Protokoll der Sitzung vom 26.11.2015

muslimischen Gemeinden in Thüringen, denn auch sie verurteilen den Terror der Anschläge von Paris.

(Beifall DIE LINKE, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das Vertrauen ineinander kann nur wachsen, wenn wir uns die Hand zum Frieden reichen. Nur so können wir Hass und Gewalt überwinden und Ängste gegenüber dem Islam abbauen. Wir müssen uns immer vor Augen halten, dass die Flüchtlinge Frieden und Sicherheit in ihrer Heimat verloren haben. Deshalb müssen wir ihnen Frieden und Sicherheit gewähren.

Nicht alle, die jetzt kommen, werden auf Dauer bleiben können. Aber die Verfahren und Klärungen müssen einfach schneller abgeschlossen werden. Wir werden bei den notwendigen Rückführungen mit humanitärem Augenmaß vorgehen und wir arbeiten daran, dass die Beschleunigungen der Verfahren nach dem Heidelberger Modell möglichst schnell auch in Thüringen umgesetzt werden. Auch Flüchtlinge haben einen Anspruch darauf, schon nach einer Woche zu erfahren, ob sie Chancen haben oder nicht, damit wir diesen Weg gemeinsam gehen können.

Ja, es wird auch bei der Integration nicht immer alles von Beginn an optimal laufen, aber wir werden aus Fehlern lernen. Ja, auf die Thüringer Kitas, Schulen, Hochschulen und andere Bildungseinrichtungen kommen jetzt wichtige Aufgaben hinzu, aber Sprache und Bildung sind nun einmal die ersten Schlüssel für eine gelungene Integration. Die Thüringer Bildungslandschaft ist gut aufgestellt. Das betrifft sowohl die Schüler-Lehrer-Relation als auch die vorhandenen, noch nicht ausgelasteten Kapazitäten in größeren und kleineren Städten, im ländlichen Raum, aber auch in Bildungszentren der Kammern und Berufsschulen. Besonders dort bestehen gute Chancen, Sprachkurse zu belegen und Ausbildungsmöglichkeiten damit zu nutzen und zu verbinden.

Die Integration wird für den Thüringer Landeshaushalt die größte Herausforderung seit der Wiedervereinigung sein. Es ist unser Ziel, dass niemand infolge dieser Ausgaben einen Verlust an Leistungen und staatlicher Daseinsvorsorge erleiden muss und erleiden wird.

(Beifall AfD)

Aber ich werde auch dazu nicht schweigen, dass in Zukunft der Bund immer wieder ermahnt werden muss, dass die Refinanzierungsquote deutlich erhöht werden muss. Die Gelder des Bundes reichen derzeit nicht ansatzweise, um die an uns gestellten Aufgaben so zu lösen, wie sie gelöst werden müssen. Ich kann mich der Finanzministerin nur anschließen, die in einem TA-Interview richtig gesagt hat, nachdem wir in einem Jahr drei schuldenfreie Haushalte vorgelegt haben: „Also kann es, wenn

die Zahl der Flüchtlinge nicht geringer wird, eine finanzielle Notlage geben, die uns zu neuen Krediten zwingt.“ Aber es ist nicht so, dass wir es uns aussuchen können; wir wollen es unter allen Umständen verhindern.

(Zwischenruf Abg. Höcke, AfD: Und was ist mir Ihrem Verhalten im Bundesrat, Herr Ra- melow?)

Wir wollen, dass der Bund dafür seinen Antrag, seine Aufgaben erfüllt, damit wir in so eine Situation erst gar nicht gebracht werden.

Ich bin der Überzeugung, dass die schwarze Null dann zum Problem werden kann, wenn sie braune Nullen starkmacht.

(Beifall DIE LINKE, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die politische Antwort auf alle diese Fragen lautet: Realismus in humanitärer Verantwortung, besonnenes Krisenmanagement, ehrliches Veränderungsmanagement, entschlossenes Chancenmanagement. Dieser Dreiklang wird uns durch die Krise leiten und uns über den Krisenmodus hinaus einen Kompass für gestaltende Politik geben.

Auch finanziell geschieht doch Folgendes: Alles, was die öffentliche Hand gerade ausgibt, verbleibt zum überwiegenden Teil in Thüringen. Zuwanderung schafft und sichert auch Arbeit und löst derzeit gerade eine große Investitionsoffensive aus, die in Thüringen zu verbesserten Nachfragen führt. Häuser werden saniert, Krankenhäuser werden aktiviert, Handwerker müssen darin arbeiten. Alles das wird mit dem Geld finanziert, das wir gerade für die Integrationskosten zur Verfügung stellen. Es ist auch ein Wirtschaftsmotor, der damit verbunden ist. Lassen Sie uns das zur Kenntnis nehmen, wie viele Arbeitsplätze unseres Handwerks und unserer Betriebe im Moment an dieser Sonderkonjunktur hängen.

(Beifall DIE LINKE, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Damit die Chancen, die der gegenwärtigen Situation innewohnen, richtig genutzt werden, müssen wir in den kommenden Jahren einen Mentalitätswandel absolvieren. Thüringen hat in 25 Jahren gelernt, aus weniger mehr zu machen. Es gab und gibt eine Gewöhnung an den Rückbau, an das Leben in einer schrumpfenden Gesellschaft. Dafür braucht es nicht einmal den Thüringen-Monitor, um das festzustellen. Es reicht ein Blick in viele Thüringer Innenstädte jenseits von Erfurt, Jena, Weimar oder auf die Immobilienpreise an der Thüringer Peripherie. Es ist dennoch gelungen, dass weniger Menschen das Land in den letzten 25 Jahren immer weiter vorangebracht haben. Eine Gesellschaft im Rückbau verlangt nach einer Politik, die diesen Rückbau abfedert und gestaltet.

(Ministerpräsident Ramelow)

Vieles von dem, was auch im rot-rot-grünen Koalitionsvertrag steht, ist diesem landespolitischen Paradigma geschuldet. Aber dieses Paradigma muss überdacht werden. Der Motor ist leistungsstark, aber die Karosserie bedarf eines modernen Zuschnitts, damit die Leistungsstärke zum Tragen kommt und damit ein Gesicht bekommt.

(Beifall DIE LINKE)

Wenn wir die Aufholjagd erfolgreich gestalten wollen, muss Thüringen in den kommenden Jahren das Wachsen wieder lernen. Wenn wir mit den richtigen politischen Entscheidungen auf die gegenwärtige Flüchtlingssituation reagieren, dann können wir auch die demografische Wende gestalten, die notwendig ist, damit unser Land weiterhin eine erfolgreiche Entwicklung nimmt.

Der Wille zur politischen Gestaltung lässt sich für die kommenden Jahre auf eine einfache Formel bringen: „Mut zum Wachstum“, das heißt, Wachstum in der Bevölkerung. Das Abwandern ist schleichend gegangen. 450.000 Menschen sind aus Thüringen weggegangen. Und die Frage ist: Wie schaffen wir es, uns Mut zu machen, als Zuwanderungsland zu begreifen, dass wir Wachstum dann schaffen, wenn Zuwanderung für uns die größte Herausforderung unseres politischen Handelns ist? Mit diesem Mut zum Wachstum wollen wir die Zeiten überwinden, in denen wir immer weniger wurden. Das trifft nicht nur mit Blick auf die Migration nach Thüringen zu, sondern auch mit dem Blick auf einen positiven Wanderungssaldo, den wir auch in diesem Jahr wieder haben werden.

Der kollektive Lernprozess, der vor uns liegt, lässt sich ebenfalls einfach beschreiben: Wir lernen Wachsen. Wachstum verlangt nach einer weitsichtigen Politik, die von den Gewissheiten einer schrumpfenden Gesellschaft Abstand nimmt. Darüber hinaus kann die Integration der Flüchtlinge ein Katalysator bei der Vollendung der inneren Einheit sein, weil sich die westdeutsche Gesellschaft öffnen muss gegenüber den Ostdeutschen und gegenüber den Flüchtlingen. Die Menschen in Ost und West müssen im Verlauf des Integrationsprozesses die gleichen Probleme bewältigen und lösen. Von den hierbei gemachten Erfahrungen können die Menschen in Ost und West gegenseitig profitieren. Dabei können wir auch die Grundgewissheiten in unserem Land wieder deutlicher machen. Nein, ich betone: Wir müssen die Grundgewissheiten in diesem Land wieder deutlich zum Ausstrahlen bringen. Wir müssen deutlich machen, dass der Satz, den Norbert Blüm einmal geprägt hat, nicht immer zum Lachen führt: „Eins ist sicher: Die Rente.“ Menschen lachen über diesen Satz. Norbert Blüm hat diesen Satz ernst gemeint. Ich finde, es gibt tausend Gründe, diesen Satz wieder mit Ernsthaftigkeit zu äußern. Wenn man Angst vor Altersarmut hat, muss es ein Sicherungssystem ge

ben, dass niemand Angst hat, im Alter arm und auf staatliche Wohlfahrt angewiesen zu sein. So habe ich Norbert Blüms Satz verstanden.

(Beifall DIE LINKE, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich halte ihn nach wie vor für richtig und wichtig, dass wir Menschen die Gewissheit geben, dass Langzeitarbeitslosigkeit nicht die Sackgasse eines Lebens ist und Altersarmut nicht in einem abgehängten Leben zu Nischen führt.

(Beifall Abg. Helmerich, fraktionslos)

Deswegen, meine Damen und Herren, müssen wir als Staat, als Gesamtstaat lernen, Grundgewissheiten wieder lauter, deutlicher und klarer für die gesamte Bevölkerung auszusprechen und auch wahrnehmbar auszuformulieren, denn ein Großteil gesellschaftlichen Lebens ist eben Psychologie. In der Wirtschaft ist auch vieles Psychologie, im gesellschaftlichen Leben ist auch vieles Psychologie. Deswegen, meine Damen und Herren, lassen Sie uns gemeinsam über Grundgewissheiten in unserer Gesellschaft reden. Ich halte es für dringend notwendig, damit diejenigen, die die einen gegen die anderen ausspielen, das nicht zum politischen Landgewinn benutzen können, damit Hass nicht die Herzen weiter füllt.

(Beifall DIE LINKE, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich betone: Alles kommt auf den Prüfstand. Die Landespolitik muss die scheinbar unverrückbaren Pfeiler ihres Handelns überprüfen und neue Antworten auf die jetzige Situation finden.

Ein erfolgreiches Krisenmanagement fordert zunächst von allen demokratischen politischen Lagern Zugeständnisse an ihre ideologischen Fundamente, das heißt, Abschied nehmen von fest zementierten Grundansichten, wie die Menschen im Osten Deutschlands 1990 Abschied nehmen mussten von ihren Ankergewissheiten, zum Beispiel dauerhaft sichere Arbeitsplätze, sichere Renten, kostenlose medizinische Versorgung, kostenlose Pflege im Alter. Auch wenn das qualitativ alles sehr kritisch zu hinterfragen ist, wird im Thüringen-Monitor aber deutlich, dass die Menschen in der Erinnerung auf einmal sagen, da haben wir viel verloren. Sie sagen nicht, was sie in der Poliklinik erlebt haben, sie sagen einfach nur, es hat sie gegeben. Deswegen sage ich, der Thüringen-Monitor ist für uns ein wichtiger Indikator, damit wir darüber reden, welche Grundgewissheiten die Menschen eigentlich von uns erwarten.

Heute lauten die Zugeständnisse: Eine konservative Kanzlerin hat die Grenzen aus einem Realismus in humanitärer Verantwortung offen gehalten und mit dem Satz „Wir schaffen das!“ eine Position bezogen, die ihr in den eigenen Reihen nicht nur

(Ministerpräsident Ramelow)

Freunde verschafft hat. Zu einem Realismus in humanitärer Verantwortung gehört es aber auch, dass ich sage: Nicht alle, die gekommen sind und noch kommen werden, werden auf Dauer bleiben können. Auch ich sage, nicht jeder Asylantrag ist von Erfolg gekrönt, aber die Verfahren müssen deutlich beschleunigt werden. Dann sage auch ich: Ja, wir schaffen das!

Sobald der Krisendruck nachlässt, werden wir uns zudem in geordneten Bahnen der Diskussion über unser Staatsbürgerschaftsrecht und über ein Zuwanderungsgesetz stellen müssen, das es uns erlaubt, Migration zu steuern.

Noch einmal: Wenn Frau Bundeskanzlerin Merkel sagt „Wir schaffen das!“, dann möge sie bitte ihrem Bundesfinanzminister sagen, dass er die Voraussetzungen schafft, dass es alle 16 Bundesländer auch schaffen können. Dann können wir zusammen sagen: Wir schaffen das!

(Beifall DIE LINKE, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dieser konstruktive Pragmatismus, verbunden mit der klaren Zielstellung einer gelungenen Integration, ist die Leitschnur für eine Veränderung der politischen Kultur in unserem Land. Wenn der Thüringen-Monitor uns Politikern eines zu sagen hat, dann doch dieses: Wenn wir verloren gegangenes Vertrauen zurückgewinnen wollen, müssen wir die Art und Weise ändern, mit der wir politische Auseinandersetzungen führen und wie wir Herausforderungen bearbeiten und vor allen Dingen lösen.

(Beifall AfD)

Wir müssen es als Alarmzeichen ansehen, dass die Demokratiezufriedenheit in allen gesellschaftlichen Gruppen gesunken und dass die Gruppe der „zufriedenen Demokraten“ zugunsten der Gruppe der „unzufriedenen Demokraten“ leider kleiner geworden ist.

Die „feinen Risse im Fundament der Demokratie“ erforderten in der Vergangenheit das geschlossene Handeln aller demokratischen Kräfte. Heute ist dieses gemeinsame Handeln dringender denn je, um das Entstehen und die Ausbreitung eines politischen Betonkrebses im Fundament der Demokratie zu verhindern.

Gemeinsames Handeln erfordert neue Formen der Kommunikation und punktuell auch der Kooperation zwischen Regierung und demokratischer Opposition und wir werden auch weiterhin die kommunale Familie in die politischen Entscheidungen einbeziehen. Darüber hinaus wollen wir einen gesellschaftlichen Diskurs unter Einbeziehung der Sozialpartner sowie der Kirchen, der Sozialverbände und nicht zuletzt der ehrenamtlichen Hilfsstrukturen, ohne die wir die letzten Monate überhaupt nicht geschafft hätten. Der Dank dafür muss der Beginn eines neu

en kooperativen Miteinanders von Staat und Zivilgesellschaft sein.

Entscheidend wird ein kontinuierlicher Dialog mit den Bürgerinnen und Bürgern sein, für den wir Formen finden müssen, damit sich die Thüringerinnen und Thüringer aktiv einbringen können. Das Signal lautet: „Die Thüringer Mitte macht mit und packt an!“ Ein gutes Beispiel dafür ist die Aktion „Mitmenschlich in Thüringen“ als ein breites Bürgerbündnis aus allen Schichten der Gesellschaft.

Nur so wird es uns gelingen, über den gegenwärtig übermächtigen Modus des Krisenmanagements hinauszuwachsen und einen Plan dafür zu entwickeln, wie wir diese Situation zum Wohl und zum Gewinn der Menschen in unserem Land gestalten. Die Frage lautet immer wieder: Wie wollen wir leben? Auf diese Frage antworte ich: Integration heißt Wachstum. Eine Thüringer Integrationsagenda muss passgenau sein mit einer Thüringer Zukunftsagenda, die an den Bedürfnissen der Thüringerinnen und Thüringer – aller Thüringerinnen und Thüringer – anknüpft und der Schaffung einer lebenswerten Heimat für alle verpflichtet ist.

(Beifall DIE LINKE, SPD)

Eine Thüringer Zukunftsagenda wird sich um die folgenden Kernelemente gruppieren: Integration von Flüchtlingen durch gute gemeinsame Wege in Ausbildung und Arbeit. Kern des Thüringer Integrationskonzepts wird ein Vierklang von Hausordnung/ Kultur, Sprache, Bildung/Ausbildung und Arbeit sein.

Gemeinsam, abgestimmt und aufeinander aufbauend werden wir mit verschiedenen Instrumenten und finanziellen Mitteln Wege in Ausbildung und Arbeit schaffen. Unsere Partner dabei sind die Agenturen für Arbeit, die Jobcenter, die Wirtschaft, die Landwirtschaft, die Kammern, das Handwerk, der Handel, die Industrie, die Sozialpartner und Bildungsträger und natürlich die gesamte kommunale Familie.

Der Weg in Arbeit und Ausbildung – also die wirkliche Integration von Flüchtlingen – wird in drei Etappen organisiert: Spracherwerb, Unterstützung bei Ausbildung und Einmündung in Arbeit. Wenn wir gemeinsam Förderketten aufbauen vom Spracherwerb über Möglichkeiten für Arbeitsgelegenheiten in Dörfern und Städten zu gezielten Kompetenzerprobungen, gezielter und unterstützter Ausbildung, Arbeitserprobungen in der Wirtschaft, Arbeitserprobungen in der Landwirtschaft und im Handwerk, so wird es uns gelingen, Flüchtlinge in Thüringen zu integrieren – der Satz heißt –, aus Flüchtlingen Neubürger zu machen. Das ist gut für die geflüchteten Menschen und für Thüringen.

(Beifall DIE LINKE, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN)

(Ministerpräsident Ramelow)