Protokoll der Sitzung vom 01.09.2016

Wir treffen uns hier am Samstag wieder zu einem Fest der Kulturen und das heißt „Achava“, Brüderlichkeit – man könnte es auch modern „Schwesterlichkeit“ nennen. Da muss man in der Tat mit den Betroffenen selbst mal reden und fragen: Wie sieht denn überhaupt eine demokratische, eine freie Gesellschaft aus? Wie ermöglichen wir religiöse Toleranz und wie ermöglichen wir Leuten durch unser

Vorbild vielleicht auch, von übertriebenen religiösen Symbolen Abstand gewinnen zu können? Das ist eine inhaltliche Debatte. Das ist eine Debatte um Toleranz und um Freizügigkeit, aber keine über gesetzliche Verbote, über die Kriminalisierung von burkatragenden oder vollverschleierten Frauen und über die Gleichsetzung, dass die sozusagen islamistische Angriffswaffen wären. Es ist heute schon öfter zitiert worden: Die Zeitung „DIE ZEIT“ hat immer so schöne Artikel, die heißen „Torte der Wahrheit“. Da steht: Anteil burkatragender Frauen an islamistischen Gewaltakten null, Anteil hosentragender Männer 100 Prozent.

(Beifall SPD)

Was schließen wir daraus? Dass es mit der Burka eben nicht dieses große Geheimnis und diesen großen Hexenzauber auf sich hat, den Sie daraus machen wollen. Wir verwahren uns auch hier seitens meiner Partei gegen diese wirklich irregeleiteten Angriffe auf eine religiöse Symbolik, die man nicht teilen muss – ich finde sie auch nicht toll –, aber die man ertragen kann und ertragen sollte.

(Beifall DIE LINKE, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Weitere Wortmeldungen von Abgeordneten liegen mir nicht vor, sodass ich für die Landesregierung Herrn Minister Lauinger das Wort erteile.

Sehr geehrter Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordneten, nach den Redebeiträgen aus den Fraktionen von CDU, Grünen, Linken und SPD kann ich mich, glaube ich, kurzfassen. Die Landesregierung lehnt den Gesetzentwurf der AfD-Fraktion zu einem Thüringer Gesetz „Schutz des öffentlichen Raums als Sphäre der Freiheit“ ab.

(Zwischenruf Abg. Möller, AfD: Nein!)

Der Gesetzentwurf zielt darauf ab, das Tragen einer Gesichtsverschleierung im öffentlichen Raum generell zu verbieten. Neben Burkas soll auch das Tragen eines Gesichtsschleiers, der nur einen schmalen Schlitz für die Augen freilässt, der sogenannte Niqab, verboten werden. Ausnahmen von diesem bußgeldbewährten Verbot sollen nur in eng begrenzten Fällen zulässig sein, etwa bei Gefahren für Leib oder Leben oder, auch das wurde schon zitiert – ich zitiere –, „für die Dauer der Ausübung regional oder bundesweit verankerter volkstümlicher Bräuche“. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich frage Sie: Wer in Thüringen braucht derartige Vorschriften?

(Zwischenruf Abg. Möller, AfD: Wir!)

(Abg. Marx)

In dem Gesetzentwurf findet sich hierzu nichts. An keiner Stelle wird darauf eingegangen, ob ein tatsächliches Bedürfnis für ein solch weitreichendes Verbot besteht. Ausführungen zur Anzahl der Frauen, die in Thüringen tatsächlich eine Vollverschleierung tragen, sucht man in der Begründung des Gesetzentwurfs vergeblich.

(Zwischenruf Abg. Möller, AfD: Das machen wir in der Ausschussarbeit!)

Zudem setzt sich der Gesetzentwurf nur höchst unzureichend mit der Verfassungsrechtslage auseinander. Frau Rothe-Beinlich und Herr Scherer haben dies bereits ausführlich dargestellt. Artikel 4 Grundgesetz und Artikel 39 der Thüringer Verfassung garantieren die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses, wie auch das Recht der ungestörten Religionsausübung. Zu diesen Rechten zählt die Freiheit, seinen Glauben, gegebenenfalls auch durch das Tragen eines Kleidungsstücks, nach außen zu bekunden. Die Religionsfreiheit ist ein Menschenrecht für jedermann.

(Beifall DIE LINKE, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Auf sie können sich nicht nur Deutsche, sondern auch Ausländer berufen. Sie wird von der Verfassung vorbehaltlos gewährt, das heißt, Eingriffe sind nur zum Schutz der Grundrechte anderer oder zum Schutz von Rechtsgütern mit Verfassungsrang zulässig. Auch hier schweigt sich der Gesetzentwurf aus, welche Grundrechte Dritter durch das Tragen einer Burka verletzt sein sollen oder welche konkreten Gefährdungen sich hierdurch für Rechtsgüter von Verfassungsrang

(Zwischenruf Abg. Möller, AfD: Das stimmt überhaupt nicht. Das steht dezidiert drin. Sie haben es nicht gelesen!)

ergeben könnten. Auch hierzu sucht man nachvollziehbare Ausführungen in der Gesetzesbegründung vergeblich.

Soweit in der Begründung des Gesetzentwurfs der AfD ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte herangezogen wird, so geht auch dieser Verweis fehl. Dieses Urteil bezieht sich ausschließlich auf französisches Recht und die Maßstäbe der französischen Verfassung. Die französische Verfassung unterscheidet sich jedoch deutlich vom Grundgesetz und der Verfassung des Freistaats Thüringen. Frankreich betrachtet die Religion als reine Privatsache. In Deutschland dagegen haben die Bürger aufgrund Ihrer Menschenwürde individuelle Freiheitsrechte und sowohl das Grundgesetz als auch die Thüringer Verfassung schützen den Bürger vor staatlichen Eingriffen. Der Verfassungsgeber hat sich bewusst entschieden, auch die Religionsfreiheit als Abwehrrecht auszugestalten, das die Bürger vor Eingriffen des Staats schützt.

Schließlich: Der freiheitliche Staat lebt davon, dass er sich grundsätzlich – auch das hat Herr Scherer ausgeführt – nicht darum kümmert, was seine Bürger meinen, glauben, tun oder tragen.

(Zwischenruf Abg. Möller, AfD: Es gibt auch negative Religionsfreiheit!)

(Beifall DIE LINKE, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Nach unserer Verfassungsordnung kann jeder das tun oder lassen, was er will, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt oder gegen die verfassungsgemäße Ordnung verstößt. Der demokratische Gesetzgeber hat das Spannungsverhältnis zwischen den Verfassungsgütern zu lösen. Er hat hierbei stets die Lösung zu wählen, die für alle, gerade auch für Minderheiten, die größtmögliche Wahrung ihrer Rechte bedeutet.

Wie immer der einzelne zur Religion und zu religiösen Bekenntnissen in der Öffentlichkeit steht, ein verfassungsrechtlich tragfähiger Kompromiss kann keinesfalls darin bestehen, dass das Tragen einer Burka oder eines Niqab im öffentlichen Raum komplett zu verbieten ist. Aus Sicht der Landesregierung ist der Gesetzentwurf der AfD-Fraktion daher abzulehnen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall DIE LINKE, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Danke schön. Ich habe jetzt keinen Antrag auf Ausschussüberweisung gehört – Herr Möller?

Wir beantragen die Überweisung an den Ausschuss für Justiz, Migration und Verbraucherschutz und – damit der Gleichstellungsausschuss einmal etwas Vernünftiges zu tun bekommt –

(Zwischenruf Abg. Stange, DIE LINKE: Un- verschämt!)

an den Gleichstellungsausschuss und da eben auch federführend.

Ich glaube, dass der Gleichstellungsausschuss durchaus genug zu tun hat, aber federführend der Gleichstellungsausschuss. Gut. Dann stimmen wir ab. Wer für die Überweisung des Gesetzentwurfs der AfD-Fraktion an den Ausschuss für Gleichstellung ist, den bitte ich jetzt um das Handzeichen. Das sind die Stimmen der AfD-Fraktion, eine Stimme aus der CDU-Fraktion. Gegenstimmen? Aus den Koalitionsfraktionen und ganz viele Stimmen aus der CDU-Fraktion. Somit mit Mehrheit abgelehnt.

(Minister Lauinger)

Wer für die Überweisung des Gesetzes an den Ausschuss für Migration, Justiz und Verbraucherschutz ist, den bitte ich jetzt um das Handzeichen. Das sind die Stimmen der AfD-Fraktion. Gegenstimmen? Aus den Koalitionsfraktionen. Enthaltungen? Aus der CDU-Fraktion. Damit auch mit Mehrheit abgelehnt.

Ich schließe damit diesen Tagesordnungspunkt und rufe als nächsten Tagesordnungspunkt 11 auf

Fünftes Gesetz zur Änderung der Verfassung des Freistaats Thüringen (Gesetz zur Einfüh- rung von Verfassungsreferen- den) Gesetzentwurf der Fraktion der AfD - Drucksache 6/2559 ERSTE BERATUNG

Wünscht die Fraktion das Wort zur Begründung? Das ist der Fall. Dann, Herr Brandner, haben Sie das Wort.

Meine Damen und Herren, so ein ähnliches Thema hatten wir heute schon mal. Wir hätten es gern zusammen besprochen, aber das wurde von Ihnen allen abgelehnt.

Die Verfassungen, meine Damen und Herren, sind die Grundlagen des Staatswesens. Man kann sich sicherlich darüber streiten, ob über komplizierte Fachfragen vom Volk direkt abgestimmt werden soll. Ohne Streit lässt sich aber wohl sagen, dass Änderungen der Grundlagen unseres Staatswesens eine Entscheidung des Volks erfordern.

Der Gesetzentwurf der AfD-Fraktion zur Einführung von Verfassungsreferenden soll genau diese Mitbestimmung des Volks bei Verfassungsänderungen statuieren und greift somit auf dem neu entdeckten Spielfeld der CDU in diesem Sinne vor. Als die Thüringer Verfassung Anfang der 90er-Jahre erarbeitet wurde, hatte die CDU die Mitwirkung der Öffentlichkeit ausgeschlossen, so wie die CDU bis zu ihren desaströsen Umfragewerten und bis zur Verabschiedung des AfD-Parteiprogramms auch Volksentscheide ausgeschlossen hatte. Damals war die CDU noch konsequenter, aber dieses Thema hatten wir vorhin schon. Auf Antrag der CDU fanden damals die Ausschusssitzungen nicht öffentlich statt. Mir wurde gesagt, ein Herr Stauch von der CDU wäre damals der Vorsitzende des Verfassungs- und Geschäftsordnungsausschusses gewesen, und der hätte gesagt: „Wir schließen die Öffentlichkeit aus, denn wenn wir zu den fünf vorhandenen Meinungen noch 50 andere hereinbekommen, kommen wir zu gar keinem Ergebnis.“ Das war damals die Auffassung der CDU von Demokra

tie, also möglichst wenig beteiligen, damit wenig Meinungen zusammenkommen. Das war übrigens auch noch bis vor Kurzem die Auffassung der CDU, was Volksabstimmungen angeht. Seit jeher bestehen übrigens Zweifel, wenn man sich so ein bisschen mit der Materie beschäftigt, ob das Volk überhaupt alle Informationen vorliegen hatte, als es 1994 über die Verfassung abstimmen durfte oder sollte. Es gibt nämlich erhebliche Anhaltspunkte dafür, dass nicht alle Informationen vorlagen, die hinter verschlossenen Türen ausgekungelt worden waren, wo das Volk keinen Zugriff hatte. Interessanterweise, Herr Blechschmidt – er telefoniert gerade –, hat auch die PDS diese Position, dass also nicht alle Informationen vorlagen, lange Zeit vertreten und sprach von einem „massiven Informationsdefizit“ der Bevölkerung.

Meine Damen und Herren, auch die Änderungshistorie der Verfassung zeigt, warum die Bürgerbeteiligung bei Verfassungsänderungen notwendig ist. Nehmen wir zum Beispiel die Einführung des Artikels 105 a. Durch die Indexierung der Abgeordnetenentschädigung wären die Diäten bereits 1996 auf damals sagenhafte 3.800 Euro gestiegen, das war in einer Wirtschaftsrezession. Das war damals sogar der CDU zu üppig und deshalb musste in die Verfassung reingeschrieben werden, ohne Bürgerbeteiligung, dass das gedeckelt wird. Was meinen Sie, was passiert wäre, wenn die Bürger öffentlich darüber diskutiert hätten. Es wäre ein Sturm der Entrüstung über das Land gefahren.

Auch die vierte Verfassungsänderung drehte sich wieder um die eigenen Befindlichkeiten hier im Landtag und darum, eigene Pfründe zu sichern. Wieder musste bei der vierten Verfassungsänderung die automatische Diätenerhöhung ausgesetzt werden, weil die Diäten ansonsten durch die Decke gegangen wären. Da stellt sich wieder die Frage: Was wäre passiert, wäre das öffentlich diskutiert worden? Die Bürger wären auf die Barrikaden gegangen.

(Beifall AfD)

Wenn der Landtag, das sehen Sie daran, bisher die Verfassung geändert hat, dann tat er es, um seine Privilegien zu erhalten, und das hat mit Bürgernähe nichts zu tun. Sie von den Altparteien haben alle an der Verfassung nur herumgewerkelt und herumgemacht, wenn es darum ging, Ihre Pfründe zu sichern. Das war bei den Diätenanpassungen so – ich hatte das vorhin erwähnt – und das war auch bei der Verlängerung der Legislaturperiode von vier auf fünf Jahre so, wo sich zunächst die PDS dagegen gesträubt hatte. Nein, vier Jahre wäre die demokratische Herausforderung, fünf Jahre kämen fast einer Abschaffung des Wahlrechts gleich, so wie das immer gehandhabt wird. Aber schwups kam es dann zu irgendwelchem Kuhhandel und die PDS – heute Die Linke – war plötzlich auch dafür,

(Präsident Carius)

die Legislaturperiode auf fünf Jahre zu verlängern. Aber das kennen wir ja von den alten Parteien und Wendehälsen zur Genüge.

Meine Damen und Herren, wenn die Verfassung demnächst wieder mal geändert werden soll, muss also das Volk deshalb daran beteiligt werden. Verfassungsänderungen sollen nur noch zusammen mit dem Volk stattfinden und nicht hier im Landtag ausgekungelt werden. Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus oder der eine will Volksabstimmungen bzw. fakultative Referenden einführen, der andere kommt dann mit dem Wahlalter, sodass da gekungelt wird. Das soll ausgeschlossen werden. Hinzu kommt, dass das Parlament auch bei der Verfassungsänderung eine recht geringe Legitimation hat. Wir haben eine Wahlbeteiligung von gut 50 Prozent beim letzten Mal gehabt. Für eine Verfassungsänderung ist im Landtag eine Zweidrittelmehrheit erforderlich. Das entspricht dann nur ungefähr 30 Prozent der Wahlberechtigten. Also da ist hier im Parlament die Legitimation auch nicht vorhanden, wenn mit Zweidrittelmehrheit abgestimmt wird.

Das politische System, meine Damen und Herren, braucht erstens Neuerungen. Die sind da, die sitzen um mich herum in der AfD-Fraktion. Das System braucht zweitens mehr Mitwirkung der Bürger, da sind wir auf gutem Wege, auch die CDU hechelt uns da inzwischen hinterher. Es braucht drittens mehr Legitimation, dafür sorgt unser Antrag, den wir hier eingebracht haben. Und schließlich, viertens – und damit können Sie zeigen, ob Sie es ernst meinen mit der Bürgerteilhabe – bedarf es Ihrer Zustimmung zu unserem Antrag. Vielen Dank.

(Beifall AfD)

Danke schön, Herr Brandner. Damit eröffne ich die Beratung und als Erste erhält Abgeordnete Marx für die SPD-Fraktion das Wort.

Herr Präsident, verehrte Kolleginnen und Kollegen, das zentrale Argument gegen Ihren Vorschlag hat die CDU-Fraktion schon in der Debatte zum Tagesordnungspunkt 8 genannt, das war der Fraktionsvorsitzende Mike Mohring, und zwar: Es geht hier nicht um eine Volksbeteiligung als Initiative aus der Bevölkerung selbst heraus, indem Bürgerinnen und Bürger sagen, ja, hier wollen wir mitbestimmen. Das wäre auch Gegenstand des fakultativen Referendums bzw. jetzt schon bestehender Möglichkeiten, Volksbegehren zu machen. Sondern bei Ihnen ist es so, dass die Bevölkerung immer abstimmen muss, wenn die Verfassung geändert werden soll. Für so eine Verpflichtung für die Bürger, dass die durch repräsentative Demokratie an das Parlament

delegierte Macht eingeschränkt werden soll und niemals gelten soll, wenn es sich um Verfassungsänderungen handelt, für eine solche Zurückdelegierung sehen wir keine Veranlassung und keinen Grund.