Protokoll der Sitzung vom 22.09.2022

(Unruhe DIE LINKE, CDU)

Ich bitte doch um etwas mehr Ruhe im Saal. Das Wort hat Herr Abgeordneter Zippel.

Und vor wenigen Monaten war es auch noch so, dass gefragt wurde: Oder ist es natürlich die Kanzlerin?

(Zwischenruf Abg. Bilay, DIE LINKE: Das ist auch verjährt!)

(Zwischenruf Abg. Meißner, CDU: Hören Sie doch mal zu!)

Aber auch das habe ich natürlich verneint, denn es sind die Wählerinnen und Wähler. Denn tatsächlich, ich verstehe den Beruf des Abgeordneten so, dass mich die Wähler für einen bestimmten Zeitraum einstellen, damit ich einen Job erledige. Und dieser Gesetzentwurf möchte nun, um im Bild zu bleiben, die Möglichkeit zur außerordentlichen Kündigung einführen. Das heißt, in der Landesverfassung soll die Möglichkeit der vorzeitigen Neuwahl des Landtags durch einen Volksentscheid aufgenommen werden. Bislang – und dieser kleine Exkurs sei mir gegönnt – sieht die Landesverfassung vorzeitige Neuwahlen nur auf zwei Wegen vor: erstens die Selbstauflösung des Parlaments durch zwei Drittel der Abgeordneten und zweitens eine Neuwahl nach einer gescheiterten Vertrauensfrage des Ministerpräsidenten. Eine Neuwahl per Volksentscheid wie zum Beispiel in Bayern kennt die Thüringer Verfassung nicht.

Grundsätzlich bin ich natürlich der Meinung, dass wir als Abgeordnete keine Angst vor den Wählern haben müssen oder haben sollten und ich denke, wir sind uns einig, dass wir die auch nicht haben. Das wäre nämlich auch ein sicheres Warnzeichen, dass irgendetwas falsch laufen würde. Gleichwohl finde ich den Zungenschlag Ihres Gesetzentwurfs problematisch. Ich meine hier vor allem die Begründung und um es einmal ganz deutlich zu sagen: Nein, wir haben keine Krise der parlamentarischen

Demokratie. Wir haben auch keine Legitimationskrise des Parlaments.

(Zwischenruf Abg. Möller, AfD: Fragen Sie mal Ihren Dienstherren!)

Man kann Krisen auch herbeireden, so wie Sie es hier im Parlament mit den Kollegen der AfD und jeden Montag auf der Straße versuchen. Es ist doch so: Gerade in der aktuellen Situation sind die Parlamente ganz besonders gefordert, Lösungen zu finden, und dieser Verantwortung kommen wir auch nach.

Die Gefahr, die ich bei diesem Gesetzentwurf sehe, ist, dass die Auflösung des Parlaments zu einem Instrument der Tagespolitik wird, nach dem Motto: Mir passt dieses nicht – Neuwahlen; mir passt jenes nicht – Neuwahlen. So schafft man erst instabile Verhältnisse, so zerstört man Vertrauen. Ich meine, wenn man mehr direkte Demokratie möchte, kann und sollte man den Bürgern auch etwas zutrauen, nämlich sich inhaltlich mit einem Thema auseinanderzusetzen, anstatt einfach nur zu sagen: Ihr seid doof, ihr müsst weg!

Auch Ihre Argumentation, man könne eine Krise der parlamentarischen Demokratie, sollte es tatsächlich einmal eine geben, mit Neuwahlen bekämpfen, überzeugt mich in keiner Weise. Wenn Sie in die Geschichte schauen: Das hat selten bis gar nicht funktioniert.

(Beifall CDU)

Demokratie – und das ist der Schlüsselsatz, den ich hier festhalten möchte – braucht Stabilität und gerade bei rauer See ist eine ruhige Hand am Steuer wichtig. Wir haben im Verfassungsausschuss bereits diverse Vorschläge zur Einführung von Instrumenten direkter Demokratie vorliegen. Wir debattieren diese in aller Sorgfalt und wir hören die Meinung von Experten an. Diesen Gesetzentwurf hingegen halte ich aus den genannten Gründen für entbehrlich, unter Umständen sogar für gefährlich. Deshalb lehnen wir eine Überweisung an den Verfassungsausschuss ab. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall CDU)

Vielen Dank Herr Abgeordneter. Nächste Rednerin ist Abgeordnete Wahl, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Sehr geehrter Herr Präsident, werte Kolleginnen und Kollegen! Der verfassungsändernde Vorschlag

(Abg. Zippel)

der Gruppe der Bürger für Thüringen deckt sich wortwörtlich mit einem vor einigen Monaten initiierten Volksbegehren, dessen Zulässigkeit Sie, Frau Landtagspräsidentin, erst vor wenigen Tagen festgestellt haben. Die Tatsache, dass ein solches Verfahren mit den von der Verfassung vorgesehenen Prüfungen gerade läuft, gebietet uns doch eine gewisse Zurückhaltung, finde ich. Deswegen werde ich mir nur einige verfassungspolitische Bemerkungen über die Thematik erlauben.

Die Möglichkeit einer Auflösung des Landesparlaments per Volksentscheid ist in einigen Landesverfassungen vorgesehen; irrelevant oder gar unproblematisch ist dieser Vorschlag deswegen aber sicherlich nicht. In der Begründung wird das Beispiel der Bayerischen Verfassung aufgeführt. Just letztes Jahr initiierten in Bayern Menschen aus der Coronaleugnerszene mit freundlicher Unterstützung der AfD einen solchen Volksentscheid zur Auflösung des dortigen Landtags. Der Versuch scheiterte kläglich, nur ein Fünftel der für den Antrag notwendigen Unterschriften wurde gesammelt.

Was sich damit aber zeigte: Die überlaut behauptete Wutwelle im Volk gegen eine sich angeblich abschottende und erhobene Politik existierte schlicht und ergreifend nicht. Problematisch waren hier vor allem die Gründe, auf denen die Argumentation für diese Landtagsauflösung in Bayern fußte. Zum Ausdruck gebracht wurde eine Mentalität, die die Abgeordneten als weisungsgebundene Dienstleister sieht. Oder mit anderen Worten folgende Denkweise, die, glaube ich, auch Herr Zippel gerade schon zum Ausdruck bringen wollte: Wenn das Wahlergebnis mir nicht passt, wenn die politischen Verhältnisse mir nicht mehr passen, dann beantrage ich die Auflösung des Parlaments.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, das ist das Gegenteil einer Demokratie. Es ist das Gegenteil einer Demokratie, weil es in einer Demokratie wesentlich ist, anzuerkennen, dass nicht alles zu laufen hat, wie ich es mir wünsche. Die Anerkennung der Legitimität der anderen, der demokratischen Entscheidungen, das ist das Wesen der Demokratie. Dass dieses Institut, nämlich die Auflösung des Landesparlaments per Volksentscheid, zu antidemokratischer Perversion führen kann, zeigt außerdem seine Geschichte. Ich möchte hier nur kurz einen Hinweis geben: 1931 in Preußen. Dass wir einen solchen Vorschlag also mit größter Vorsicht und sehr differenziert behandeln müssen, ist das Gebot der Stunde.

Eingangs habe ich von gebotener Zurückhaltung geredet. Ich frage mich: Halten wir für politisch richtig, uns mit einem Vorschlag zu befassen, wenn parallel das Verfahren für ein Volksbegehren mit

exakt dem gleichen Text und Inhalt läuft? Wird hier der Landtag vielleicht nicht als Ort für eine tatsächliche Debatte genutzt, sondern als Bühne für die Werbung eines laufenden Verfahrens? Ich verweise darauf, dass diese gebotene Zurückhaltung bei laufenden direktdemokratischen Verfahren keine Sache der bloßen Etikette ist, sondern auf kommunaler Ebene tatsächlich als gesetzliche Sperrwirkung vorgeschrieben ist, sobald das Bürgerbegehren zustande kommt. Denn so ist die Demokratie lebendig, wenn die Volksvertretung eine Initiative aus dem Wahlvolk mit eigener Zurückhaltung respektiert und Initiatoren dieser Initiative nicht die Volksvertretung als Bühne für Werbung in eigener Sache nutzen. Einen solchen institutionellen und demokratischen Kompass vermisse ich bei Ihnen, werte Parlamentarische Gruppe der Bürger für Thüringen.

(Beifall SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Eine solche Vorsicht kann nicht zulassen, dass unser Landtag eingehend verfassungsändernde Vorschläge prüft und erwägt, wenn das Verfahren für einen Volksentscheid mit exakt dem gleichen Text und Inhalt läuft. Eine Überweisung an den Ausschuss soll deswegen hier nicht stattfinden.

Und angemerkt sei auch, Frau Bergner, zu Ihrer Einführung, dass weder die Demokratie noch die direkte Demokratie ein Sofa ist: Ich glaube, die Prozesse, die damit einhergehen, das Werben um Stimmen, das Werben um Unterschriften, sind ein ganz maßgeblicher Teil davon, weil man genau so in Austausch und Diskussion kommt. Die Nichtüberweisung auch, weil ebenso garantiert ist, dass die jetzt im Verfassungsausschuss liegenden Gesetzentwürfe unter Einhaltung des ihnen gebührenden Anhörungsverfahrens eine Chance auf Zustimmung haben. In der 30. Plenarsitzung vom 13. November 2020 hatten wir lebhaft darüber diskutiert, wie wir in Verfassungssachen ein Anhörungsverfahren mit umfassenden Zeitabständen für Anzuhörende und die Auswertung hinbekommen.

Herr Zippel, ich kann mich sehr gut an Ihr damaliges Plädoyer erinnern. Ich plädiere nun dafür, dass wir diesen viel diskutierten hohen Standard einhalten und den bereits vorliegenden Gesetzentwürfen im Verfassungsausschuss Priorität einräumen und diese auch maßgeblich und hoffentlich erfolgreich demnächst abschließen. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall DIE LINKE, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vielen Dank, Frau Abgeordnete. Nächste Rednerin ist Frau Abgeordnete Marx, SPD-Fraktion.

Herr Präsident, verehrter Kollege, ich freue mich auch, dass Sie wieder da oben sitzen! Der letzte Satz Ihrer Einbringung, Frau Dr. Bergner, als Sie gesagt haben, wir sollen doch jetzt das Volksbegehren entbehrlich machen und mit einer schlanken Verfassungsänderung dem Begehren die Vorfahrt ermöglichen, also das verkehrt auch ein bisschen die Verfassungsrealitäten und auch die Gewaltenteilung und auch das Selbstverständnis eines Parlaments. Also ein Verfassungsgebungsprozess ist nicht schlank und geht nicht fix. Unter anderem wären drei Lesungen erforderlich, drei Beratungen hier im Parlament, und wir haben auch in den Verfassungsänderungen, die wir derzeit beraten, wie Kollegin Wahl zu Recht betont hat, sehr umfassende Anhörungen und eine sehr gründliche Beratungsserie angefangen, von der wir hoffen, dass wir sie noch mit gehaltvollen inhaltlichen Ergebnissen gemeinsam zum Abschluss bringen können. In diesen Strauß hätten Sie jetzt gern noch diesen Vorschlag aufgenommen.

Es ist schon viel gesagt, anders als bei Volksbegehren zu Gesetzentwürfen oder zu konkreten inhaltlichen Fragen, wo natürlich dann auch ein Diskurs, der sonst vielleicht im Parlament stattfinden würde, in die Gesellschaft getragen wird, ist diese Sache mit der Auflösung des Parlaments ein „Wegmit“, also da passiert keine richtige Auseinandersetzung, da manifestiert sich ein Unmut, der ein gewähltes Parlament vorzeitig wegfegen soll, was ja hier in Thüringen im Landtag für fünf Jahre gewählt wird, anderswo sind es vier Jahre. Diese Wahlzeit ist dazu da, dass die Bürgerinnen und Bürger, die für bestimmte Parteien eine Wahlentscheidung getroffen haben, den Abgeordneten des Landtags und der Regierung, die sich gebildet hat, die Gelegenheit geben, ihre Programme und das, wofür sie gewählt sind, in Sorgfalt umzusetzen und eben das Land entsprechend zu regieren. Wenn – das ist das demokratische Modell – diese Zeitspanne abgelaufen ist, dann gibt es die Möglichkeit, dass die Bürgerinnen und Bürger, die Wählerinnen und Wähler das Ganze beurteilen und sagen, ja, es hat mir gefallen, ihr könnt weitermachen, oder nein, wir hätten es lieber anders. Diese vorzeitige Auflösung des Parlaments ist deswegen mit gutem Grund hier in Thüringen nur Sache des Parlaments selbst, nämlich dann, wenn wir hier merken, es ist so schwierig miteinander geworden – und vor dieser Situation standen wir schon mal –, dass wir selbst sagen,

wir bekommen es nicht hin, diesen demokratischen Auftrag zu erfüllen. Deswegen ist es auch aus meiner Sicht und aus Sicht meiner Fraktion stimmig, wenn es mit einem Selbstauflösungsrecht des Parlaments aus sich selbst heraus sein Bewenden haben sollte.

Wir haben auch die Befürchtung bzw. lässt sich absehen, dass bei den Länderverfassungen, die dieses Auflösungsrecht durch Volksbegehren vorsehen, dass das eigentlich noch nie gezogen hat – aus gutem Grund, weil nämlich die Wut allein dann doch bei der Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger nicht verfangen hat. Gerade weil wir für fünf Jahre hier das Vertrauen haben, müsste man entsprechend hohe Quoren festlegen und die sind nie erreicht worden, weil doch die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger nach wie vor unser demokratisches Mehrheitswahlrecht, unser demokratisches System, das auf Diskurs und nicht auf Überrollen basiert, dann doch überzeugend findet und will, dass wir hier gemeinsam unsere Arbeit machen. Aus diesem Grund denken auch wir, dass das nicht sehr zielführend ist, was Sie hier wollen, sondern dass das eigentlich eher in die Schublade „Delegitimierung des parlamentarischen Systems“ passt.

(Unruhe Gruppe der BfTh)

Das werden wir auch gleich sehen, wenn wir hier noch weitere Reden hören. Und das haben Sie auch schon angedeutet, indem Sie von einem Vertrauensverlust in die politische Arbeit – ja – ausgehen oder der Arbeit der Parlamente. Natürlich gibt es an die eine oder andere aktuelle Frage immer besondere Anforderungen, besondere Sorgen unserer Bürgerinnen und Bürger. Die haben ja gestern auch im Zentrum unseres Parlamentstags gestanden, aber letztendlich ist das demokratische System mit dem Austausch verschiedener Argumente nichts, was durch irgendetwas anderes ersetzt werden sollte. Und diese Funktion, dass man eine sachorientierte Diskussion hat über Personen und Programme, das fehlt vollkommen, wenn man ein reines Auflösungsbegehren zulassen wollte. Ja, und deswegen haben wir auch für andere Fragen genügend inhaltliche Instrumente, die wir als Koalitionsfraktionen auch verstärken wollen, inhaltliche Volksbegehren immer gern. Aber ansonsten ist ein Parlament für fünf Jahre gewählt, und das hat sich nicht auszuruhen, sondern das hat zu arbeiten. Das versuchen wir hier auch, und das

(Beifall CDU)

reibt sich mal und wir könnten es uns manchmal vielleicht auch ein bisschen reibungsfreier vorstellen, aber das ist der Kern der Demokratie, und dass wir uns dann hier irgendwie vorzeitig wegfegen

müssten – also so schlecht sind wir hier noch nicht im Thüringer Landtag, dass man das befürworten sollte. Das sehen Sie anders, das weiß ich, aber wir widersprechen dem, und auch meine Fraktion stimmt keiner Überweisung zu und hält das nicht für zielführend, was Sie hier vorhaben. Vielen Dank.

(Beifall DIE LINKE, CDU, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vielen Dank, Frau Kollegin Marx. Das Wort hat jetzt Frau Dr. Bergner für die Gruppe der BfTh.

Sehr geehrter Herr Präsident, liebe Kollegen Abgeordnete, liebe Zuhörer, wir alle beklagen, dass das Vertrauen in die Politik verloren gegangen ist, und es gibt viele hier in den Reihen, die für mehr Mitbestimmung und mehr direkte Demokratie eintreten, und ich finde es einfach spannend, wenn ein konkreter Vorschlag vorliegt, was es da alles für Gründe gibt, warum man das nicht will.

(Beifall Gruppe der BfTh)

Und das gebrochene Versprechen zu Neuwahlen und die unsäglichen

(Unruhe DIE LINKE, SPD)

Diskussionen um die Beantragung der Selbstauflösung des Parlaments haben doch nicht dazu beigetragen, das Vertrauen in politisches Handeln zu verstärken. Im Gegenteil, viele Bürger in Thüringen haben blind vertraut, dass es Neuwahlen geben wird. Wenn ich damals in den Diskussionen auf der Straße gesagt habe, dass das kein Automatismus ist, sondern ein Drittel des Parlaments die Auflösung des Parlaments beantragen muss und zwei Drittel dem zustimmen müssen, haben mich die Menschen ungläubig angeschaut. Aber sie haben es ja dann letztes Jahr erlebt, dass es so war.

(Unruhe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Grup- pe der FDP)

Und haben Sie schon mal erlebt, was aus Menschen wird, wenn ihr Grundvertrauen so maßlos enttäuscht wurde? Die Enttäuschung in Thüringen war groß, denn nach einer MDR-Umfrage im Sommer 2021 waren 63 Prozent der Thüringer für Neuwahlen.

(Beifall Gruppe der BfTh)

Jetzt gibt es das durch die Präsidentin zugelassene Volksbegehren, und die Gespräche mit den Bürgern zeigen, dass sie aktiv mit eingebunden werden wollen und sie auch viel zu ungeduldig sind,

bis das Volksbegehren zum Tragen kommt. Jetzt hätten wir als Parlament die Chance,