Protokoll der Sitzung vom 08.10.2010

Herr Fiedler.

Bitte, Herr Fiedler.

Vielen Dank. Herr Kollege Höhn, ich bin bisher Ihren Worten sehr aufmerksam gefolgt und ich kann 99,9 Prozent oder mehr unterschreiben. Stimmen Sie mir zu, dass es vielleicht wichtig wäre, wenn die Landesregierung, die gerade - jetzt ist Gott sei dank noch einer dazugekommen - hier so mager vertreten ist, hier daran teilnehmen würde?

Herr Kollege Fiedler, ich stimme Ihnen uneingeschränkt zu.

(Zwischenruf Abg. Fiedler, CDU: Danke.)

Meine Damen und Herren, natürlich muss man feststellen, und das gehört auch zu einem solchen Tag der Bilanz dazu, dass wirklich ganz, ganz viel geschafft wurde. Unsere Städte und - das sage ich mit besonderer Freude - unsere Dörfer sind in weiten Teilen erblüht. Infrastrukturen, die über 40 Jahre vernachlässigt worden waren bzw. gar nicht vorhanden waren, wurden erneuert bzw. auch dann erstmals geschaffen, die Lebensbedingungen unserer Menschen haben sich grundlegend verändert, der materielle Wohlstand ist für die meisten Menschen ganz deutlich gestiegen, trotz teilweise hoher Arbeitslosigkeit, trotz Sozialhilfe, später Hartz IV genannt. Unsere Kinder wachsen selbstbestimmt auf und bekommen eine gute Bildung, um deren Verbesserung wir ständig bemüht sind. Wir haben

die Krankenhausversorgung komplett erneuert. Auch hier, erinnern Sie sich, wo es um Leben und Tod geht, hinkte die DDR meilenweit hinterher.

(Beifall CDU, SPD)

Das wird heute leider allzu oft vergessen. Selbst an der wachsenden Lebenserwartung der Menschen in Ostdeutschland - seit der Wende ist diese, rein statistisch gesehen, um sechs Jahre gestiegen kann man diesen Angleichungsprozess feststellen. An dieser Stelle wird es vielleicht etwas emotionaler, da möchte ich mich schon im Voraus entschuldigen, aber kann sich noch jemand von Ihnen an ein sogenanntes Feierabendheim erinnern? Ich habe eines erlebt in Leipzig, wo die Großmutter meiner Frau untergebracht war. Noch heute, das ist wirklich so, noch heute stockt mir der Atem, wenn ich an dieses Haus in der Dimpfelstraße denke, wie dieser Staat mit seinen - angesichts der Bilder, die ich noch vor Augen habe, muss ich sagen - ausrangierten Arbeitern und Bauern umgegangen ist, das war ein Spiegelbild der Verhältnisse.

(Beifall CDU, SPD, FDP, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Auch auf diesem Gebiet, meine Damen und Herren, herrschen heute ungleich andere Bedingungen für unsere ältere Generation. Ich könnte noch viele positive Beispiele an dieser Stelle anfügen. Ich berufe mich da ausdrücklich auf die Ausführungen von Frau Lieberknecht.

Das alles, meine Damen und Herren, wäre ohne die große Solidarität der Menschen in den alten Bundesländern so nicht möglich gewesen und dafür bin ich und sollten wir alle sehr, sehr dankbar sein.

(Beifall CDU, SPD, FDP)

Das alles wäre aber auch ohne die große Lern- und vor allem ohne die große Veränderungsbereitschaft, ohne das große Engagement der Menschen hier in diesem Lande nicht möglich gewesen - auch das gilt es festzuhalten. Der nie dagewesene Umbruch von der sozialistischen Planwirtschaft hin zu einer sozialen Marktwirtschaft, meine Damen und Herren, das müssen wir ehrlicherweise auch konstatieren, verlief nun wirklich alles andere als reibungs- und fehlerlos. Wir bauen bis heute auch auf, was die Treuhand Anfang der 90er-Jahre teilweise leichtfertig zerschlug. Selbst Bernhard Vogel, vor dem ich nach wie vor einen hohen Respekt angesichts seiner Aufbauleistung hier in Thüringen habe, musste in seiner Zeit in Thüringen - und das ist ein Zitat von ihm - „in die hässliche Fratze des Kapitalismus schauen“. Zu der dunklen Seite der Medaille gehören eben auch die hohe Arbeitslosigkeit, die heute gottlob nicht mehr so, aber in den 90erJahren vorherrschend war, und die Unsicherheit, die für Abwanderung, für Geburteneinbruch in einem nie so dagewesenen und auch nie vorhersehbaren Umfang gesorgt haben.

Meine Damen und Herren, weil diese Unsicherheit über das eigene Einkommen und die damit verbundene berufliche Perspektive nach wie vor das Bewusstsein vor allem der jungen Generation bestimmt, geht die demographische Kurve leider weiter nach unten. Wir müssen konstatieren: Die Kluft zwischen Arm und Reich ist größer geworden. Es gibt nicht wenige Menschen, die fühlen sich von der Gesellschaft auch allein gelassen und sind - wie man so schön sagt - in die innere Immigration geflüchtet. Thüringen war ein Niedriglohnland, ist es teilweise immer noch, auch wenn es auf diesem Gebiet mittlerweile deutliche Verbesserungen gibt, und viele Männer und Frauen können trotz Vollzeitbeschäftigung nicht vom Verdienten leben und sind auf ergänzende Leistungen angewiesen.

Meine Damen und Herren, all das ist Thüringen. All das Positive, aber auch die Schattenseiten - all das ist Thüringen 20 Jahre nach der Wiedervereinigung. All das umschreibt das, was geschaffen wurde, aber auch das, was noch zu tun ist. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Thüringen im Jahr 2010 ist ein modernes Land mit guten Zukunftschancen. Thüringen ist aber auch - das gehört wiederum auch zu einer Bilanz dazu - ein hoch verschuldetes Land mit großen strukturellen Problemen.

(Beifall SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Zur Bilanz gehört die Tatsache, dass bis heute mehr als 17 Mrd. € Schulden angehäuft wurden. Übrigens, um Legendenbildung vorzubeugen, der Großteil der Schulden stammt nicht aus sozialdemokratischer Mitregierungszeit, da kann man sich die entsprechenden Statistiken genau anschauen.

Es wurde viel investiert in den letzten 20 Jahren. Die meisten, man höre genau, die meisten Investitionen waren sinnvoll. Aber die ersten Probleme, wer würde sich nicht erinnern, von Fehlinvestitionen es wurde heute schon einige Male genannt das Beispiel, auch ich komme daran nicht vorbei, auch aus eigenem Erleben in meiner Zeit als Bürgermeister Anfang der 90er-Jahre - traten wegen zu groß dimensionierter Abwasseranlagen auf. Am Mittwoch in der Aktuellen Stunde hat Wirtschaftsminister Matthias Machnig gesagt, es gäbe zu viele Kläranlagen in Thüringen. Ich korrigiere ihn nicht gern, aber ich tue es an dieser Stelle. Unser Problem ist nicht, dass wir zu viele Kläranlagen in Thüringen hätten, im Gegenteil, es gibt Regionen, die sind noch gar nicht angeschlossen. Unser Problem ist, dass dort, wo wir eine haben, die zu teuer gebaut, zu groß geraten sind und damit zu großen Lasten bei den Bürgern sorgen. Das ist das, was uns heute nach 20 Jahren immer noch auf der Tasche wie man so schön sagt - liegt.

(Beifall SPD)

Die Ursache dafür war eine zwar von hehren Ziele ausgehende, aber doch von einem gewissen Gigantismus geprägte abwassertechnische Zielplanung - ich habe dieses Schimpfwort heute noch in den Ohren -, in der das Land den Aufgabenträgern vorgab; das sorgte für diese Fehlentwicklung. Damals wurde der Grundstein für viele Probleme im Wasser- und Abwasserbereich gelegt, die bis heute fortwirken.

Herr Abgeordneter Höhn, gestatten Sie eine Anfrage durch den Abgeordneten Kuschel?

(Beifall SPD)

Nein, Herr Kuschel.

(Zwischenruf Abg. Kuschel, DIE LINKE: Die Antwort steht nicht in seinem Manuskript.)

Herr Kuschel, es kann mich jeder etwas fragen und gerade zu diesem Thema, aber Sie nicht.

(Beifall CDU, SPD)

(Zwischenruf Abg. Kuschel, DIE LINKE: Ha- ben Sie ein schlechtes Gewissen?)

Ja, ich muss kein schlechtes Gewissen haben, beileibe nicht, im Gegenteil.

Meine Damen und Herren, der Grundstein für viele Probleme im Wasser- und Abwasserbereich - ich erwähnte es -, die bis heute fortwirken und für Millionen Euro, die uns heute noch belasten, für Nachförderung und Strukturhilfen, Zinsverbilligungen und andere Konsolidierungen, die wurden verschlungen und leider, liebe Kolleginnen und Kollegen der Union, ich komme nicht umhin, auch die Abschaffung der Wasserbeiträge im Jahre 2004, die das Land in Summe irgendwann einmal 1 Mrd. € kosten werden, muss an dieser Stelle ausdrücklich erwähnt werden.

Natürlich darf in dieser Aufzählung, wenn wir einmal über Fehlentwicklungen reden, nicht die respektable Anzahl von den sogenannten Spaßbädern fehlen. Natürlich haben die Spaß, die eine solche Einrichtung besuchen, wenn sie das Geld dafür haben, muss man einschränkend sagen. Aber noch mehr Spaß, liebe Kolleginnen und Kollegen, hatten einige dubiose Investoren, die vollbepackt mit unglaublich hohen Subventionen die Betreiber, in der Regel blauäugige Kommunen, mit den horrenden Betriebskosten und den entstandenen Krediten al

leingelassen haben. Was wurden da für Millionen versenkt, meine Damen und Herren! So ließen sich zahlreiche weitere Investitionen nennen, die zwar schön anzusehen sind, die aber den Thüringer Landeshaushalt über die aufgenommenen Kredite oder sogar nun über auszugleichende Verluste immens belasten. An dieser Stelle seien nur noch stichwortartig die Maßnahmen aufgezählt, die da ergriffen wurden, um den Problemen Herr zu werden - Stichwort Schattenhaushalte, alternative Finanzierungen, Sondervermögen oder auch die nicht berücksichtigten Pensionslasten. All das sind Verpflichtungen des Landes, die wir in der Zukunft zu tragen haben.

In den letzten 20 Jahren, meine Damen und Herren, um auf ein Thema zu kommen, wurden Strukturen, nämlich die Strukturen unserer Städte, Gemeinden und Landkreise, auf- und teilweise wieder abgebaut. Natürlich musste das vor 20 Jahren neu entstehen, das war doch klar, und es musste auch sehr schnell aus dem Boden gestampft werden. In der Regel geschah das Ganze als Nachbau des jeweiligen westlichen Betreuungslandes. Ich will das an dieser Stelle ausdrücklich so nicht kritisieren; auch an dieser Stelle haben die vielen Helferinnen und Helfer aus den alten Bundesländern in den Verwaltungen dafür gesorgt, dass überhaupt etwas voranging. Aber es sind auch Strukturen entstanden, bei denen man konstatieren muss, dass sie dann nach einer gewissen Zeit einer Überprüfung nicht mehr standhalten. Das ist der Punkt, meine Damen und Herren, den ich den Verantwortlichen in der Zeit, als wir eine 10-jährige Alleinregierung hier in Thüringen hatten, am meisten ankreiden muss, nämlich die Tatsache, dass sie nicht erkannt oder nicht vermocht haben, diese Strukturen nach einem grundlegenden und durchdachten Konzept neu zu ordnen. Das wäre die historische Pflicht und Aufgabe gewesen.

(Beifall SPD)

Andere Länder haben es getan im Osten und ernten inzwischen die Früchte in Form ausgeglichener Haushalte.

Meine Damen und Herren, wer 20 Jahre später Bilanz zieht, der sieht ein gewaltiges Aufbauwerk, auf dem wir ein gutes Stück vorangekommen sind und auf das wir zu Recht stolz sein können. Doch es braucht neue Anstrengungen von uns allen, es erfolgreich zu Ende zu führen. Insoweit bin ich auch da gedanklich bei dem, was Ministerpräsidentin Lieberknecht am Wochenende in ihren Reden dazu ausgeführt hat. Ich komme viel herum in Thüringen, das bringt der Job nun einmal mit sich. In unseren Städten und schmucken Dörfern kann man diesen Aufbau wirklich mit Händen greifen; vielerorts entdecke ich wiedererstrahlten Glanz. Die Menschen leben gern in Thüringen, zumindest die, die sich

entschlossen haben, hierzubleiben, und das sind immer noch sehr, sehr viele.

(Beifall CDU, SPD)

Unser Land mit seiner reichen Kultur und mit seiner Geschichte hat etwas gemacht aus der Freiheit, die wir uns 1989 erstritten haben. Wir wählen frei und leben Demokratie, als wäre es selbstverständlich, und das ist es ja auch heute.

(Beifall CDU, SPD)

Aber, meine Damen und Herren, wir dürfen nicht vergessen, dass die Freiheit, die heute so grenzenlos ist, es manchem auch schwer machte, z.B. dem, der arbeitslos wurde. Jetzt konnte er frei reisen - aber konnte er es sich auch leisten? Jetzt konnte er frei seine Meinung sagen und Kritik üben - aber wer hörte auf ihn? Jetzt konnte er frei wählen oder auch am Wahltag zu Hause bleiben, wie er wollte - doch was folgte daraus? Zukunftsängste sind heute bei mehr Menschen zu Hause, als es uns lieb sein kann. Davor sollten wir nicht die Augen verschließen, meine Damen und Herren.

(Beifall SPD)

Das zeigt mir, wir haben 1989 die Demokratie erstritten, aber eben nicht das Paradies. Die aktuelle Finanz- und Wirtschaftskrise führte uns vor Augen, wie schnell, wie bedroht das alles ist, was wir in 20 Jahren aufgebaut haben. Was aber heißt das, meine Damen und Herren? Was aber heißt das zurück ins Gestern? Das wäre wohl der falscheste aller Schlüsse. Ich habe aus der friedlichen Revolution gelernt, dass Widersprüche, Probleme und Unzulänglichkeiten der Stein des Anstoßes sein sollten, eine Gesellschaft besser zu machen, als sie ist. Das ist uns 1989 gelungen, zweifellos. Doch hat sich damit alles erledigt, muss man vielleicht seine Geschicke vielleicht nicht mehr in die eigene Hand nehmen? Oft begegnet mir eine solche Erwartungshaltung, wenn man mit den Menschen spricht. Doch ist es richtig, dass sich die Menschen wieder einmal in eine Nische zurückziehen? Genau das war es vor 1989. Ist es richtig, mit dem Finger auf andere zu zeigen, frei nach dem Motto: Du Politiker, hier ist das Problem, löse das mal für mich! Ich glaube, das ist nicht die richtige Einstellung. Aber nicht, dass wir uns falsch verstehen, keine Frage, die Politik hat die Pflicht, sich um die Sorgen und Nöte der Menschen zu kümmern, dafür sind wir gewählt, dafür sind wir hier. Dennoch bin ich fest davon überzeugt, ein Gemeinwesen kann nur dann funktionieren, wenn sich möglichst viele einbringen. Unsere Demokratie darf keine Zuschauerdemokratie sein. Das ist für mich die wichtigste Lehre aus 1989.

(Beifall CDU, SPD)

Wir haben es selbst in der Hand, was wir aus unserer Gemeinde, aus unser Stadt, unserem schönen

Thüringen in der Zukunft machen oder an dieser Stelle ein Zitat zum Abschluss, meine Damen und Herren, des von mir sehr hoch geschätzten John F. Kennedy: „Frage nicht, was dein Land für dich, sondern was du für dein Land tun kannst.“ Das haben wir 89 getan und wir haben allen Grund, uns gut daran zu erinnern. Vielen Dank, meine Damen und Herren.

(Beifall CDU, SPD)

Herr Abgeordneter Höhn, der Abgeordnete Untermann würde Ihnen gern eine Frage stellen. Gestatten sie das? Gestattet er nicht. Für die CDU-Fraktion erhält der Abgeordnete Mohring das Wort.

Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte mich zunächst im Namen meiner Fraktion bei der Ministerpräsidentin für ihren Bericht bedanken. Vielen Dank dafür.

(Beifall CDU)