Protokoll der Sitzung vom 02.10.2015

(Beifall DIE LINKE, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das heißt, man kann sich an dieser Stelle schon auf die Statistiker verlassen, auch wenn das von vielen möglicherweise nicht geliebt ist. Aber das gehört eben zu einer ehrlichen Analyse dazu. Es ist so, lieber Herr Kollege, dass wir in 20 Jahren hier in Thüringen leider nur noch rund 1,9 Millionen Thüringerinnen und Thüringer sein werden. Man mag das bedauern und daran ändert auch der Zuzug möglicherweise aus den Flüchtlingsströmen nichts, die uns derzeit ereilen. Es wird marginale Verschiebungen geben. Die Menschen, die keine Kinder bekommen haben, die kriegen auch keine. Lieber Herr Kollege Fiedler, das ist so. Man kann eben öffentliche Verwaltungen, die vor über 20 Jahren entstanden sind, in ihren Strukturen, wie wir sie heute noch haben, die auf eine ganz andere Bevölkerungsentwicklung ausgelegt waren, nicht so beibehalten. Du warst doch dabei. Entschuldigung, du schüttelst mit dem Kopf. Die Reform von 1994

(Zwischenruf Abg. Fiedler, CDU: Bei beiden! Ich war bei beiden dabei!)

ist 1993 schon beschlossen worden, hier in diesem Thüringer Landtag. Es war ein weiser Beschluss, das ein Dreivierteljahr vor Inkrafttreten der eigentlichen Reform am 01.07.1994 zu tun, damit sich alle darauf einstellen konnten. Damals gab es eine Riesenfluktuation von Menschen, die das Land verlassen haben, übrigens die meisten aus wirtschaftlichen Gründen, aber das will ich gar nicht bewerten. Das war eben so. Die Hoffnungen, die bei diesen Strukturen damals mitschwangen, waren, dass sich dieser Prozess verlangsamt und möglicherweise in sehr absehbarer Zeit wieder umkehrt. Das heißt,

(Abg. Adams)

die 17 Landkreise und die sechs kreisfreien Städte mit ihren Strukturen waren von Anfang an auf eine Bevölkerung von rund 2,5 Millionen Einwohnern ausgerichtet. Die werden wir nicht haben. Unseren Bürgerinnen und Bürgern und den berühmten Steuerzahlern ist es nicht zuzumuten und es ist auch nicht ökonomisch und schon gar nicht volkswirtschaftlich angesagt, dass wir angesichts einer solchen Größenordnung, wie wir sie heute schon kennen, von 1,9 Millionen Einwohnern, an unseren Verwaltungsstrukturen hier im Land nichts ändern. Das ist unverantwortlich, meine Damen und Herren.

(Beifall DIE LINKE, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das ist der erste Grund, warum wir etwas tun müssen. Diese Erkenntnis begleitet uns nun schon wirklich einige Jahre, meine Damen und Herren.

Der zweite Punkt ist die finanzielle Situation der Kommunen. Wir haben uns gestern dazu eine sehr ausführliche Debatte geliefert, die mehr oder weniger sinnhaft von einigen hier geführt worden ist. Aber ich möchte mal die rhetorische Frage in den Raum stellen, ob irgendjemand noch Zweifel daran hat, dass die durchaus schwierige Situation nicht aller, aber vieler unserer kommunalen Körperschaften nicht wirklich mit den jetzt vorhandenen Strukturen zusammenhängt. Ich wiederhole den Satz von gestern und der ist nicht von mir, er stammt vom ehemaligen Finanzminister Voß: Dieser Finanzausgleich, wie wir ihn 2012 in der Koalition mit CDU und SPD beschlossen haben, funktioniert nur in größeren Einheiten und in größeren Strukturen.

(Beifall SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Weil die kommunale Selbstverwaltung an der Stelle immer so schön hochgehalten wird: Sie endet dort, wo die Schlange beim Landesausgleichsstock anfängt. Da hört die kommunale Selbstverwaltung auf.

(Beifall DIE LINKE, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dem müssen wir entgegenwirken, meine Damen und Herren.

(Zwischenruf Abg. Fiedler, CDU: Wer greift denn in die kommunale Selbstverwaltung ein?)

(Unruhe CDU)

Ein drittes Stichwort – Identität – istschon von einigen Rednern hier genannt worden. Meine Damen und Herren, woraus speist sich denn die Identität? Speist sie sich tatsächlich aus dem Verwaltungssitz einer Kommune oder gar eines Landkreises? Gehen Sie wirklich mal in sich und stellen Sie sich diese Frage. Es ist völlig richtig hier dargestellt und ich habe das schon in der letzten Legislatur hier, als wir des Öfteren ehrlich gesagt auch aus SPD-Sicht

durchaus erfolglos mit unserem Koalitionspartner über das Thema diskutiert haben –

(Zwischenruf Abg. Möller, AfD: Ihr seid ja auch Experten für …!)

diese Erkenntnis ist schmerzlich, aber ich treffe sie. Stellt sich doch jemand die Frage, ob das wirklich an diesen Verwaltungsstrukturen hängt. Identität bei unseren Bürgerinnen und Bürgern in den Kommunen speist sich aus dem sozialen Miteinander. Das fängt in der Nachbarschaft an, das geht über die Vereinsstrukturen und die Pflege von Brauchtum weiter. Das sind Dinge, die identitätsstiftend sind, und die ändern sich nicht mit Verwaltungsstrukturen.

(Beifall DIE LINKE, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das sage ich als jemand, der von 1990 an alle Stufen kommunalen Zusammenlebens schon selbst nicht nur erlebt, sondern mitgestaltet hat. Ich bin 1990 zum Bürgermeisteramt gekommen wie die Jungfrau zum Kind. Nach noch nicht mal zwei Jahren habe ich mein eigenes Amt gemeinsam mit anderen abgeschafft. Wir haben uns zusammengeschlossen, da gab es hier im Landtag noch nicht mal ein Gesetz dazu. In der nächsten Stufe haben wir uns dann in eine Verwaltungsgemeinschaft eingebracht. Ich habe danach eine 2.000-EinwohnerGemeinde geführt. Ich bin dann zum Bürgermeister einer größeren Gemeinde gewählt worden. Und schon nach eineinhalb, knapp zwei Jahren haben wir diese Verwaltungsgemeinschaft aufgelöst in der Erkenntnis, dass sie uns, sowohl was die Entscheidungsfindung in einer VG betrifft, aber auch in ihrer – ich sage jetzt mal – durchaus bescheidenen Effizienz der Abläufe, in unserer kommunalen Entwicklung eher hemmt als befördert. Deswegen haben wir sie aufgelöst und haben 1996 eine Einheitsgemeinde gebildet, die bis heute Bestand hat

(Beifall SPD)

und eine der wenigen abundanten Gemeinden im Freistaat Thüringen ist. Nur so viel zur kommunalen Entwicklung. Sie können mir erzählen, Herr Henke, was Sie wollen, ich weiß, wovon ich rede.

(Beifall SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

(Zwischenruf Abg. Henke, AfD: Ich auch, das können Sie glauben. Es stimmt einfach nicht!)

Deswegen sage ich: Identität ist wichtig für das Zusammenleben, Identität ist eine Grundlage für unsere Gesellschaft, aber sie macht sich eben nicht an Verwaltungsstrukturen fest und schon gar nicht an Landkreisstrukturen.

Die Landkreise: Die Landkreise wurden in Preußen 1806 erfunden, um rein exekutive Verwaltung durchzusetzen. Es war ein reines Organ der Exeku

tive. Was tun die Landkreise heute? Sie sind auf der einen Seite Erfüllungsgehilfe oder Erfüllungsinstrument für kommunale Aufgaben anstelle der Kommunen selbst und sie sind auf der anderen Seite Erfüllungsgehilfen für das Land bei der Bewältigung von Landesaufgaben, die auf der kommunalen Ebene umgesetzt werden sollen. Es sind und bleiben reine Verwaltungsstrukturen, auch in der Zukunft, meine Damen und Herren.

Wenn man nur allein diese drei Punkte aus der Analyse herausnimmt, dann kommt man zu der Erkenntnis, dass die Kernpunkte dieses Leitbilds, das der Innenminister vorgelegt hat, genau die richtigen für eine wirklich gedeihliche Entwicklung des Freistaats sein werden.

Der erste Punkt kommt mir in der Debatte im Moment noch ein bisschen zu kurz, das ist die Stärkung der zentralen Orte. Da bleibt es mir persönlich, der mal eine Zeit lang die SPD-Fraktion führen durfte,

(Zwischenruf Abg. Mohring, CDU: Das haben wir gut zusammen gemacht!)

nicht erspart, Erkenntnisse zu haben, die uns in der letzten Legislatur gemeinsam mit der CDU-Fraktion zu durchaus – lieber Mike Mohring – schwierigen Entscheidungen geführt haben. Da meine ich die von Ihnen und von euch sehr beschworene Freiwilligkeit. Meine Damen und Herren, ich bin sehr für Freiwilligkeit in jeder Beziehung. Aber wohin hat uns denn die Freiwilligkeit in Bezug auf die Zusammenschlüsse vor allen Dingen auf der gemeindlichen Ebene geführt? Wohin haben sie uns denn geführt? Die Schwächung von zentralen Orten,

(Beifall DIE LINKE)

die Infrastruktur und kulturelle und sportliche Einrichtungen für die Bürgerinnen und Bürger der gesamten Region vorhalten, haben wir befördert mit unseren Entscheidungen der letzten Legislatur.

(Beifall DIE LINKE, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das tut mir heute zum Teil noch in der Seele weh. Wir haben viele richtige Entscheidungen getroffen, aber es waren eben auch eine ganze Reihe dabei, die einer wirklich gedeihlichen Landesentwicklung entgegenstehen. Wenn Sie Beispiele hören wollen: Schauen wir in den Osten Thüringens. Saara-Nobitz regiert heute ein SPD-Bürgermeister, aber das ist mir in dem Moment – ehrlich gesagt – völlig egal. Im Kontext zu der Stadt Altenburg war das die falsche Entscheidung, die wir getroffen haben. Schauen wir in den Norden Thüringens: Die Straßenbahn von Nordhausen fährt heute noch bis nach Ilfeld, und wir haben zugelassen, dass diese Gemeinde sich mit der Nachbar-VG zusammenschließen konnte als Kragengemeinde um Nordhausen herum. Das Beispiel Wachsenburg ist

hier schon ausführlich diskutiert worden, das muss ich nicht wiederholen.

Die Stadt Arnstadt, die Stadt Nordhausen, wir kennen alle die Situation. Herr Zeh schreibt uns Abgeordneten flammende Briefe, was die finanzielle Situation betrifft. Und das soll alles nichts mit den Strukturen zu tun haben, meine Damen und Herren?

(Unruhe CDU)

Da müssen Sie wirklich mal in sich gehen. Deswegen sage ich: In Zukunft Zusammenschlüsse unter der Prämisse der Stärkung zentraler Orte ist das A und O einer künftigen Gebietsreform.

(Beifall DIE LINKE, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ein Wort zu den VGs. Ich habe ja schon ein bisschen was gesagt, auch aus meinen eigenen Erfahrungen. Zugegeben, die liegen 20 Jahre zurück. Aber was hat sich denn seitdem geändert? Schauen wir uns doch die Entscheidungsfindung in den VGs an, wo ein oder zwei größere Orte und eine ganze Reihe kleinerer Gemeinden Mitglied sind. Durch die Zusammensetzung der Gemeinschaftsversammlung mit den Grundmandaten gibt es regelmäßig Abwehrentscheidungen gegen die größeren Orte, selbst innerhalb einer VG, und das führt in der Regel zu riesengroßem Streit und zu Entwicklungen, die diesen Körperschaften, diesen kommunalen Körperschaften wirklich nicht guttun. Wenn ich mir dann noch anschaue, was die Kämmerer von Verwaltungsgemeinschaften zu tun haben, um die Haushalte von 16, 17 oder 20 Mitgliedsgemeinden

(Zwischenruf Abg. Fiedler, CDU: 22!)

auf den Weg zu bringen, die teilweise als eigenständige Einheit vielleicht 80 Einwohner auf die Waage bringen, aber eben einen eigenen Haushalt brauchen. Da steht im Vermögenshaushalt so viel Geld drin, dass es für einen Eimer Farbe reicht, um das Bushäuschen zu streichen. Das kann doch nicht die kommunale Zukunft Thüringens sein, meine Damen und Herren!

(Beifall DIE LINKE, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Deswegen ist der Weg, ist der Vorschlag: konsequent aus der bisherigen Entwicklung heraus. Ich stimme denjenigen zu, die sagen: Die VGs waren vor 20 Jahren ein geeignetes Instrument, um größere Strukturen zu schaffen, aber es bedarf einer entsprechenden Weiterentwicklung.

(Zwischenruf Abg. Tasch, CDU: Das ist keine Weiterentwicklung. Das ist doch eine Ab- schaffung!)

Deshalb stehe ich zu dem Vorschlag, die VGs sukzessive in Einheits- und Landgemeinden umzuwandeln.

Der dritte Kernpunkt der Reform ist natürlich, in welchen Größenordnungen, in welchen Korridoren wir uns bewegen. Da sage ich ganz deutlich: Auch ich war einer der wenigen, die damals, 2013, die meisten, die allermeisten Ergebnisse der Expertenkommission öffentlich verteidigt haben. Ich habe vor allen Dingen verteidigt, was die Vorschläge auf der Kreisebene betrifft. Die sind damals von anderen Größenordnungen ausgegangen. Der Vorschlag jetzt, der Korridor jetzt, den der Innenminister vorgelegt hat, bleibt durchaus aus nachvollziehbaren Gründen ein Stück weit hinter diesem Vorschlag zurück. Aber das heißt nicht, dass sowohl im Verlaufe der jetzt stattfindenden Debatte als auch dann im Gesetzgebungsprozess keine Einheiten entstehen, die wirklich auch für mehrere Generationen zukunftsfest sind. Diese Hoffnung möchte ich jedenfalls an der Stelle mit auf den Weg geben. Und die Gemeindeebene in einer Größenordnung von 6.000 bis 8.000 halte ich aus meinen persönlichen kommunalen Erfahrungen für eine adäquate Größe, die wirklich die Leistungsfähigkeit der Kommunen für die Zukunft jedenfalls besser sichern kann als in den jetzigen Strukturen. Der damalige Vorschlag der Expertenkommission mit 12.000 Einwohnern war schon damals einer der wenigen Punkte, bei denen ich gesagt habe: Das sehe ich wirklich anders. Der ist sehr vom verwaltungstheoretischen Standpunkt aus berechnet worden. Da muss man wirklich auch die Gegebenheiten hier in unserem Land mit berücksichtigen. Das heißt also: Stärkung zentraler Orte, die Umwandlung der VGs in Einheits- oder Landgemeinden,

(Zwischenruf Abg. Tasch, CDU: Abschaf- fung!)

die Korridorbildung. Last, but not least, will ich natürlich auch noch ein paar Sätze sagen, meine Damen und Herren, zum Thema „Funktionalreform, Verwaltungsreform“ an sich. Wer uns hier glauben machen will, dass die Experten – auch Prof. Hesse, dessen Ausführungen zu hören ich vor Kurzem zum ersten Mal die Ehre hatte – und ich habe großen Respekt davor und wirklich auch Respekt und auch Anerkennung dafür, wie er die Situation in unserem Freistaat analysiert hat. Das muss man sich wirklich mal anschauen. Da ist nichts von wissenschaftlicher Abgehobenheit oder sonstigen Vorwürfen, die da im Raum stehen. Nein, der Mann hat sich wirklich intensiv damit befasst. Natürlich kommen wir nicht umhin, eine Funktionalreform mit auf den Weg zu bringen. Aber, meine Damen und Herren, wir müssen das eine tun – sprich Gebietsstrukturen ändern –, ohne das andere zu lassen, nämlich die entsprechenden Aufgaben zuzuordnen.