verlassen, doch sehr nervös.
(Zwischenruf Abg. Kemmerich, FDP: Ich ha- be ein Geschäft, Herr Ramelow. Aber selbst dazu sind Sie nicht in der Lage.)
Frau Ministerpräsidentin, ich will das wirklich persönlich sagen. Sie haben ein Gesetz erlassen - und Sie sind die Chefin dieser Regierung -, da steht drin, dass 30 Jahre rückwirkend Straßenausbaubeiträge erhoben werden müssen. Sie müssen wissen, dass eine Aufbewahrungsfrist der Gemeinden nur für zehn Jahre existiert.
Was sagen Sie da, bitte? Das macht mich fassungslos. Also, wenn das die Haltung der Regierung ist, es ist egal, was wir für ein Gesetz machen, wir beschließen Gesetzesuntreue und sagen, wir preisen schon die Gesetzesuntreue ein. Was ist denn das, Frau Ministerpräsidentin? Da kann ich nur sagen, Sie haben fertig. Da muss man wirklich sagen, eine solche Grundhaltung gegenüber den Bürgern ist so unerträglich, dass man Gesetze schafft, bei denen man sagt, die Unterlagen zu den Gesetzen sind nicht mehr vorhanden,
sie existieren gar nicht mehr. Aber die Gemeinden sollen es vollziehen und die sollen den Beitragsbescheid erlassen. Und die Bürger müssen dagegen klagen. Erst im Klageweg kann man dann sagen, wir stoppen das. Das hätte die Regierung stoppen können und wir hätten es als Parlament stoppen müssen. Deswegen, meine Damen und Herren, auch das Thema Straßenausbaubeiträge ist eine Katastrophe, die Ihre Regierung zu verantworten hat.
Einen weiteren Bereich will ich ansprechen: das Thema Wirtschaft. Sie haben hier vorgetragen, wie wunderbar sich dieses Land entwickelt hat. Ich bin begeistert. Ich habe einmal nachgeschaut, aber wahrscheinlich wird Herr Voß jetzt wieder sagen, das sind die falschen Statistiken, die vom Statistischen Bundesamt: 15,08 € Brutto-Stundenlohn, den im Durchschnitt in Thüringen jeder Arbeitnehmer verdient, im Durchschnitt mit Arbeitgeberanteil. Das ist, werte Frau Ministerpräsidentin, das Schlusslicht aller Löhne in Deutschland. Wie Sie daraus die höchste Dynamik ableiten können - ja, wenn man vom untersten Punkt kommt und dann 5 Prozent zulegt oder 6 Prozent zulegt, dann ist das dynamisch. Aber dynamisch von nichts, dynamisch von der Position der Altersarmut, die mit eingepreist ist und bei Kenntnisnahme … Deswegen fällt mir immer so der Scherz ein, als in Amerika einmal gesagt wurde, wir haben eine Arbeitsmarktoffensive und dann meldet sich einer und sagt, ja, von den Arbeitsplätzen habe ich drei - wenn das die Haltung ist, dass wir zur Kenntnis nehmen müssen, dass wir
in Thüringen 35 Prozent aller Beschäftigten als prekär beschäftigt haben; prekär heißt zeitlich befristet, niedriger Lohn, Aufstocker, alles das, woran sich Herr Kemmerich auch bereichert hat. 35 Prozent der Beschäftigten sind in der prekären Beschäftigung.
Sehr geehrte Frau Ministerpräsidentin, zufrieden mit einem Arbeitsplatz ist das eine, die Frage der Entlohnung und der Lebensperspektive das andere. Deswegen, Frau Ministerpräsidentin, bedrückt es mich, dass 22 Prozent aller Betriebe, aller Unternehmen in Thüringen nur noch tariflich gebunden sind. Das heißt: 78 Prozent aller Betriebe in Thüringen sind nicht mehr tarifvertraglich geregelt, nicht mehr tarifvertraglich gebunden. Da erwarte ich, dass eine Landesregierung deutliche Sprache spricht. Wenn man das Hohelied auf die Tarifautonomie singt, muss man es auch deutlich machen, dass man die Tarifautonomie würdigt und dass man sie haben will und dass man sie in den Vordergrund stellt und dass Betriebe, die angeworben werden, auch danach angeworben werden, ob sie einen Tarifvertrag einhalten.
Wenn ein Betrieb nach Erfurt kommt und Tausende von Arbeitsplätzen schafft und die einzige Bedingung, die er erfüllen muss - zu Recht -, ist etwas mehr als der jetzt beschlossene gesetzliche Mindestlohn. Das hat der damalige Wirtschaftsminister in den Förderbescheid hineingeschrieben. Da hat Ihre Fraktion und auch die FDP schon geschrien und die IHK hat protestiert. Das ist aber Kannibalismus in der Branche. Ich hätte mir eine noch mutigere SPD gewünscht. Aber ich habe gesehen, wie sie bekämpft worden ist und wie alle gesagt haben, diese Sozialdemokraten zerstören die Wirtschaft. Jetzt sehen wir, dass dieser Betrieb andere Branchenbetriebe zerstört durch wirtschaftliche Macht. Wer nämlich keinen Betriebsrat hat, keinen Betriebsrat will und keinen Tarifvertrag zahlt, ist der wirtschaftlich Stärkere, der auf eine brutale Art die gesamte Branche auseinanderfledert. Deswegen ist der Tarifvertrag Versand und Einzelhandel, für den ich einmal viele Jahre gestanden habe, die Grundlage einer solchen Beschäftigung und nicht ein erfundener Begriff von dem, was sich Logistik nennt.
Deswegen ist der geringste Anteil von Mitbestimmung in geordneten Betrieben in Thüringen kein Markenzeichen, meine Damen und Herren, sondern ein Zeichen dafür, dass Demokratie in Thüringen wieder am Werkstor endet. Deswegen ist mein Credo, unser Credo: mehr direkte Demokratie. Das heißt auch Mitbestimmung, Mitbeteiligung, Tarifverträge und ein entsprechendes Ordnen von sozialen