Protokoll der Sitzung vom 26.11.2015

(Beifall CDU)

Das müssen Sie sich anrechnen lassen. Da macht sich auch Perspektive für ein Bundesland fest.

Aber natürlich, die aktuelle Flüchtlingskrise ist ein zweiter Punkt, an dem man genau sehen kann und muss, dass die Menschen zu Recht, ob sie nun skeptisch sind oder nicht, erwarten, dass die Politik, die Institutionen, vor allen Dingen die Demokratie

liefern müssen. Wir dürfen ja den Bundespräsidenten nicht mehr zitieren, der gesagt hat: „Das ist unser Dilemma: [...] Unser Herz ist weit. Aber unsere Möglichkeiten sind endlich.“ Da er ehemaliger Pastor war, hat er sich mit Sicherheit an Hosea erinnert. In Kapitel 12 Vers 6 heißt es nämlich: „So bekehre dich nun zu deinem Gott und halte Barmherzigkeit und Recht und hoffe stets auf deinen Gott.“ Was sich darin wiederfindet, ist genau das, was Joachim Gauck als Bundespräsident gesagt hat: Barmherzigkeit und Recht. Wenn ich es in unsere Sprache übersetze: Mitmenschlichkeit leben und unser Recht durchsetzen und für unsere freiheitlichdemokratische Grundordnung einstehen. Das ist das, was die Menschen erwarten. Beides: Schutz den Schutzbedürftigen, Asyl den wirklich Asylbedürftigen, aber eben auch Recht durchsetzen, wer keinen Asylgrund/Fluchtgrund hat, der hat keine Bleibeperspektive in Deutschland. Es stimmt eben nicht: „Jeder Asylbewerber ist ein Neubürger“, ist der falsche Anspruch. Beides gehört zusammen: Schutz den Schutzbedürftigen und Durchsetzung des Rechts. Wo kein Grund vorliegt, gibt es auch keine Bleibeperspektive.

(Beifall CDU, AfD)

Zu Recht erwarten die Menschen, dass die Demokratie liefert. Warum denn auch nicht? Wenn wir einfordern – und ich sage jetzt ausdrücklich für uns und für viele andere –, dass die, die die Bleibeperspektive bei uns haben, unser Grundgesetz akzeptieren müssen, unsere Hausordnung akzeptieren müssen – Sie haben es mehrmals zitiert –, unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung respektieren, wissend, dass in unserer liberalen Gesellschaft Mann und Frau gleichberechtigt sind und dass Religionsausübung nebeneinander möglich ist und ausdrücklich zu unserem Staatsverständnis dazu gehört, aber eben auch das Verständnis und die Akzeptanz, wenn man an keine Religion glaubt, dass das auch zu unserem Leben gehört, erwarten doch unsere Bürgerinnen und Bürger zu Recht, dass aber zunächst auch der Staat selbst in der Lage ist, seine eigenen rechtlichen Rahmenbedingungen einzuhalten und umzusetzen. Das ist doch ganz klar. Das Erfordernis gegenüber anderen, die neu kommen, funktioniert nur dann, wenn man sich auch selbst an seine eigenen Regeln und Leitplanken hält. Deswegen muss Demokratie liefern, muss Recht und Ordnung sichern und auch durchsetzen, wenn es keinen Grund zum Aufenthalt gibt. Dazu gehören auch – das haben Sie in Ihrer Regierungserklärung richtigerweise gesagt, jetzt müssen nur noch den Worten Taten folgen – schnellere Verfahren, schnellere Abschiebung, nicht nur auf freiwillige Abschiebung setzen, sondern auch durchsetzen, wenn nach der Freiwilligkeit nichts passiert. Das erwarten die Bürger von der Landesregierung, das erwarten sie von einem handlungsfähigen Staat. Nach den Worten heute müssen Sie liefern.

(Beifall CDU; Abg. Gentele, fraktionslos)

Aber all das, was wir hier in Deutschland machen – diesen kleinen Exkurs will ich mir erlauben –, hat keinen Wert, wenn wir tatsächlich nicht vor Ort Hilfe leisten, wo die Fluchtursachen entstanden sind, in den Nachbarstaaten helfen, dort für Stabilität sorgen, dort auch eigene Perspektiven eröffnen. Nur dann funktioniert es auch, dass wir den Satz, den alle nennen, „Wir schaffen das.“ umsetzen und mit der Flüchtlingskrise so umgehen, dass sie uns nicht selbst überfordert, dass wir leistungsfähig bleiben, dass wir integrationsfähig bleiben, aber eben auch, dass wir wissen, dass es auch Grenzen der Erschöpfung und der Überforderung gibt. Ich will ausdrücklich für die Thüringer Landräte noch einmal das Wort ergreifen und die Lanze brechen, die in den letzten Wochen und Monaten immer wieder gesagt haben: Wir können nicht mehr, unsere Kapazitäten sind erschöpft. Wir wollen diese Signale an die Landesregierung senden. Es war der Landrat des Wartburgkreises, es war auch der Landrat des Landkreises Gotha und der des Eichsfelds hat es auch angekündigt. Ich will ausdrücklich die Lanze für diese Landräte brechen, die wirklich jeden Tag schier Unmögliches mit ihren Verwaltungen und mit den unzähligen Helfern in diesem Land leisten. Wenn diese Menschen vor Ort, die täglich diese Aufgabe erfüllen müssen, auch mal sagen, dass sie Luft zum Durchatmen, Zeit zur Entlastung brauchen, dann darf man diese Leute nicht verteufeln und in die rechte Ecke stellen, sondern muss ihnen dabei helfen, dass sie diese Aufgabe auch in der Zukunft meistern werden. Das wäre auch hier deutlich der falsche Ansatz.

(Beifall CDU, AfD)

Deswegen müssen wir uns darum kümmern, wie wir Fluchtursachen bekämpfen können. Daher ist es gut, was auf der Wiener Syrienkonferenz verhandelt wird, dass man weiß, man braucht die Partner im Nahen Osten alle im Boot und man braucht die großen Player aus Russland und aus Amerika und aus anderen Staaten, damit man eine Friedenslösung in Syrien hinbekommt, weil sie Ausgangspunkt für alles ist, dass sich Flüchtlingszahlen reduzieren, dass der Strom begrenzt wird und dass wir wieder ordnen können. Da würden viele den Eindruck haben, die Institutionen sind derzeit überfordert. Deswegen müssen wir Deutschen auch mehr leisten, die internationale Staatengemeinschaft insbesondere, aber eben auch die arabischen Brüder und Schwestern aus den reichen Golfstaaten. Ihr könnt die Flüchtlinge in Libanon und Jordanien und in der Türkei nicht alleinlassen in ihrem Elend in den Flüchtlingscamps dieser Welt. Da müssen alle helfen, die Deutschen insbesondere. Die Bundesregierung hat diese Woche wieder ihre Mittel für Entwicklungshilfe und für Flüchtlingshilfe aufgestockt und andere Staaten müssen bei dieser Hilfestellung folgen und helfen. Nur wenn wir

eine Perspektive vor Ort vermitteln – eine Lebensperspektive und auch eine Bildungsperspektive –, dann machen sich die Menschen nicht alle nach Europa auf. Sie brauchen aber eine eigene Perspektive, auch in den Nachbarstaaten, wo sie Zuflucht und Unterkunft gefunden haben. Gibt es diese Perspektive nicht, dann machen sie sich alle auf. Deswegen ist Hilfe vor Ort das A und O zur Bewältigung der Flüchtlingskrise auf dieser Welt.

(Beifall CDU)

Natürlich ist es vollkommen richtig, ich sage das ausdrücklich, dass unsere deutsche Bundeskanzlerin auch das Gespräch mit der Türkei sucht. Ein wesentlicher Schlüssel liegt in den Händen des türkischen Staatschefs. Es ist, wie es ist. Aber nur mit ihm gemeinsam haben wir eine Chance, dass Sicherung an der griechisch-türkischen Grenze auch wirklich stattfindet, weil wir zur Kenntnis nehmen müssen, dass die Balkanroute nicht im Balkan beginnt, sondern sie beginnt in Istanbul. Sie hängt auch eng damit zusammen, dass sich die türkische Regierung im Jahr 2010 entschieden hat, aus der bisherigen Visapflicht für Syrer, die in die Türkei gereist sind, plötzlich eine Visafreiheit zu machen. Die Menge des Flüchtlingsstroms ist losgegangen, eben weil diese Visafreiheit entstanden ist, man alle durchgewunken und die Grenze nicht mehr gesichert hat. Deswegen sind die Gespräche wichtig. Deswegen setzen so viele Hoffnung auch darauf, wenn sich der europäische Gipfel in dieser Woche ausdrücklich mit der Problematik „Türkei“ beschäftigt, dass von dort ein Signal ausgeht. Ich teile ausdrücklich auch die Einschätzung des SPD-Fraktionschefs im Deutschen Bundestag, Herrn Oppermann, der – wie wir alle – darauf setzt, dass dieser Europa-Türkei-Gipfel am Wochenende erfolgreich ist. Ist er erfolgreich, kriegen wir die Krise in den Griff. Deswegen wird große Hoffnung und großes Vertrauen in die Institutionen in Europa am Wochenende gesetzt, um auf diesem Gipfel zum durchschlagenden Erfolg zu kommen.

(Beifall CDU)

Auch da zeigt sich bei dem Blick auf die europäischen Institutionen wie auf unsere oder auf die Thüringer: Politische Handlungsfähigkeit ist das A und O. Das spiegelt sich auch im Thüringen-Monitor wider. Sinkt das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit derer, die Verantwortung haben, nimmt die Demokratieskepsis zu. Dann kriegen die Leute große Ohren für die Populisten an den Rändern, weil sie vermeintlich darauf hereinfallen und glauben, dass die Populisten, die von den Rändern hereinrufen, die besseren Lösungen hätten. Aber sie haben nicht die besseren Lösungen, sie haben nur die lauteren Antworten darauf. Das sind aber keine Lösungen. Sie würden das Land nur in die falsche Richtung führen. Deswegen müssen sich die aufmachen, die politisch handlungsfähig sind. Auch

ganz wichtig dabei ist politische Sprachfähigkeit der demokratischen Parteien in der Mitte des politischen Spektrums. Eines muss dabei klar sein, da wiederhole ich mich, aber es ich wichtig, es noch einmal zu sagen: Wir können nicht jeden mit einem Bannstrahl belegen, der bei einem der neu aufgelegten 25 Indikatoren des Thüringen-Monitors zuckt, die in den Skalen für Rechtsextremismus oder gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit zusammengefasst sind. Unser Problem sind die Antidemokraten. Unser Problem sind die Demokratieskeptiker. Unser Problem sind Einstellungen und Haltungen, durch die in Wort und Tat die Menschenwürde oder die freiheitlich-demokratische Grundordnung beeinträchtigt werden. Bei allem anderen sollten wir streiten, aber wir sollten auch gelassen bleiben und sollten uns um die Problemfelder kümmern. Da lohnt es sich, als Demokraten auch gemeinsam zu arbeiten.

(Beifall CDU)

Meine Damen und Herren, die vierte Frage möchte ich gern noch stellen: Was taugen die Instrumente wider die Feinde der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, wie gewinnen wir die Menschen und wie gewinnen wir auch Menschen zurück? Noch einmal zur Erinnerung die eigentliche Bruchlinie aus dem Thüringen-Monitor: „Gegenüber einem Regime, das durch Homogenität, Egalität, Autoritarismus gekennzeichnet war, muss sich noch immer das vor 25 Jahren etablierte plurale, auf Konkurrenz, Toleranz und friedliche Konfliktaustragung gegründete Staats- und Gesellschaftsmodell des vereinten Deutschlands behaupten.“ Die Schlüsselbegriffe dazu sind: Vielfalt, Toleranz, Weltoffenheit und demokratische Konfliktfähigkeit.

Was wir aus dem Thüringen-Monitor 2015 lernen, ist dies: Es geht dabei nicht um Rechts- oder Linksextremismus. Dazu braucht es die präventive und repressive Auseinandersetzung mit den Feinden der Demokratie, mit Rechtsextremisten genauso wie mit allen anderen Extremisten. Das ist auch etwas anderes als der pseudoantifaschistisch aufgeblasene Kampf gegen rechts mit all seinen Empörungsritualen. Ich sage ausdrücklich: Den brauchen wir nicht. Und, meine sehr verehrten Damen und Herren, wir brauchen auch keine neuen Dokumentationsstellen. Was wir brauchen, ist im Übrigen auch keine Linke, deren größter politischer Traum es ist, möglichst bald wieder eine homogene Gesellschaft herzustellen, sondern wir brauchen vor allem Demokratiefestigkeit in der Mitte. Wir erwarten, dass sich die Neuausrichtung des Landesprogramms für Demokratie, Toleranz und Weltoffenheit genau danach ausrichtet. Das ist die richtige Weichenstellung, die wir erwarten. Sie steuern in die falsche Richtung. Ich möchte es deshalb ausdrücklich sagen: Die Neuausrichtung des Programms muss genau diese Problemfelder aufgreifen.

(Beifall CDU)

Was wir brauchen, sind gute Lehrer, was wir brauchen, sind gute Sozialarbeiter und was wir brauchen, sind aufgeklärte Eltern. Es braucht Herz und Verstand und Mitmenschlichkeit, damit Demokratie in Thüringen auch in der Zukunft gelingen kann. Das ist die Lehre des Thüringen-Monitors 2015.

Ich sage es ganz zum Schluss, weil er sich mit dem Thema ausdrücklich beschäftigt hat: 25 Jahre deutsche Einheit – gut, dass die Menschen im Herbst 1989 auf die Straße gegangen sind, gut, dass sie die Mauer eingerissen haben, gut, dass sich viele aufgemacht haben –, von der ersten frei gewählten Volkskammer an, über die ersten Männer und Frauen in den wiedergewählten neu errichteten Landtagen, in den neu errichteten deutschen Bundesländern im Osten Deutschlands. Deutsche Einheit gestalten in 25 Jahren hat sich gelohnt, wir sind gut vorangekommen, wir können stolz sein auf die Entwicklung in diesem Land.

Daran haben auch viele in diesem Haus großen Anteil, dass wir so gut vorangekommen sind. Wir sollten uns nicht von denen kirre machen lassen, die skeptisch auf dieses Land schauen, sondern wir sollten jeden Tag dafür arbeiten, dass wir mehr überzeugen, noch mehr überzeugen, für die Demokratie einzustehen, für unsere Gesellschaft mit zu streiten, sich selbst mit einzubringen und dabei zu sein und nicht vom Rand aus skeptisch und nörglerisch und ohne Perspektive dazustehen, sondern anzupacken, zu helfen, für die Zukunft dieses Freistaats einzustehen. Das ist die Botschaft im Thüringen-Monitor 2015. Vielen Dank.

(Beifall CDU; Abg. Gentele, fraktionslos, Abg. Helmerich, fraktionslos)

Vielen Dank, Herr Mohring. Als Nächster erhält Abgeordneter Hey für die SPD-Fraktion das Wort.

Herr Präsident, vielen Dank. Meine sehr geehrten Damen und Herren, auch meine Fraktion hat den Thüringen-Monitor aufmerksam gelesen und auch mir selbst – das muss ich deutlich sagen – ist einiges an den Befunden, an den Werten, die bei diesen Umfragen herausgekommen sind, rätselhaft – dazu komme ich gleich noch. Lassen Sie mich aber auch danke sagen an Herrn Dr. Best und an sein gesamtes Team für die Mühewaltung, die jedes Jahr beim Erstellen dieses Werks hier vollzogen wird.

Es gibt drei Schwerpunkte in diesem ThüringenMonitor: Die Bewertung der Lage in Thüringen, die Bewertung der DDR und der deutschen Einheit sowie die Einstellung und das Engagement in der De

(Abg. Mohring)

mokratie, also dieser Punkt dann eher allgemein gefasst. Interessant ist: Alle diese Fragestellungen hängen miteinander zusammen und bieten in der Gesamtbetrachtung ein aufschlussreiches Bild, obwohl genau dieses Bild – ich habe das eingangs schon gesagt – eigentlich genug Grund zur Verwunderung bietet.

Wenn die befragten Thüringerinnen und Thüringer ihre persönliche Lage einschätzen sollen, dann kann man zusammenfassend sagen: Die Mehrheit zeichnet ein positives Bild, was die wirtschaftliche Lage betrifft. Fast zwei Drittel sagen, ihre finanzielle Lage ist gut, 8 Prozent sogar sehr gut. Fast drei Viertel meinen, im Ländervergleich muss sich Thüringen nicht verstecken. Das ist deshalb so bemerkenswert, weil auch erwiesen ist, dass das verfügbare Einkommen hierzulande durchschnittlich noch satte 16 Prozent unter dem Durchschnitt Westdeutschlands liegt. Trotzdem sagen die Leute mehrheitlich, sie sind eigentlich zufrieden, so wie sie leben, was sie verdienen und wie ihre allgemeinen Lebensstellungen hier in Thüringen sind. Wir haben eine relativ niedrige Erwerbslosenquote – nur 6 Prozent. Aber Sorge bereitet natürlich der demografische Wandel. Wir sind heute – vorhin ist das schon zur Sprache gekommen bei der Rede des Ministerpräsidenten und auch meines Kollegen Mike Mohring – rund 400.000 Thüringerinnen und Thüringer weniger als noch vor 25 Jahren und das Durchschnittsalter im Freistaat ist in diesem Zeitraum – also in diesen letzten zweieinhalb Jahrzehnten – von 38 auf stolze 47 Jahre gestiegen.

In diesen Tagen des Jahres 2015 haben wir viel über 25 Jahre deutsche Einheit gesprochen, 25 Jahre der Vereinigung zweier deutscher Länder. Deshalb wurde in diesem Thüringen-Monitor auch die Frage gestellt, und zwar in vielen Facetten – mal salopp gesagt –: Wie hältst du es mit der DDR? Ich muss erst einmal ein Kompliment machen: Der Thüringen-Monitor enthält nicht diesen schwachsinnigen Begriff „ehemalige DDR“ – das war mal rund anderthalb Jahrzehnte lang so, alle schwafelten von der „ehemaligen DDR“, was vollkommener Unsinn ist. Wenn beispielsweise mein Großvater stirbt, sage ich auch nicht, das war mein „ehemaliger Großvater“. Es gibt auch keine „ehemalige DDR“ oder eine „derzeitige“, die ist am 2. Oktober 1990 endgültig Geschichte geworden.

(Beifall CDU, DIE LINKE, SPD)

Gut so, sagen die einen. Andere haben da eine unterschiedliche, eine differenzierte Auffassung, das merken wir auch in diesem Thüringen-Monitor. Ich hatte da selbst ein ganz persönliches Erlebnis, als im September 2014 in diesem Land gewählt wurde – also vor etwas mehr als einem Jahr. Da begannen daraufhin in Thüringen Sondierungsgespräche meiner Partei mit der CDU, mit Linken und Grünen. Das war eine schöne Zeit. Wochenlang hatte die

SPD jeder lieb in einer Art und Weise, wie mir das vorher noch nie untergekommen ist.

(Zwischenruf Abg. Huster, DIE LINKE: Das ist doch jetzt auch noch so!)

In diesen Sondierungsrunden wurde auch viel über die Frage der DDR als Unrechtsstaat gesprochen, Sie erinnern sich noch an diese Debatte. Es gab etliche Leute, die mich damals angesprochen haben und sagten, sie verstehen diese Diskussion nicht so ganz. Viele haben sogar nach eins, zwei Wochen gesagt – weil das über die Medien immer mit aufbereitet wurde –, sie können das gar nicht mehr hören. Mich hat damals eine Frau bei mir im Bürgerbüro angesprochen und zu mir gesagt: Herr Hey, da war vieles nicht in Ordnung in der DDR, aber ich habe nun mal in diesem Land gelebt und geliebt und gearbeitet, und bei all den Schwierigkeiten habe ich drei Kinder großgezogen und nebenher teilweise in Schichten gearbeitet und mit meinem Mann auch etwas aufgebaut. Diese ständige Diskussion über den Unrechtsstaat führt dazu, dass ich mir irgendwie auch wie Unrecht vorkomme, als hätten meine Jahrzehnte in der DDR so einen eigenartigen Schatten. Das hatten sie ja auch, weil wir beispielsweise nicht unsere Verwandtschaft in Kiel besuchen durften und die Bananen knapp waren und die FDGB-Ferienplätze auch. Aber ich möchte – hat diese Frau gesagt – für mich selbst feststellen können, ob das gut oder schlecht war und mir nicht immer von Ihnen in Erfurt erzählen lassen, dass das alles irgendwie Unrecht gewesen wäre. – Ich habe ihr erklärt, dass es da um die Einordnung des Systems der DDR ginge und nicht um die Bewertung ihrer Lebensleistung. Aber was diese Frau mir vor gut einem Jahr sagen wollte, das findet sich eben haargenau auch in diesem Thüringen-Monitor bei der einen oder anderen Umfrage wieder. 61 Prozent der Leute sagen, die DDR war ein Unrechtsstaat – das ist ein hoher Wert. Aber von drei Leuten in Thüringen sagen mittlerweile zwei über sich selbst – also zwei Drittel –: Ich habe eine positive Einstellung zur DDR. 83 Prozent sagen sogar, die DDR hatte mehr gute als schlechte Zeiten. Das ist der höchste Wert seit 2005. Interessant ist, unter denen, die die DDR noch aktiv miterlebten – das ist die sogenannte Erlebnisgeneration, wie ich jetzt gelernt habe –, sagen das 67 Prozent. Die ganz Jungen unter uns – also die, die nach 1975 geboren wurden und die die DDR in dieser Form gar nicht mehr so aktiv miterleben konnten – sagen das immer noch zu 54 Prozent, also mehr als die Hälfte. An der Schulbildung kann das eigentlich nicht liegen. Ich habe mir vor Jahren mal das Geschichtsbuch meines Sohnes angesehen. Da stand schon sehr viel drin, beispielsweise auch über Repressalien in der DDR, über die Mauer, über die Staatssicherheit. Es müssen also Schilderungen der älteren Generation an die Jüngeren sein, es müssen Überlieferungen sein, die Anlass

dafür sind, dass solche Werte entstanden sind. Man sagt ja, die Zeit hat Rückscheinwerfer und die vergolden alles.

In sämtlichen Befragtengruppen gibt es eine Tendenz zur positiven Einstellung zur DDR und des in der DDR gelebten Sozialismus. Ein Viertel der Befragten bewertet sogar in Bezug auf das Sicherheitsempfinden die staatliche Überwachung positiv. Das muss man sich mal vorstellen. Dann macht natürlich ein Wort die Runde, das alles sei DDR-Nostalgie. Das muss vor allen Dingen denen bitter aufstoßen, die in diesem System viel Unrecht erlitten haben, die in unterschiedlichster Form gegängelt wurden, von der Verweigerung eines Studienplatzes bis zur Einzelhaft in Stasi-Gefängnissen, zum Beispiel in Hohenschönhausen. Es gibt so viele Fälle von Unrecht. Die heute noch engagierten Opferverbände wissen das, denen an dieser Stelle auch ein herzlicher Gruß gilt,

(Beifall CDU, DIE LINKE, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN; Abg. Helmerich, fraktions- los)

und ein Dank für die stetige Arbeit des Erinnerns daran.

Aber, und auch das ist eine Tatsache, viele Menschen hatten sich auch irgendwie arrangiert mit diesem System, mit diesem Leben in der Gesellschaft in dieser DDR. Noch augenscheinlicher sind folgende Daten: Mehr als zwei Drittel der Leute sagen, mit der Wiedervereinigung ist neues Unrecht geschaffen worden – mehr als zwei Drittel. Ganz drastisch ausgedrückt: Die DDR wollen die Wenigsten wiederhaben, viele haben sie als Unrechtsstaat empfunden, aber viele empfinden auch das neue System zumindest in Teilen als ungerecht. Sie sehen sich benachteiligt. Man nennt das im Thüringen-Monitor auch die „Ostdeprivation“. Das ist auch ein Wort, das ich jetzt neu gelernt habe. Vorher kannte ich es nicht, aber es umschließt, wie gesagt, genau dieses Stimmungsbild.

Ich muss all diese Umfragewerte nicht unbedingt persönlich verstehen, aber ich kann zumindest versuchen, das nachzuempfinden. Ich kann diesen Thüringen-Monitor, das will ich gleich eingangs sagen, nicht völlig neutral verfolgen. Das liegt daran, dass ich quasi gelernter DDR-Bürger bin. 20 Jahre war ich alt, als die DDR unterging, also habe ich einen Großteil meiner Jugend in diesem Land verbracht. Da kann man das nicht ausblenden und auch nicht völlig wertfrei sein, wenn man solche Umfragewerte sieht. Vor allem dann nicht, wenn einem in den letzten 25 Jahren Bevölkerungsteilnehmer aus dem Westen Deutschlands über den Weg laufen und mir erzählen wollen, wie das alles so war in der DDR, obwohl sie vor dem Fall der Mauer zum Teil nicht ein einziges Mal hier waren.

(Zwischenruf Abg. Rothe-Beinlich, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Manchmal auch danach nicht.)

Das gab es vor Jahren noch ganz oft. Es ist etwas seltener geworden, kommt aber in schöner Regelmäßigkeit immer noch vor. Auf solche Leute habe ich gerade noch gewartet, das will ich an dieser Stelle auch noch einmal sagen.

(Beifall DIE LINKE, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich habe – genauso wie viele andere hier auch – erlebt, wie das nach dem 9. November 1989 war, als natürlich auch viele Menschen aus der damaligen Bundesrepublik hier in die DDR gekommen sind. Sie waren leicht zu erkennen, hatten schicke Brillen und Kaltwellen und die Mäntel und die Handtaschen. Die haben sich dann meistens umgeschaut in unseren Innenstädten, auch bei mir zu Hause, und dann haben sie meist im besten hannoverschen Dialekt und manchmal auch oberlehrerhaft gesagt: Da muss aber noch viel gemacht werden hier, nicht? Etliche haben uns erklärt, jetzt müsse man die ganzen heruntergekommenen Innenstädte ordentlich putzen und wienern und anstreichen und sanieren und die Straßen in Ordnung bringen und dann wird das schon alles werden. Ich sage Ihnen eins: Damit ist es nicht getan. Das war aber das Grundverständnis vieler, die zum ersten Mal mit uns in Kontakt kamen. Binnen kürzester Zeit – und das ist ein Fakt – hatten sich 16 Millionen Menschen eines Landes, das es dann nicht mehr gab, auf völlig neue Voraussetzungen einzustellen, von der Arbeitswelt bis zu Kaufverträgen von Gebrauchtwagen, auf eine Währungsumstellung mit neuem Geld und neuen Preisen, die Höhe der Mieten, ein komplett anderes Rechtssystem, das alles hatte sich rasend geändert. Das Einzige, was zwischen diesen beiden Staaten gleich geblieben ist, war eigentlich die Sprache. Obwohl, da hat man uns dann auch sehr schnell vermittelt, dass ein Broiler jetzt ein Grillhähnchen ist und ein Polylux ein Overheadprojektor. Wer Zug fährt, der steht auch nicht mehr auf einem Bahnsteig, sondern an einem Gleis, wobei das völliger Irrsinn ist. Stellen Sie sich mal vor, wenn ein Zug einfährt oder wenn der am Bahnhof so durchdonnert, wie manche Güterzüge, wollen Sie dann lieber auf dem Bahnsteig stehen oder an einem Gleis? Also. In wenigen Minuten wird es auch – na gut, in rund einer Dreiviertelstunde – für mich zum Beispiel drei viertel zwölf sein – das sage ich so – und nicht viertel vor zwölf. Ich sage auch, ich habe heute Mittag eine Dreiviertelpizza geschafft und nicht, ich habe eine viertel vor einer Pizza gegessen. Das sagt kein Mensch.

(Heiterkeit DIE LINKE, SPD, BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

In dieser bewegten Zeit aber – wenn wir mal auf die Situation zurückkommen, die 1989 hier in diesen

Breiten geherrscht hat – haben auch viele gelernt, dass es Mitbürger aus dem anderen Teil Deutschlands gab, die nicht nur das Wohl des Menschen im Kopf hatten, sondern die windige Versicherungsverträge im Gepäck hatten, schrottreife Gebrauchtwagen, unnütze Zeitungsabos, und wiederum andere kamen in Nadelstreifen in die Betriebe und schauten sich um und vielfach wurde aus dem Umschauen dann ein Abwickeln. Diese Ostdeprivation, von der im Thüringen-Monitor die Rede ist, die muss auch Gründe haben und die liegen unter anderem in diesen bewegten Zeiten zwischen 1989 und dem Beginn der 90er-Jahre. Da haben viele Menschen feststellen müssen, dass die Landung in diesem neuen System sehr unsanft und sehr hart war.

Und noch etwas zu diesem Thema „Ostdeprivation“: Ich finde das sehr interessant, im ThüringenMonitor ist eine Art Begriffssammlung aufgelistet, die bei der Befragung über die Zustandsbeschreibung des Lebens in der DDR entstand. Ein Wort ist bei den meisten Befragten ein sehr zentrales: Wenn sie nämlich gefragt wurden, was denn in der DDR ein entscheidendes Kriterium war, antworteten die meisten mit dem Wort „Zusammenhalt“. Das ist also ganz, ganz groß. Sie können das, wenn Sie durchblättern, an verschiedenen Stellen in diesem Thüringen-Monitor finden.