Ich danke Ihnen, Frau Abgeordnete Hartfelder. - Nun erhält die Landesregierung das Wort. Herr Minister Reiche, bitte.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordnete! Sehr geehrte Damen und Herren! Die derzeitige Erschütterung der Schullandschaft ist bitter. Es ist der schmerzvollste Prozess, den Schule in Brandenburg seit 1990 und für die nächsten Jahrzehnte durchläuft.
Ich kann alle verstehen, die um ihre Schule besorgt sind, die enttäuscht und traurig sind, wenn sich nicht genügend Schüler für ihre Schule entscheiden - entweder, weil es nicht genügend Schüler gibt oder diese die jeweilige Schule nicht ausreichend stark anwählen.
Ich teile diese Trauer und habe über ein Drittel der Schulen, die jetzt keine 7. Jahrgangsstufe bilden können, besucht, beispielsweise die Schule in Groß Leuthen, an der produktives Lernen praktiziert wird, an der Ganztagsangebote bereitgehalten werden und im letzten Jahr eine 10.-Klasse-Prüfung abgelegt worden ist, deren Ergebnisse besser ausfielen als die Prüfungsergebnisse vieler Real- und Gesamtschulen der Region. An Qualität hat es dort also nicht gemangelt. Ich könnte weitere Beispiele nennen.
Es hat aber auch Wunder gegeben, zum Beispiel in Goyatz. Auch diesen Ort, für den Straupitz und Goyatz gemeinsam entschieden haben, eine Schule zu erhalten, und der auf diese Weise vermutlich als einziger Ort außerhalb eines Grundzentrums noch eine Schule behält, habe ich besucht.
Was gegenwärtig geschieht, kommt nur für die spätberufenen Bildungspolitiker überraschend; denn wir wissen seit über zehn Jahren, was in diesem Jahr passiert. Die Kinder, die 2004 in die 7. Klasse kommen, sind vor zwölf Jahren geboren worden, nämlich 1992. Im Jahre 2002 kamen noch rund 31 000 Schüler in die Sekundarstufe I; 2004 sind es nur 15 711 Schüler. Es hat also eine Halbierung der Schülerzahlen stattgefunden.
58 Schulen sind im vergangenen Jahr ohne 7. Jahrgangsstufe gelaufen, mindestens 75 kommen in diesem Jahr hinzu. 2005 und 2006 wird es leider noch weniger Schüler geben; erst 2007 steigt die Schülerzahl langsam wieder, allerdings nur im engeren Verflechtungsraum.
Investitionen des Landes, Frau Große, sind nicht betroffen, soweit wir es sehen, weil wir nur in Schulstandorte investiert haben, von denen wir genau wussten, dass sie auf Dauer erhalten bleiben.
Kommunen haben sich allerdings oft gegen unseren Rat für Investitionen entschieden und gesagt, diese seien auch für die verbleibenden drei, vier, fünf, sechs oder sieben Jahre notwen
dig und wichtig für die Kinder. - Die Kritik von Frau Große an dieser Entscheidung ist also nicht berechtigt.
Der Elternwunsch ist gerade in diesem Jahr nicht zur Farce geworden; denn noch nie zuvor sind so viele Erstwünsche von Schülerinnen und Schülern akzeptiert worden bzw. konnten umgesetzt werden und nur im Ausnahmefall wird es in diesem Jahr Schüler geben, deren Zweitwunsch nicht berücksichtigt werden kann.
Der Bericht der Wunder-Kommission hat die ganze Dramatik der demographischen Entwicklung in Brandenburg offen gelegt. Ich habe in den letzten Jahren im Parlament an keiner Stelle versucht, diese Entwicklungen zu beschönigen; ganz im Gegenteil: Ich habe immer wieder öffentlich dargelegt, dass leider fast die Hälfte aller weiterführenden Schulen in Brandenburg geschlossen werden muss, weil die Schülerzahlen um mehr als 60 % zurückgehen.
In vielen Gesprächen mit kommunalen Vertretern, Schülerinnen und Schülern, Lehrkräften und Eltern bei über 450 Schulbesuchen sowie in weit über 1 000 Gesprächen, die ich in den letzten Jahren noch an anderen Stellen geführt habe, und durch die Medien habe ich immer wieder dazu aufgefordert, den Tatsachen ins Auge zu sehen und, wo immer es möglich ist, gemeinsam nach Lösungen zu suchen.
Die Landkreise und kreisfreien Städte haben in den Jahren 2002 und 2003 ihre Schulentwicklungspläne auf Basis der Schülerzahlentwicklung in ihrer Region fortgeschrieben. Die Aufstellung der Schulentwicklungspläne geht mit einem umfangreichen förmlichen Beteiligungsverfahren einher. Ich gehe davon aus, dass jeder Schulträger auch die Schulkonferenzen aller Schulen in diesen Abstimmungsprozess einbezogen hat.
Wer die Tragweite der demographischen Entwicklung und ihre Folgen für die Schulen bisher nicht erkannt hat, der muss seine Augen vor der Wirklichkeit fest verschlossen haben. Nichts ist geheim, die Situation ist seit langem klar.
Ich habe - wie eben angedeutet - bei vielen meiner Schulbesuche die örtlichen Akteure immer wieder aufgefordert, angesichts der bevorstehenden Entwicklung nach lokalen Lösungen zu suchen. Dass dies möglich ist, zeigen die Beispiele Golzow im Landkreis Märkisch-Oderland oder Goyatz im Landkreis Dahme-Spreewald. Hier haben sich die Schulträger und mit ihnen die Lehrer und Eltern darauf verständigt, dass von jeweils zwei benachbarten Schulen, die jeweils allein nicht überleben können, eine fortgeführt werden soll.
Sie können sich vorstellen, dass dieser Prozess alles andere als leicht gewesen ist. Natürlich hält jede Gemeinde an ihrer Schule fest. Die Auseinandersetzungen darüber, welche Schule bestehen bleiben soll, gingen über Monate und Jahre. Wenn aber Einsicht in die Realität und ein fester Wille da ist, kann es klap
pen. Es gibt auch Möglichkeiten eines fairen Interessenausgleichs an anderen Stellen. Ich möchte mich deshalb bei allen Beteiligten für ihren beharrlichen Einsatz und vor allem auch für die Fähigkeit zum Kompromiss bedanken und nehme die Schulräte im Land ausdrücklich vor den Angriffen von den beiden Außenseiten des Hauses in Schutz. Sie sind nicht allein gelassen worden.
Sie sind kontinuierlich begleitet worden. Es hat auch keine selbstherrlichen oder arroganten Äußerungen gegeben, sondern die Schulräte leiden mit den Schulschließungen der Schulen, die sie über zehn, 12 oder 14 Jahre begleitet haben, mehr als jeder hier in diesem hohen Haus.
Auch die Gesamtschule in Glöwen, die in den vergangenen Jahren eine herausragende Arbeit auf dem Gebiet der Integration geleistet hat, kann im nächsten Schuljahr wieder 7. Klassen eröffnen. Wenn hier im nächsten Jahr der Weg der Zusammenarbeit mit Bad Wilsnack gefunden wird, bestehen gute Chancen, dass diese Schule, anders als wir ursprünglich geglaubt haben, fortgeführt werden kann.
Natürlich sind bei dem massiven Rückgang der Schülerzahlen nicht überall solche Lösungen möglich. Es hätten aber einige Schulen in kleineren Orten bestehen bleiben können, wenn nicht örtliche Egoismen im Vordergrund gestanden hätten. Wenn die Auseinandersetzungen vor Ort dazu führen, dass die Eltern ihre Kinder lieber in die Stadt schicken als in die benachbarte Gemeinde, weil sie dieser den Erhalt der Schule nicht gönnen, dann kann ich die Beteiligten nicht aus ihrer Verantwortung entlassen.
Die Landesregierung hat sich im Anschluss an den Bericht der Wunder-Kommission entschlossen, an der Zweizügigkeit als Mindestgröße für die Schulen in der Sekundarstufe I festzuhalten. Ich habe an dieser Stelle immer wieder betont: Die Sicherung der Qualitätsstandards schulischer Bildung erfordert eine Mindestgröße der Schule in der Sekundarstufe I. Wir machen Schule für Schule und nicht für Bürgermeister. Die Landesregierung lehnt aus diesen Gründen, wie die überwiegende Mehrheit der Kommissionsmitglieder, die Fortführung einzügiger Schulen in der Sekundarstufe I auch im Ausnahmefall ab. An einzügigen Schulen können die Qualitätsstandards hinsichtlich des Einsatzes von fachlich qualifiziert ausgebildeten Lehrkräften, der Berücksichtigung unterschiedlicher Anforderungs- und Leistungsmöglichkeiten, der Möglichkeit von Wahlpflicht-Angeboten und der Fähigkeit zur Qualitätssicherung durch fachlichen Ausgleich eben nicht realisiert werden.
Rechnen Sie doch mit! Einzügigkeit bedeutet vier Klassen: die Klassen 7, 8, 9 und 10. Das heißt, es sind nicht einmal 100 Schüler in dieser Schule und nur vier Lehrer, die dort dauerhaft und voll beschäftigt sind; die anderen reisen. In der Grundschule geht das, in der Sekundarstufe I nicht. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der PDS, das wäre die Desintegration, die Sie gerade nicht wollen. Deshalb wird künftig auch die Mindestschulgröße in der Sekundarstufe I im Land Brandenburg im Grundsatz unverändert bleiben. Schulen der Sekundarstufe I müssen zweizügig sein.
Die Landesregierung hat mit der Verabschiedung des Schulressourcenkonzepts die Ausstattungsparameter für die Schulen nicht nur langfristig festgelegt, sondern sie hat auch die demographische Entwicklung zum Anlass genommen, in den nächsten Jahren eine Verbesserung der Schüler-Lehrer-Relation um zwei Schüler pro Lehrer zu ermöglichen. Das sind zwei Schüler pro Lehrer besser als der Bundesdurchschnitt. Die SchülerLehrer-Relation in der Sekundarstufe I, die in Brandenburg schon im Schuljahr 2002/2003 mit 15,3 Schülern pro Lehrer ein Schüler pro Lehrer besser war als im Bundesgebiet, wird sich bis zum Schuljahr 2007/08 um weitere 10 % verbessern.
Mit der Absenkung der Mindestklassenfrequenz an Gesamtschulen in allen Grundzentren des Landes Brandenburg auf zwei mal 15 Schüler wird es für das nächste Schuljahr gelingen, in neun Orten die Gesamtschule zu erhalten. In weiteren 19 Grundzentren liegen die Schülerzahlen diesmal noch über 40, in 16 liegen sie allerdings unter 30 und vier haben bereits keine Schule der Sekundarstufe I mehr.
Sie wissen, dass ich mich oft dafür eingesetzt habe, Real- und Gesamtschulen ohne gymnasiale Oberstufe durch eine Schule zu ersetzen - wie immer sie auch genannt werden mag; wir haben sie Sekundarschule genannt -, wie sie in Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt - durch die CDU verantwortet - zu Recht eingeführt worden ist. Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen der CDU, ich war und bin natürlich für den Unterricht im Klassenverband, wenn die Schule das will. Das ist den schriftlich vorgelegten Konzepten eindeutig zu entnehmen. Dass öffentlich Gegenteiliges behauptet wird, lässt auf Argumentationsnot schließen.
Die Einführung der Sekundarschule hätte keine zusätzlichen Schüler gebracht; das ist richtig. Aber sie hätte Entscheidungen vereinfacht und sie hätte für die Zukunft mehr Schulen offen gelassen, als es uns jetzt gelingt.
Das ist das einzige große Desiderat dieser Koalition. Ich bedauere das. Hier haben wir uns nicht einigen können. Es wäre eine Einigung notwendig und sinnvoll gewesen.
Auch der letztes Jahr erschienene Bericht der Bildungskommission der Länder Berlin und Brandenburg hat gezeigt, dass die gegenwärtige Dreigliedrigkeit der Schulstruktur im Land Brandenburg in der bestehenden Form in den nächsten Jahren nicht mehr aufrechterhalten werden kann. Auch der Bildungsbericht für Herrn Stoiber in Bayern sagt dies, nur mit anderen Worten. Der Einbruch der Schülerzahlen in der Sekundarstufe I ab dem Schuljahr 2003/04 wird zu erheblichen Veränderungen des Schulnetzes führen. Das alles sind Gründe, die für die Einführung einer Schulform mit zwei Bildungsgängen sprechen, egal wie diese dann heißen.
Gerade das jetzige Übergangsverfahren zeigt wieder deutlich, dass die Einführung der Sekundarschule der richtige Weg wäre. In vielen Orten würde es die Situation erheblich erleichtern, wenn es diese Schulform gäbe. Ich nenne hier nur Wittstock, Kyritz, Wittenberge, Templin, Wandlitz, Bad Freienwalde, Strausberg, Forst, Herzberg, Falkenberg, Elsterwerda, Bad Liebenwerda, Lauchhammer, Luckenwalde, Teltow, Oranienburg, Velten, Zehdenick, wobei sich die Aufzählung damit nicht erschöpft. In all diesen Orten besteht eine ungute Konkurrenz
zwischen Gesamtschule und Realschule, die einmal zugunsten der Gesamtschule und einmal zugunsten der Realschule ausgeht, in jedem Fall aber unfruchtbar ist.
Schule in Brandenburg ist trotz dieser Probleme auf einem guten Weg. Die Bildungsoffensive greift. Wir spüren das.
Wir werden in diesem Jahr für notwendige Investitionen an Ganztagsschulen in unserem Land 35 Millionen Euro ausgeben.
Ich habe mit Schreiben der vergangenen Tage 29 neue Ganztagsschulen genehmigt: die Gebrüder-Grimm-Grundschule in Brandenburg an der Havel, das Von-Saldern-Gymnasium, die Europa-Grundschule in Cottbus, die Carl-Blechen-Grundschule, die Reinhard-Lakomy-Grundschule in Groß Gaglow, das Ludwig-Leichhardt-Gymnasium, die Grundschule Elsterwerda-Biehla, die Grund- und Gesamtschule Elsterwerda, die Grundschule Stadtmitte in Finsterwalde, das Carl-FriedrichGauss-Gymnasium, die Bruno-H.-Bürgel-Gesamtschule in Rathenow, die Theodor-Fontane-Grundschule in Bad Freienwalde, die Grundschule in Letschin, die Grundschule in Fürstenberg, die Grundschule in Glienicke, die Albert-Schweitzer-Gesamtschule in Hennigsdorf, die Grundschule Beetz in Kremmen, die Grundschule Velten-Süd, die Grund- und Gesamtschule Breddin, die Grundschule an der Lindenstraße in Neustadt (Dosse), die Grundschule in Wusterhausen, die Grundschule Missen, die Waldstadt-Grundschule in Potsdam, die Grundschule Brück, die Walter-Hochmuth-Grundschule in Saarmund, die Korona-Schröter-Grundschule in Guben, die Marie-und-Pierre-Curie-Gesamtschule in Guben und die Grundschule in Laubsdorf. Andere wären zu nennen - die Zeit lässt das nicht zu -, die Auflagen bekommen haben und die uns aller Voraussicht nach bis zum Mai dieses Jahres mit ihren Nachreichungen den Grund geben, 25 - vielleicht sogar mehr weitere Ganztagsschulen zu genehmigen.
Deshalb die herzliche Bitte: Seien Sie im Interesse der Eltern sowie der Schülerinnen und Schüler fair! Politiker müssen Orientierung geben. Die Qualität von Politik ist gerade jetzt gefragt. Bildungspolitik verlangt nicht die Reset-Taste. Angesichts der schwersten Herausforderung, vor der dieses Bildungssystem steht, verlangt Bildungspolitik nicht, noch einmal völlig neu anzufangen und gänzlich umzusteuern. Bildungspolitik braucht einen langen Atem und Visionen. Ich habe sie. Ich bitte Sie: Machen Sie mit!
Ich danke Herrn Minister Reiche und gebe das Wort noch einmal der Fraktion der SPD. Bitte, Frau Abgeordnete Melior.
Sehr geehrter Herr Landtagspräsident! Verehrte Damen und Herren! Eigentlich hat Frau Siebke schon alles zu dem Thema gesagt; mir bleiben wenige Punkte.