Herr Vietze, Statistiken sind wahrlich eine feine Sache. Eine solche wurde uns nicht aus Ihrem Buch, sondern in der Anlage 2 zur Frage 13 unserer Großen Anfrage auch dankenswerterweise bereitgestellt. Sie stand, wohlgemerkt, nicht darin. Aus dieser geht nämlich hervor, dass eine durchschnittliche Arbeitsstunde eines Brandenburger Arbeitnehmers im produzierenden Gewerbe und in den Dienstleistungsbereichen im Jahr 2000 - seither hat sich ja wenig geändert - knapp 18 Euro kostete. In den zehn neuen EU-Beitrittsstaaten waren es dagegen durchschnittlich ca. 2 Euro und im Nachbarland Polen ca. 4 Euro, während Rumänien und Bulgarien bei ca. 1 Euro lagen.
Diese Statistik, Herr Vietze - uns wundert, dass sie uns überhaupt zur Verfügung gestellt wurde -, sagt mehr über die wirtschaftlichen Folgen sowohl für unsere kleinen und mittelständischen Unternehmen als auch für die Arbeitnehmer in Brandenburg aus als sämtliche Politiker-Sonntagsreden, die hier gehalten wurden.
Es verwundert auch nicht, dass uns zur Frage der Nettolohnentwicklung in Euro pro Stunde ebenso wenig Angaben gemacht werden konnten, oder vielleicht wollten sie auch nicht gemacht werden, wie hinsichtlich der Verlagerung von Produktionsstätten in die neuen Beitrittsstaaten. Diese Zahlen, wenn sie bekannt würden, wären nämlich vermutlich verheerend. Die Aussage, dass diese großen Unterschiede hinsichtlich der Lohnstückkosten durch die herrschenden Produktivitätsunterschiede zwischen Brandenburg und den neuen EU-Beitrittsstaaten eingeebnet werden können, glauben Sie ja wohl selbst nicht.
Doch nun zu den Antworten hinsichtlich der einzelnen Branchen: Im Bereich des Handwerks können Sie uns lediglich für die Jahre 2002 bis 2004 die absoluten und relativen Zahlen der Gewerbean- bzw. Gewerbeabmeldungen von Betrieben nennen. Immerhin müssen Sie dabei zugeben, dass ausländische Firmen mit Sitz in Brandenburg im Handwerk völlig zu vernachlässigen sind. Doch die wenigen ausländischen Handwerker, die ihren Wohn- oder Firmensitz in Brandenburg haben und hier Steuern und Abgaben entrichten, sind bekanntlich auch nicht das Problem. Das Problem sind vielmehr die Firmen in den neuen EU-Staaten, die vom Ausland aus in direkte Konkurrenz zu Brandenburger Handwerkern treten. Das gilt umso mehr für so genannte „Ein-Mann-Selbstständige“. Erinnert sei hierbei an die EU-Dienstleistungsrichtlinie. Immerhin hält auch die Landesregierung die Dienstleistungsrichtlinie in ihrer jetzigen Form für korrekturbedürftig.
Aber was tun Sie denn wirklich dagegen, meine Damen und Herren? Dass sich die Zahl der Bau- und Industriebetriebe in Brandenburg von 1995 bis 2004 durch Klein- und Kleinstbetriebe mehr als verdoppelt hat, während die Großbetriebe auf ein Viertel ihres Ursprungsbestandes zusammenschrumpften, und dass sich eine ähnliche Entwicklung auch im Bauhandwerk vollzog, ist allgemein bekannt. Fragt man jedoch etwas näher nach, wie viele ausländische Arbeitnehmer auf der Grundlage des Arbeitnehmerentsendegesetzes im Brandenburger Baugewerbe in den entsprechenden Jahren tätig waren, so liegen plötzlich keine Daten mehr vor. Dasselbe gilt hinsichtlich illegaler Beschäftigung, Schwarzarbeit usw., hinsichtlich Rechtsverstößen in der Brandenburger Bauwirtschaft oder hinsichtlich grenzüberschreitender Kooperation - überall nur Nichtwissen!
Ähnlich ist es im Einzelhandel. Auch hier gibt es, wie bekannt, einen rapiden Rückgang der Beschäftigtenzahlen, einen Anstieg der Teilzeitbeschäftigung und einen starken Rückgang der Vollzeitbeschäftigung. Auf unsere Fragen nach Kaufkraftabfluss aus Brandenburg in die Republik Polen wird mitgeteilt, dass die Landesregierung keine Erkenntnisse habe. Ich kann Ihnen nur raten: Fahren Sie doch nach Hohenwutzen, nach Frankfurt (Oder) oder Küstrin. Da werden Sie aber staunen, wie kaufkräftig die Brandenburger sind.
Zum Tourismus wird nur so viel mitgeteilt, dass der Anteil der heutigen neuen EU-Mitgliedsstaaten am grenzüberschreitenden Tourismus Brandenburgs eine zu vernachlässigende Größe sei.
Summa summarum bestätigt die Antwort der Landesregierung zum Thema Wirtschaft nur die allen Experten bekannte Tatsache, dass durch die EU-Osterweiterung, insbesondere um Polen, auf die mittelständisch geprägte Wirtschaft in Brandenburg ein ungeheurer Wettbewerbsdruck mit entsprechendem Lohndumping zukommt und auch schon da ist. Doch diese Landesregierung will nicht nur nichts dagegen tun, sondern sie will, wie ihre Antworten auf gut die Hälfte unserer Fragen beweisen, davon nicht einmal etwas wissen - traurig, aber wahr!
Ich beende damit die Aussprache. Die Antwort der Landesregierung auf die Große Anfrage 10 der DVU-Fraktion ist damit zur Kenntnis genommen worden.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Meine Kollegin Liane Hesselbarth hat es gerade gesagt: Es ist erschreckend und beschämend für diese Landesregierung, dass sie so wenig weiß, gerade in Bezug auf die Auswirkung der EU-Osterweiterung. Nachdem stets und ständig seitens dieser Landesregierung die EU-Osterweiterung gelobt wurde und wird, wollten wir nun ganz konkret wissen, was sich hier im Land Brandenburg getan hat. Denn nach Aussage dieser Landesregierung führen nicht Abschottung, sondern Wettbewerb und Austausch letztlich zur Stärkung des Wirtschaftsstandortes Brandenburg und verbessern die Chancen auf Arbeit und Einkommen. „Die Erfahrungen aus einem Jahr EU-Osterweiterung haben das bestätigt“, so die Landesregierung wörtlich.
Doch auf welcher Grundlage behauptet die Landesregierung, dass sich die Chancen auf Arbeit und Einkommen verbessert haben? Das wollten wir mit unserer Großen Anfrage herausfinden, nichts anderes; ich sage das jetzt speziell für die Kollegen, damit sie uns später nicht wieder etwas anderes unterstellen. Wir haben leider herausfinden müssen, dass diese Landesregierung keinerlei Ahnung hat und Behauptungen in die Welt setzt, die sie mit nichts, aber wirklich gar nichts untermauern kann.
Die Chancen auf Arbeit und Einkommen haben sich für die Mehrzahl der Brandenburger durch die EU-Osterweiterung entgegen der Aussage der Landesregierung nicht verbessert. Im Gegenteil! Wir behaupten, sie haben sich verschlechtert.
Ich komme jetzt zu einigen Fragen, deren Antworten genau das beweisen, was ich eben gesagt habe, nämlich, dass diese Landesregierung keinerlei gesicherte Erkenntnisse über die Voroder auch Nachteile der EU-Osterweiterung hat.
Zur Frage 1: Hier wollten wir wissen, wie sich die Anzahl der Arbeitnehmer aus den neuen EU-Mitgliedsstaaten in den letzten Jahren in Brandenburg entwickelt hat. Wir wollten also wissen, wie viele ausländische Arbeitskräfte in Brandenburg als Saisonarbeiter in der Landwirtschaft, als Arbeitskräfte im Hotel- und Gaststättengewerbe, im Gesundheitswesen und in der Altenpflege tätig waren. Darauf hat die Landesregierung keine Antwort. Sie weiß also nicht, ob sich die Zahl der ausländischen Arbeitnehmer nun verändert hat, ob sie zu- oder abgenommen hat.
In Frage 2 wollten wir wissen, ob es konkrete Untersuchungen gab bzw. gibt, aus denen hervorgeht, wie viele Arbeitsplätze in Brandenburg seit der EU-Osterweiterung geschaffen bzw. abgebaut wurden. Auch hierzu kann diese Landesregierung keine Aussage treffen.
Bemerkenswert ist, dass ausgerechnet diese Landesregierung immer wieder behauptet, durch die EU-Osterweiterung werden neue Arbeitsplätze in Brandenburg geschaffen.
Wir wollten des Weiteren von der Landesregierung wissen, ob sie der Behauptung des EU-Kommissars Verheugen zustimmt, durch die Osterweiterung seien in Deutschland mehr Arbeitsplätze geschaffen als abgebaut worden. Nun die „sinnvolle“ Antwort der Landesregierung: Der Landesregierung liegen keine Erkenntnisse vor, durch die diese Aussage infrage gestellt würde. Das mag richtig sein, aber der Landesregierung liegen auch keine Erkenntnisse von einem Weniger an Arbeitsplätzen vor.
Mit den Fragen 4 und 5 erkundigten wir uns, wie viele Bürger Brandenburgs als Arbeitnehmer bzw. Lehrlinge in den einzelnen neuen EU-Mitgliedsstaaten beschäftigt sind. Auch hierzu ist diese Landesregierung nicht aussagefähig.
Der Landesregierung ist auch kein umfassender Abbau von Arbeitsplätzen im Zusammenhang mit der EU-Osterweiterung im Land Brandenburg bekannt. Nun ist die Frage: Was versteht diese Landesregierung unter umfassendem Abbau?
Mittlerweile dürfte auch dieser Landesregierung nicht entgangen sein, dass etliche Stellen für Brandenburger bereits weggefallen sind. Erinnern möchte ich an Tankstellenpächter, Friseure, Zahntechniker, Altenpfleger, Spediteure, Fliesenleger usw. usf. Der schleichende Prozess des Abbaus von Arbeitsplätzen in Deutschland und ihre Verlagerung ins billigere Ausland schreiten unaufhaltsam fort. Die deutschen Unternehmen wachsen dabei durchaus, allerdings in anderen Ländern, während sie in Deutschland kürzen, sparen und streichen. Es gibt genügend Beispiele. Sie verteidigen sich, dass Sie sagen, wenn die Politik nicht in der Lage sei, die Standortbedingungen zu verbessern, müssten sie sich eben andere Standorte suchen. Die Steuern und Lohnnebenkosten in Deutschland seien zu hoch, die Binnennachfrage zu niedrig, das Investitionsklima schlecht.
„Ängste der Bevölkerung vor einem Zustrom von Arbeitskräften aus den neuen Mitgliedsstaaten hat die Landesregierung stets ernst genommen und entsprechend gehandelt. Sie hat sich in Übereinstimmung mit der Bundesregierung für die Aussetzung der Arbeitnehmerfreizügigkeit für eine Übergangszeit eingesetzt. Vor dem Hintergrund der schwierigen Lage auf dem Arbeitsmarkt hat sich diese Regelung bewährt.“
Was die Landesregierung jedoch nicht beachtet zu haben scheint, ist die Tatsache, dass seit 1. Mai vergangenen Jahres auch unsere polnischen und tschechischen Nachbarn volle Niederlassungsfreiheit genießen. Dazu gehört auch das Recht, sich als selbstständiger Einzelunternehmer niederzulassen und Dienstleistungen zu erbringen. Dieses Recht wird auch zahlreich genutzt.
Erinnern möchte ich an den sprunghaften Anstieg der Zahl der ausländischen selbstständigen Fliesenleger.
In Frage 9 wollten wir wissen, inwieweit der Landesregierung konkrete Auswirkungen auf privatwirtschaftlich organisierte Einrichtungen des Gesundheits- und Altenpflegewesens bekannt sind, Auswirkungen, die auf einen erhöhten Wettbewerbs- und Konkurrenzdruck aus den neuen EU-Mitgliedsstaaten zurückzuführen sind.
So brauchen zum Beispiel die Kureinrichtungen in Polen nicht über mangelnde Auslastung zu klagen, nachdem sogar die Krankenkassen bereitwillig für dortige Kuraufenthalte zahlen. Auch die Werbung der Brandenburger AOK für die Anfertigung von Zahnersatz in Polen trägt mit Sicherheit nicht dazu bei, Arbeitsplätze von Zahntechnikern in Brandenburg zu erhalten. Die AOK in Brandenburg sorgt nicht nur für die Gesundheit ihrer Mitglieder, sie sorgt mit deren Beiträgen auch für die Gesundung der polnischen Wirtschaft. Aber über all das liegen dieser Landesregierung keine Erkenntnisse vor. Gesundheitstourismus kennt diese Landesregierung nicht.
Alles in allem lässt sich feststellen, dass diese Landesregierung auch in Bezug auf die Auswirkung der EU-Osterweiterung null Ahnung hat. Sie behauptet vieles - beweisen kann sie nichts. Wenn man schon Behauptungen aufstellt, werte Damen und Herren von der Landesregierung, sollte man auch damit rechnen, dass es Leute gibt, die nachfragen, worauf sich Ihre Behauptungen stützen. Mir kommt es so vor, als ob diese Landesregierung einige Tatsachen nicht wahrhaben will. Sie redet sich die Gegenwart schön. Doch dies nützt auf Dauer niemandem. Es gab schon Zeiten, in denen man die Realität nicht wahrhaben wollte. Wie das geendet hat, dürfte allen bekannt sein.
Nicht Abschottung, sondern Wettbewerb und Austausch führen letztlich zur Stärkung des Wirtschaftsstandorts Brandenburg und verbessern die Chancen auf Arbeit und Einkommen. Die Erfahrungen aus einem Jahr EU-Osterweiterung haben das bestätigt. - Diese Behauptung der Landesregierung lässt sich, wie Sie den Antworten auf unsere Fragen entnehmen konnten, durch nichts beweisen. Vielleicht nimmt die Landesregierung diese Große Anfrage zum Anlass, sich zukünftig sach- und fachkundig zu machen, bevor sie über irgendetwas spricht und irgendwelche Behauptungen in die Welt setzt. - Zunächst bedanke ich mich für die Aufmerksamkeit.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist offensichtlich: Mit Europa hat die DVU so ihre Probleme. Das kann ich gut verstehen. Wenn ganz Europa Deutschland wäre, wäre Ihre Welt natürlich in Ordnung. Gott sei Dank ist das nicht so.
Herr Vietze, man kann die Dinge so sehen, wie Sie sie hier vorgetragen haben. Ich denke aber, dass wir schon noch einmal festhalten sollten, dass da ein ganz ernster Hintergrund vorhanden ist. Ich weiß nicht, meine Damen und Herren von der CDU, von der Linkspartei.PDS und liebe Freunde von der SPD, wie es Ihnen und euch beim Lesen der Fragen ging, in Anbetracht der Art und Weise, in der sie formuliert sind. Ich sage Ihnen, es wäre eine spannende Aufgabe für Pädagogen und Weiterbildner, diese Fragen einmal bildungspolitisch aufzuarbeiten. In diesen Fragen fährt die DVU ganz knallhart ihre ideologische Schiene.
(Vietze [Die Linkspartei.PDS]: Das ist sehr richtig; das haben in der letzten Sitzung schon Frau Tack, Frau Weh- lan und Herr Schulze gesagt!)