Protokoll der Sitzung vom 04.05.2017

(Beifall DIE LINKE)

Als arm gilt in Europa jede und jeder, der weniger als 60 Prozent des mittleren Nettoeinkommens seines Landes zur Verfügung hat; also für eine Familie in Deutschland mit zwei Kindern unter 14 Jahren wäre das weniger als 1.926 Euro im Monat netto. Dies betrifft bis zu 19 Prozent aller Kinder; in Ostdeutschland ist sogar jedes vierte Kind von Armut bedroht. Fünf von 100 Minderjährigen leiden unter „erheblichen materiellen Entbehrungen“, wie es das Bundessozialministerium ausdrückt.

Bei Kindern von Alleinerziehenden ist das Risiko, in Armut aufzuwachsen, sogar mehr als doppelt so hoch wie in Zwei-Eltern-Familien. Wie Ministerin Heike Werner bereits in der Regierungserklärung erwähnte, leben allein in Thüringen fast 50.000 Kinder und Jugendliche in sogenannten Bedarfsgemeinschaften. Das bedeutet, dass 15 Prozent aller Kinder und Jugendlichen unter 18 Jahren in Thüringen auf Hartz IV angewiesen sind. Das sind etwa 1.500 mehr als es noch vor zwei Jahren waren.

(Zwischenruf Abg. Mohring, CDU: Eure Re- gierungspolitik!)

Die Quote für die unter 15-Jährigen, die auf Hartz IV angewiesen sind, ist noch höher; da sind es sogar 16 Prozent.

(Zwischenruf Abg. Mohring, CDU: Rot-Rot- Grün wirkt, da kannst du nicht meckern!)

Da komme ich jetzt hin.

Aber warum ist das denn so, warum scheint es denn so, dass kein Hilfsprogramm greift und dass Kinderarmut bundesweit stetig zunimmt? Häufig werden bei der Beantwortung dieser Frage Ursache

und Auslöser verwechselt. Nehmen wir zum Beispiel eine junge Familie, welche sich nach der Geburt des dritten Kindes trennt. Die Kinder verbleiben einvernehmlich bei der Mutter, welche noch in Erziehungszeit und nun für die nächsten Monate von Transferleistungen abhängig ist. In diesem Moment sind wir doch alle der Versuchung unterlegen, die Ursache der Verarmung dieser Familie in der überdurchschnittlich hohen Kinderanzahl und in der Trennung der Eltern zu sehen, und genau da liegt der Fehler. Diese Faktoren sind lediglich der Auslöser.

(Beifall DIE LINKE)

In Wahrheit aber war die Familie schon vor der Geburt der Kinder und vor der Trennung der Eltern unzureichend vor Verarmung gesichert und dieser strukturelle Fehler stellt die eigentliche Ursache dar.

(Beifall DIE LINKE, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ursache sind also strukturelle Zusammenhänge der gesellschaftlichen Verhältnisse, Auslöser dagegen bestimmte individuelle, oftmals unfreiwillige Ereignisse im Lebenslauf, welche die zugrunde liegenden Verhältnisse erst vollends zur Wirkung kommen lassen.

(Zwischenruf Abg. Mohring, CDU: Klatscht doch wenigstens mal, Genossen!)

In den vergangenen Jahrzehnten kam es in Deutschland zu einer Umstrukturierung fast aller Gesellschaftsbereiche nach den Markterfordernissen, kurz Globalisierung genannt. Dadurch entstanden vermehrt atypische, prekäre Beschäftigungsverhältnisse. Arbeitnehmerinnen und damit logischerweise auch Eltern haben daher oftmals kein ausreichendes Einkommen oder, wie zum Beispiel bei Minijobs, noch nicht einmal einen sozialrechtlichen Schutz. Des Weiteren durften wir Zeugen des Um- und des Abbaus unseres Sozialstaats werden. Das Inkrafttreten der Gesetze von Peter Hartz stellt eine Zäsur in der Entwicklung von Armut und Unterversorgung in Deutschland dar und eröffnet ganz neue Zonen der Armut.

(Beifall DIE LINKE)

Wenn aber nun Armut von vielen Kindern die primäre Folge der Globalisierung und der neoliberalen Umstrukturierung ist, dann müssen wir auch deren Pendant, also das Gegenstück, mit in den Blick nehmen, nämlich den Reichtum von wenigen Erwachsenen. Wenn wir Kinderarmut wirklich mit Erfolg bekämpfen wollen, müssen wir endlich anfangen, die Reichen zur Kasse zu bitten.

(Beifall DIE LINKE)

Zum Beispiel, wie es meine Kollegin Frau Stange schon sagte, durch die Wiedereinführung der Ver

mögensteuer oder durch die Erhöhung der Erbschaftsteuer, um dem Staat die nötigen Finanzmittel zu verschaffen, denn die Antwort auf Kinderarmut kann nur der Ausbau des Sozialstaats sein.

(Beifall DIE LINKE, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Hier benötigen wir einen Paradigmenwechsel, weg vom schlanken, ja geradezu ausgedörrten Sozialstaat, hin zum interventionsfähigen, breit aufgestellten. Außerdem brauchen wir eine neue zeitgemäße Beschäftigungspolitik, denn um Kinderarmut zu vermeiden, müssen existenzsichernde Arbeitsplätze für alle Eltern geschaffen werden. Wir müssen anfangen, darüber zu reden, wie wir in Deutschland Arbeit, Einkommen und Vermögen so umverteilen können, dass es für alle zum Leben reicht.

(Zwischenruf Abg. Mohring, CDU: Ihr regiert doch! Macht es doch!)

Bis dahin müssen aber zuerst die Hartz-IV-Regelsätze für Kinder und Jugendliche spürbar angehoben werden. Außerdem darf der Bedarf der Kinder nicht länger von Erwachsenen abgeleitet, sondern muss dabei eigenständig ermittelt werden, denn Kinder sind eben keine kleinen Erwachsenen. Genau das hatte auch schon das Bundesverfassungsgericht deutlich gemacht. Ebenso sagte dieses, dass Ausgaben für die Erfüllung schulischer Pflichten zum Existenzminimum von Kindern gehören. Die Bundesregierung hat aber mit dem Bildungsund Teilhabepaket ein derart bürokratisches Monstrum geschaffen, das bewirkt, dass die Leistungen oftmals gar nicht erst bei den Kindern ankommen. Die Entscheidungen der Bundesregierung zum Kinderzuschlag, Kindergeld oder zu den Regelleistungen nach Hartz IV sind zur Verhinderung von Kinderarmut völlig unzureichend. Ich empfinde es zum Beispiel als höchst fahrlässig, Kindergeld auf den Unterhaltsvorschuss oder die SGB-II-Leistungen anzurechnen. Damit verwehren wir den Familien, die sowieso nicht genug Geld zur Verfügung haben, auch noch das letzte bisschen Hilfe.

(Beifall DIE LINKE)

Das hat teilweise fatale individuelle Folgen, die wir hier, so wie wir hier alle sitzen, bequem in unseren Sesseln, gar nicht ermessen können. Daher werden wir uns als Linke weiterhin für eine öffentliche Infrastruktur starkmachen, die allen Kindern Förderung und Teilhabe ermöglicht: Eine gebührenfreie Bildung, die soziale Unterschiede ausgleicht und gleiche Chancen eröffnet, eine familienfreundliche Arbeitswelt mit guten Arbeitsbedingungen, die allen gesellschaftliche Teilhabe und finanzielle Sicherheit gewährt, den Aufbau des Sozialstaats, der die von Armut Betroffenen nachhaltig unterstützt und den Namen „Sozialstaat“ auch wieder verdient.

(Beifall DIE LINKE)

Wir werden uns einsetzen für eine eigene Kindergrundsicherung für alle Kinder, egal woher sie kommen. Denn nur so ist es unseres Erachtens möglich, die Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen nachhaltig zu verbessern und das Phänomen Kinderarmut ein für allemal zu überwinden. Vielen Dank.

(Beifall DIE LINKE, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es liegen mir jetzt keine – Herr Abgeordneter Henke, Fraktion der AfD, Sie haben das Wort.

Vielen Dank, Frau Präsidentin. Werte Abgeordnete, während ich die Debatte heute verfolgt habe, kam ich mir vor wie in einem Panoptikum.

(Zwischenruf Abg. Harzer, DIE LINKE: Nein, es wird immer schlimmer!)

Wir haben Leute in diesem Land, die haben 30 Jahre gearbeitet, sind nach 30 Jahren in Hartz IV gegangen, weil ihre Firma aufgehört hat zu existieren. Nach einem Jahr Arbeitslosigkeit fallen diese Leute auf Hartz IV, das heißt, sie stehen vor den Trümmern ihrer Existenz. Aus diesen Trümmern heraus müssen sie auf das Arbeitsamt gehen oder auf das Amt und müssen vorweisen, was sie in den letzten 30 Jahren erarbeitet haben, das heißt, ihre Einkommen, ihre Häuser, ihre Autos. Das alles müssen sie auf den Altar legen, um dann festzustellen: Jetzt bin ich würdig, Hartz IV zu bekommen. Wenn wir das nicht ändern, werden wir in diesem Land nicht vorankommen.

(Zwischenruf Abg. Kobelt, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Was hat das mit Panoptikum zu tun?)

Das Gleiche – Altersarmut. Das kam hier heute viel zu kurz. Gehen sie raus zu den Rentnern. Ich kenne eine ganze Menge Rentner, die nebenbei noch aufstocken müssen oder arbeiten gehen, weil sie ganz einfach mit ihren schmalen Renten nicht über die Runden kommen. Das ist die große Krux in unserem Land. Gehen Sie raus, erklären Sie das diesen Leuten. Gehen Sie hin, Sie machen es nicht. Sie haben mit Eintritt in diese Koalition Ihre soziale Kompetenz hier draußen am Kleiderhaken abgegeben. Ihr eigener Ministerpräsident hat damals in seiner Antrittsrede gesagt: Wir werden die Arbeitgeber unterstützen und wir werden die Gewerkschaften unterstützen. Dieser Stein wird Ihre Koalition in die Tiefe ziehen, und ich wünsche es mir und ich hoffe noch vor Ende der Frist. Das wäre eine Freude für unser Land. Vielen Dank.

(Beifall AfD)

(Abg. Engel)

(Zwischenruf Abg. König-Preuss, DIE LINKE: Das war doch nicht einmal ein Satz! Das war doch nicht einmal ein Satz!)

Gibt es weitere Wortmeldungen aus den Reihen der Abgeordneten? Das kann ich nicht erkennen. Frau Ministerin Werner, Sie haben das Wort.

Sehr geehrte Frau Präsidentin, verehrte Kolleginnen und Kollegen des Thüringer Landtags, ich möchte mich zuallererst für die Debatte hier bedanken. Ich möchte mich bedanken bei den Koalitionsfraktionen, ich möchte mich bei Herrn Thamm sehr herzlich bedanken. Ich glaube, es war eine Debatte, die von den meisten von sehr viel Sachkenntnis geprägt war und ich bin gespannt auf die zukünftigen Diskussionen. Herr Thamm, eine Sache muss ich hier trotzdem – weil wir es letztlich im Ausschuss noch länger diskutieren werden – zum Programm der öffentlich geförderten Beschäftigung sagen: Ich bin deswegen unzufrieden, weil natürlich der Bedarf in Thüringen viel größer ist. Wenn der Bund endlich darauf eingehen würde, einen PassivAktiv-Transfer zu ermöglichen, könnten wir den Bedarfen, die wir hier in Thüringen haben, auch gerecht werden.

(Beifall DIE LINKE)

Insofern bin ich unzufrieden und hoffe da auf eine neue Bundesregierung.

Was uns von den Koalitionsfraktionen und Herrn Thamm geeint hat, war, denke ich, dass wir gemeinsam sehen, dass es ein Thema ist, über das wir sprechen müssen, dass es auch eine Aufgabe für den sozialen Frieden hier in Thüringen ist und dass uns alle eint, dass ein Leben in Menschenwürde jedem zusteht, egal woher er kommt, dass der einzelne Mensch im Mittelpunkt steht, dass Menschenrechte universell sind. Insofern danke für diese Diskussion, ich bin gespannt auf die Diskussion im Ausschuss.

Anders – und das muss ich hier trotzdem auch noch erwähnen – die AfD. Herr Henke, dass es hier zum Panoptikum wurde, das lag an Ihren Fraktionskollegen, das muss ich sagen. Sie haben jetzt hier einen sehr betroffenen Vortrag gebracht, Ihr Fraktionsvorsitzender aber hat das Thema „Armut“ relativiert, er hat es beschönigt, er hat es weggeredet. Dazu sollten Sie vielleicht in Ihrer eigenen Fraktion einmal konkreter diskutieren.

(Zwischenruf Abg. Kießling, AfD: Das stimmt überhaupt nicht!)

(Beifall DIE LINKE, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN)

Herr Höcke hatte versprochen, Wasser in den Wein zu kippen. Das würde ja zumindest bedeuten, das Thema ernst zu nehmen und sich damit auseinanderzusetzen. Aber was er gemacht hat, war eigentlich nur, Nebelkerzen zu zünden und jeweils Argumente irgendwie wild zueinander zu mischen, nur um das Thema „Armut“ tatsächlich auch wegzureden. Es geht Ihnen eben nicht um die von Armut betroffenen Menschen, sondern Sie haben die Debatte genutzt, um eigene völkische Gesinnung hier zu promoten, hier dafür zu werben.

(Zwischenruf Abg. Kießling, AfD: So ein Blödsinn!)

Weil das hier nicht so gelungen ist, haben Sie dann Herrn Brandner noch mit in die Debatte geschickt, der überhaupt gar keine Argumente genannt, sondern eigentlich nur rückwärtsgewandt argumentiert hat. Niemand will hier die DDR klein- oder schönreden. Aber es geht doch darum, dass Armut nicht nur ein ostdeutsches Problem ist. Es ist ein gesamtdeutsches Problem und wir müssen uns dem jetzt und heute stellen.

(Beifall DIE LINKE, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wenn wir von Armut reden, dann geht es natürlich zum einen um die Armutsdefinition, aber natürlich auch darum, zu zeigen, dass Ungleichheit hier in diesem Land besteht. Ungleichheit bedeutet, dass Menschen von Teilhabe ausgeschlossen sind, dass ihnen Verwirklichungschancen vorenthalten werden. Das gehört zur Armut auch dazu und deswegen ist die Armutsdefinition des Paritätischen eine, mit der wir mitgehen und auf die wir uns auch berufen können.