Protokoll der Sitzung vom 22.02.2006

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der vorliegende Antrag der Fraktion der Linkspartei.PDS geht davon aus, dass ein akuter Fachkräftemangel für Brandenburg und darüber hinaus für ganz Deutschland anzunehmen sei, der durch die Einführung eines zusätzlichen Modellversuchs „Berufsausbildung mit Abitur“ verringert werden könnte. Dieser künftige Mangel ist insbesondere im Agrarbereich am deutlichsten zu sehen. Als Lösung sieht die Fraktion der Linkspartei.PDS die Einrichtung eines neuen Bildungsganges an Oberstufenzentren mit dem positiven Nebeneffekt, dass Brandenburger Unternehmen damit dringend benötigte Führungskräfte an sich binden würden.

Meine Damen und Herren, gestatten Sie mir als verantwortlichem Minister die Frage, was Sie so sicher macht, dass unser brandenburgisches Bildungssystem über diesen von Ihnen vorgeschlagenen zusätzlichen Weg einen Fachkräftemangel verhindern könne. Ein Blick auf das gegenwärtige Bildungssystem hätte da sicherlich schon geholfen. Denn bereits jetzt erwerben Schülerinnen und Schüler im doppelqualifizierenden Bildungsgang eine berufliche Qualifikation in einem anerkannten Ausbildungsberuf und gleichzeitig die Fachhochschulreife. Wir gewinnen damit in Abstimmung mit der Wirtschaft die notwendigen Fachkräfte, zum Beispiel - ich zähle einige auf - Forstwirte, Maurer, Energieelektroniker, Mechatroniker, Vermessungstechniker oder Industriemechaniker. Gleichzeitig sparen wir damit ein Jahr Schulzeit gegenüber dem regulären Weg. Denn sonst müssten die Absolventen nach der Berufsausbildung noch ein Jahr die Fachoberschule besuchen.

Ebenso haben unsere Abiturienten die Möglichkeit, sich während ihrer Schulzeit in der gymnasialen Oberstufe für eine allgemeinbildende oder berufsorientierte Schwerpunktsetzung zu entscheiden. Ihnen, meine Damen und Herren, werden die berufsorientierten Schwerpunkte Sozialwesen, Technik oder Wirtschaft an den OSZ sicherlich bekannt sein. Zudem haben dann die Abgänger der gymnasialen Oberstufe nach dem Abitur die Entscheidungsmöglichkeit für entsprechende Studiengänge bzw. für eine analoge Berufspraxis.

Sie sehen: Doppelqualifizierungsmöglichkeiten gibt es im Lande schon jetzt. Insofern ist Ihr Antrag, einen Modellversuch „Berufsausbildung mit Abitur“ zu starten, weniger innovativ und nutzbringend, als Sie vielleicht meinen. Ich stehe ihm jedenfalls skeptisch gegenüber. Wir müssen uns fragen, inwieweit die damit verbundene weitere Differenzierung im Bildungsbereich das vorhandene System unzumutbar verkomplizieren würde, zumal wir - Sie kennen die demografische Situa

tion - die künftig nur noch sehr wenigen Schülerinnen und Schüler nicht beliebig oft verteilen können.

Auch Folgendes dürfen wir nicht vergessen: Für den Erwerb des Abiturs sind 265 Unterrichtswochenstunden vorgeschrieben. Das heißt vermutlich, dass Ihr Vorschlag zu einem vierten Oberstufenjahr führen würde. Eine Verlängerung der Schulzeit - davon bin ich überzeugt - ist jedoch die falsche Denkrichtung.

Gestatten Sie mir abschließend eine grundsätzliche Bemerkung. Bevor wir neue Modellversuche initiieren, sollten wir die bereits vorliegenden Erfahrungen auswerten. Dazu zähle ich auch die Berufsausbildung mit Abitur, die 1959 in der DDR erstmals eingeführt wurde und in den 80er Jahren von 4 bis 5 % der Jugendlichen eines Jahrgangs absolviert wurde. Eine wissenschaftliche Analyse stellte dazu 1990 fest, dass wohl eine vollwertige Facharbeiterausbildung gewährleistet werde, dass allerdings nur von einem eingeschränkten Abiturniveau zu sprechen sei. Aus den westlichen Bundesländern liegen übrigens ähnliche Erfahrungen vor. Sicherlich ist diese Pauschalkritik nicht in jedem Fall berechtigt. Herr Vietze hat darauf hingewiesen, dass auch er dieses Abitur gemacht hat. Er sitzt heute im Landtag. Also so schlecht kann es in seinem Fall nicht gewesen sein.

(Vereinzelt Beifall bei der Linkspartei.PDS)

Aber - jetzt kommt das Aber - ich finde diese Kritik zumindest zum Teil berechtigt, und zwar aufgrund meiner persönlichen Erfahrungen, die ich als Honorarlehrer in der Oberstufe der BBS des Karl-Marx-Werkes in Potsdam gesammelt habe.

Ein weiterer zu beachtender Aspekt ist meines Erachtens der, dass die Kammern diesem Modell bisher konsequent ablehnend gegenüberstehen.

Ich sehe unsere gemeinsame Verpflichtung darin, unser Bildungssystem so zu schützen, dass wir nicht immer weniger Schülerinnen und Schüler auf immer mehr ausdifferenzierte Bildungsgänge verteilen. Das hilft, glaube ich, niemandem. Ihrem Ansatz, berufliche Schwerpunkte im schulischen Raum zu stärken, möchte ich gern folgen. Daher prüfen wir im Zusammenhang mit unserer beabsichtigten Schulgesetznovellierung, ob wir im Rahmen bestehender Angebote - ich betone: bestehender Angebote - eine fachgebundene Hochschulreife anbieten können. Diese Lösung scheint mir wesentlich überzeugender zu sein, als noch einen zusätzlichen Bildungsgang zu etablieren. - Vielen Dank.

(Beifall bei SPD und CDU)

Vielen Dank, Herr Minister. - Mir ist soeben mitgeteilt worden, dass sogar Abgeordnete ganz ohne Abitur im Landtag sitzen. Auch das geht offenbar.

Ich erteile jetzt dem Abgeordneten Görke noch einmal das Wort und biete ihm knapp fünf Minuten Redezeit.

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen, insbesondere liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalition! Ich hätte mir zu

diesem ernsten Thema schon eine konstruktivere Debatte gewünscht.

(Beifall bei der Linkspartei.PDS)

Liebe Frau Geywitz, die von Ihnen angeführten Argumente können wir wirklich nicht nachvollziehen.

Die CDU-Fraktion stellt sich im Übrigen ein Armutszeugnis aus, wenn sie „vergisst“, hier zu reden oder aus anderen Gründen keine Stellungnahme abgibt.

Ich möchte auf die Situation zurückkommen, mit der wir uns im Land konfrontiert sehen. Die SPD-Fraktion hatte bekanntlich die Absicht, die zum Thema für eine Aktuelle Stunde zu machen, die dann allerdings nicht stattfinden konnte. In dem entsprechenden Antrag hatte die SPD-Fraktion formuliert:

„Brandenburg packt die demografische Herausforderung in den nächsten Jahren an. Dazu werden gründliche Analysen wie die Fachkräftestudie ebenso benötigt wie neue, unkonventionelle Ideen und eine pragmatische Zusammenarbeit aller Akteure.“

(Beifall bei der Linkspartei.PDS)

Meine Damen und Herren von der SPD-Fraktion, die Berufsausbildung mit Abitur ist genau eine dieser Ideen. Sie ist unkonventionell, machbar und fußt auf realen ostdeutschen Erfahrungen.

(Beifall bei der Linkspartei.PDS)

Meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen, nehmen Sie sich ein Beispiel an Ihren christdemokratischen Kollegen in Thüringen oder an Ihren sozialdemokratischen Mitstreitern in Berlin!

Herr Minister Rupprecht, den von Ihnen vorgetragenen Einwand lasse ich nicht gelten. Natürlich wissen wir, dass es in unserem Land mit der Fachhochschulreife bereits die Möglichkeit der Doppelqualifizierung gibt. In unserem Antrag geht es aber um die Möglichkeit, das Abitur im Sinne der allgemeinen Hochschulreife zu erlangen.

(Beifall bei der Linkspartei.PDS)

Diese Möglichkeit wurde 2003 am Oberstufenzentrum für Informations- und Medizintechnik in Berlin eingeführt. In einer einheitlichen Bildungsregion - in der vergangenen Landtagssitzung haben wir darüber gesprochen - schickt es sich an, dass wir uns mit diesem Thema ernsthaft auseinander setzen.

Als weiteres Beispiel verweise ich auf Thüringen, meine Damen und Herren von der Koalition. Vor einem Jahr wurde im dortigen Landtag darüber diskutiert und im Sommer 2005 der Modellversuch „Agrarberufe mit Abitur“ eingeführt.

Ich stelle fest, dass in den letzten Tagen die Resonanz auf den Vorschlag unserer Fraktion gut war, nicht nur bei Eltern und Unternehmen, sondern auch bei Schülern. Letztere werden von uns Politikern immer aufgefordert, auf der Suche nach einem Ausbildungsplatz flexibel zu sein. Beweisen wir, dass wir den

Anspruch, den wir immer an die jungen Menschen stellen, erfüllen! Handeln wir flexibel und schnell!

(Beifall bei der Linkspartei.PDS)

In den nächsten Landtagssitzungen, insbesondere im Rahmen der Debatte über das Schulgesetz, werden Sie dieses Thema sicherlich noch einmal zur Beratung vorgelegt bekommen. Ich hoffe, dass sich dann auch die CDU-Fraktion an der Diskussion beteiligt. - Vielen Dank.

(Beifall bei der Linkspartei.PDS)

Obwohl ein Bildungsthema auf der Tagesordnung steht, eröffne ich jetzt keine Diskussion über Fleiß und Mitarbeit, sondern stelle nur fest, dass der Abgeordnete Senftleben eine Kurzintervention angemeldet hat.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die PDS hat in den letzten Monaten und Jahren feststellen können, dass sich die Union in der Debatte über die Bildungspolitik im Land Brandenburg deutlich zu Wort gemeldet hat. Das haben Sie auch des Öfteren beklagt. Es zeigt sich, dass die von der großen Koalition eingeleiteten Veränderungen Früchte tragen.

Herr Görke, ich möchte an dieser Stelle nicht erklären, weshalb ich die 11-Sekunden-Rede verpasst habe. Ich bin durchaus an einer ernsthaften Debatte interessiert.

Eines sage ich ganz deutlich: Die Mitglieder des Bildungsausschusses haben sich am Jahresanfang auf ein Verfahren verständigt, das das Schulgesetz betrifft. Wir sind übereingekommen, das zweite Halbjahr für eine Vielzahl von Anhörungsmöglichkeiten zu nutzen, um über möglicherweise anstehende Veränderungen des Schulgesetzes ausführlich diskutieren zu können.

Nachdem ich Ihren Antrag gelesen hatte, stellte sich mir die Frage, woher ich das Thema kenne. Ich kenne es nicht nur aus der DDR, sondern auch aus Stellungnahmen zum Schulgesetz, die uns von Verbänden vorliegen. Wir haben uns im Bildungsausschuss, trotz unterschiedlicher Meinungen, auf ein Verfahren verständigt. Sie aber greifen Passagen aus Stellungnahmen heraus, schreiben sie fast wörtlich ab und bringen das als Antrag in den Landtag ein. Das wissen Sie sehr genau, Frau Große. Ich kann Ihnen gern die Stelle zeigen. Ich halte diesen Weg für nicht nachvollziehbar.

Die Vorredner haben schon vieles gesagt. Ich möchte nur noch einmal auf Folgendes hinweisen: Schon heute gibt es in Brandenburg viele Möglichkeiten, bildungsmäßig zum Erfolg zu kommen. Die Oberstufenzentren haben die Möglichkeit, ein Abitur mit Berufsschwerpunkt anzubieten, zum Beispiel in den Bereichen Wirtschaft, Technik oder Sozialwesen. Seit August 2002 besteht die Möglichkeit, einen Ausbildungsvertrag mit Lehrinhalten abzuschließen, die es ermöglichen, dass man hinterher an einer Fachhochschule studiert. Wenn Sie das Programm gelesen hätten, wüssten Sie, dass darin auf das Fach

kräfteproblem im Land Brandenburg Bezug genommen wird; es kann auch dadurch gelöst werden.

(Unruhe bei der Linkspartei.PDS)

- Die Kurzintervention kann so lange dauern, wie es festgeschrieben ist.

Letzter Punkt. Herr Görke, Sie haben am 14. Februar im Radio gesagt:

„Viele Schüler machen Abitur aus Mangel an Ausbildungsperspektiven. Diesen Sachverhalt sollten wir nutzen, um Abitur und Ausbildung zu verbinden.“

Dieser Weg, den Sie vielleicht gehen wollen, ist falsch. Wir sagen den jungen Menschen ganz klar: Erwerbt eine gute Schulbildung für eine gute Berufsausbildung! Macht das Abitur, damit ihr die Möglichkeit habt zu studieren!

Wir können nicht zulassen, dass auf den Ausbildungsmarkt verstärkt Auszubildende mit Abitur drängen, die anderen - ohne Abitur - ihre Chance nehmen. Wir müssen die Quote derjenigen erhöhen, die ein gutes Abitur ablegen, damit sie hinterher studieren können, und Schulabgängern ohne Abitur ihrer Ausbildungsmöglichkeiten berauben.

Herr Senftleben, Sie haben genug interveniert. Ich danke Ihnen.

Ich danke Ihnen auch.

(Beifall bei der CDU)