Protokoll der Sitzung vom 28.10.2004

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren Abgeordneten! Werte Gäste! Die PDS-Fraktion hat sich trotz anderer aktueller Themen wie Trennungsgeldaffäre oder Fusionsdebatte bewusst für das Thema „Lehrstellensituation in Brandenburg“ entschieden. Wir halten es für nötig, dass das Parlament die Möglichkeit wahrnimmt, die dramatische Situation auf dem Ausbildungsmarkt in Brandenburg zu erörtern und daraus gegebenenfalls Konsequenzen abzuleiten.

Wenn die Gewerkschaften und die PDS im Frühsommer mit dem Ausbildungsthema kamen, dann sprach die alte Regierung immer von „reiner Panikmache“. Jetzt, nach Beginn des Ausbildungsjahres und nachdem man sich die konkreten Zahlen angeschaut hat, können keine Ausflüchte und Ausreden mehr gelten. Zum 1. September standen nach den Daten der Bundesagentur für Arbeit 12 400 noch nicht vermittelten ausbildungssuchenden Jugendlichen 1 400 freie Ausbildungsplätze gegenüber, das heißt, zu Schuljahresbeginn gab es rechnerisch 11 000 unversorgte Jugendliche in Brandenburg.

Für die Betroffenen ist das eine Katastrophe, für unsere Gesellschaft ein riesiges Problem. Wer heute keine Lehrstelle findet, findet morgen keinen Job und landet womöglich im Kreis der Bezieher von Arbeitslosengeld.

In der nächsten Woche werden neue Ausbildungszahlen veröffentlicht. Für viele Beobachter wird sich eine wundersame Entwicklung des Lehrstellenproblems in Brandenburg ergeben. Wie sieht diese Lösung aus und welchen Preis hat sie?

Mit notwendigen staatlichen Sonderprogrammen für überbetriebliche Ausbildung, zum Beispiel des Bundes und des Landes, aber auch der BA, mit schulischen Warteschleifen unter dem Namen „berufsvorbereitende Maßnahmen“ werden wieder Tausende Jugendliche unter anderem in der einjährigen Berufsschule „überwintern“, in der Hoffnung, später doch noch einen Ausbildungsplatz zu bekommen. Im Grunde sind das die neuen Altnachfrager für das nächste Jahr.

Das wird dazu führen, dass der erstaunten Öffentlichkeit zum Jahresende ein „entspanntes“ Lehrstellenangebot präsentiert wird.

Was ist der Preis?

Erstens: Viele dieser - vor allem in den Oberstufenzentren kurzfristig eingeleiteten Maßnahmen sind reine Notstopfen und Feuerwehrmaßnahmen - aus meiner Sicht ohne konzeptionelle Perspektive für die betroffenen Jugendlichen, die Lehrkräfte und die Wirtschaft. Herr Bildungsminister, wenn Sie einen Rundruf in den Oberstufenzentren durchführen, werden Sie feststellen, dass dort ein regelrechtes Chaos herrscht.

Zweitens: Das Grundrecht auf freie Berufswahl für die junge Generation bleibt mit dieser Politik auf der Strecke. Tausende Brandenburger Jugendliche kommen mit ihrem Berufswunsch nicht zum Zuge, sondern werden in ungeliebte Berufe, aber auch in Warteschleifen abgedrängt. Vielfache Wechsel und Abbrüche sind die Folgen, deren Kosten der Steuerzahler zu tragen hat.

Drittens: Schauen wir in unseren Landeshaushalt! Wir finden dort mehrere entsprechende Haushaltsstellen mit einem be

achtlichen Volumen. So sind für Programme für die berufliche Bildung immerhin 64 Millionen Euro eingestellt. Das erfreut einen Ausbildungspolitiker natürlich. Die Mittel werden aber nicht in erster Linie für die weitere Modernisierung der beruflichen Bildung in Brandenburg, sondern hauptsächlich zur Schließung der Ausbildungsplatzlücke eingesetzt.

Meine Damen und Herren! Im so genannten „Ost-Bericht“ eines großen deutschen Meinungsforschungsinstituts wurden Jugendliche nach den Gründen für ihre mögliche Abwanderung gefragt. Zwei Drittel der Befragten sagten, sie könnten sich vorstellen, die Heimatregion zu verlassen, und verwiesen in ihren Begründungen auf die eindeutig bessere Lage auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt in den westlichen Ländern.

Wie kann diesem Trend des Bevölkerungsrückgangs in Brandenburg entgegengewirkt werden? Der Ministerpräsident hat gestern in seiner Regierungserklärung nur eine unvollständige Antwort gegeben. Eine Antwort - eine! - kann heißen: verstärkt ausbilden, vor allen Dingen betrieblich, und damit Perspektiven eröffnen, statt die Abwanderung aus Brandenburg zu begünstigen.

Meine Damen und Herren! Viele Unternehmen in Brandenburg haben sich aus der betrieblichen Ausbildung und damit aus dem dualen System zurückgezogen. Das jedoch sind eigentlich die zukunftsfähigsten Ausbildungsplätze! Diese gibt es momentan insoweit ist eine leichte Steigerung zu verzeichnen - nur in 18 500 Brandenburger Unternehmen. Gerade diese Unternehmen verdienen unseren Respekt und unsere Anerkennung, weil sie auch in angespannten wirtschaftlichen Situationen ihrer Verantwortung der beruflichen Ausbildung nachkommen.

(Beifall bei der PDS)

Aber es gibt in Brandenburg auch 38 500 Unternehmen, die nicht ausbilden; 35 000 davon könnten es. Die 20 000 Ein- und Zweipersonenunternehmen habe ich noch nicht einmal eingerechnet. Wir müssen feststellen: Jeder zweite Ausbildungsplatz in Brandenburg ist mittlerweile ein staatlich geförderter Ausbildungsplatz. In Brandenburg ist mittlerweile die Bundesanstalt für Arbeit der größte Ausbildungsplatzanbieter.

Meine Damen und Herren! Wer nicht will, dass sich von Jahr zu Jahr - trotz aller Appelle und dem Klinkenputzen von uns Politikern - die Lehrstellensituation weiter verschlechtert; wer nicht will, dass sich die Arbeitgeber immer weiter aus der betrieblichen Ausbildung zurückziehen und damit das duale System weiter austrocknet; wer nicht will, dass das jährliche Pokern um unter anderem vom Bund finanzierte staatliche Sonderprogramme weiter fortgesetzt wird und gleichzeitig die öffentlichen Haushalte damit belastet werden, der muss sich auf Alternativen verständigen und diese konsequent durchsetzen.

Nach Lage der Dinge kann das momentan - ich weiß, dass das eine Hilfskrücke ist - aber nur die solidarische Umlagefinanzierung oder auch Ausbildungsumlage sein.

(Beifall bei der PDS - Zuruf von der CDU: Die Hilfskrü- cke hilft aber nicht!)

- Lieber Kollege, da höre ich ja auch schon die Kritiker in diesem Haus.

Wenn man einmal ganz unideologisch und unverkrampft hinschaut, wird man schnell feststellen: Es geht hier nicht um die Wiedereinführung des Sozialismus, sondern es ist eher ein bescheidener Versuch eines Lastenausgleichs zwischen denen, die ausbilden, und denen, die sich bisher an der Ausbildung nicht beteiligt haben.

(Beifall bei der PDS - Zurufe bei der CDU)

Ich sage auch - das ergibt die Statistik -, dass die meisten Brandenburger Unternehmen nicht Einzahler in diesen Ausbildungsfonds sein werden, sondern sie wären durchaus Nutznießer. Hauptzahler - das sagt der Berufsbildungsbericht - wären vor allen Dingen die größeren Unternehmen, die eine geringere Ausbildungsquote haben oder gar nicht ausbilden. Sie sind es auch, meine Damen und Herren, die den politischen Zugriff auf die Unternehmerverbände haben und die dafür gesorgt haben, dass das Berufsausbildungssicherungsgesetz mit der solidarischen Ausbildungsplatzabgabe in Berlin auf Eis gelegt wurde. Dabei war gerade dieses Gesetz für mich das einzig Gute an der Agenda 2010.

Meine Damen und Herren und vor allen Dingen meine Kolleginnen und Kollegen von der SPD, schade, dass Sie dieses Gesetz nicht mit der gleichen Konsequenz begleitet haben, wie Sie die Arbeitsmarktreform in dieser Bundesrepublik auf den Weg gebracht haben.

(Beifall bei der PDS)

Zurück zur Brandenburger Realität, zurück zum 30. September! Das genau ist der Stichtag, an dem der Ausbildungspakt zwischen der Bundesregierung und den Spitzenverbänden der deutschen Wirtschaft einer ersten Bilanz unterzogen werden sollte. Nach den Erhebungen der Bundesagentur für Arbeit gab es in Brandenburg zu diesem Stichtag 3 080 Lehrstellensuchende und nur noch 80 offene Lehrstellen. Das sind noch einmal 320 Lehrstellensuchende mehr als im letzten Jahr.

Ganz nüchtern muss man feststellen - zumindest für Brandenburg -, dass der Ausbildungspakt trotz aller Bemühungen von vielen für dieses Jahr als gescheitert angesehen werden muss. Genau deshalb muss die solidarische Ausbildungsplatzabgabe eingeführt werden.

Wir als PDS-Fraktion verlangen von einer SPD-geführten Regierung, Herr Ministerpräsident, dass sie sich in Anbetracht dieser Zahlen, dieser Verwerfungen auf dem Ausbildungsmarkt endlich dafür einsetzt, dass das Berufsausbildungssicherungsgesetz in Berlin auf die Tagesordnung der Politik zurückkehrt.

(Beifall bei der PDS)

Aber was will man eigentlich von einer SPD/CDU-Koalition verlangen, wenn zu dem wichtigsten Thema - der Ausbildung in Brandenburg - in der Regierungserklärung des Ministerpräsidenten und auch in dem 42 Seiten umfassenden Koalitionspapier lediglich zweieinhalb Sätze zur Ausbildung stehen? Sie als neue Koalition haben es versäumt, ein deutliches Zeichen für mehr Ausbildung in Brandenburg zu setzen. Mit plakativen Hinweisen auf die Verantwortung der Wirtschaft und auf die Lückenschlussprogramme allein werden wir diese Sache nicht meistern.

Kein Wort über die Bereitschaft für eine deutlich höhere Ausbildungsquote in der Landesverwaltung! Für die PDS-Fraktion ist es nicht hinnehmbar, dass in Anbetracht des massiven Rückgangs auf dem Ausbildungsmarkt in Brandenburg die Ausbildungsquote einer Landesverwaltung um die 2 % liegt.

Da kann man zur Bundesregierung stehen, wie man will: Sie hat zumindest gezeigt, wie eine öffentliche Verwaltung selbst Verantwortung übernimmt und die Anzahl der Ausbildungsplätze innerhalb weniger Monate um 30 % erhöht hat.

Bleiben wir bei der Verantwortung der Landespolitik - Stichwort „Landesvergabegesetz“. Das war ja Ihr Aufmacher bei der letzten Landtagswahl, meine Damen und Herren von der CDU. Ich höre noch Ihre Forderungen. Im Koalitionsvertrag kein Wort dazu!

Die PDS-Fraktion wird in den nächsten Wochen ein Landesvergabegesetz in dieses Parlament einbringen, um gerade örtliche und regionale Unternehmen besser zu stellen, sie durch die Erteilung öffentlicher Aufträge auch in die Lage zu versetzen, ausbilden zu können.

Auch die Bevorzugung von Unternehmen, die ausbilden, gehört auf die Tagesordnung. Ich bewundere die Geduld der Unternehmen, die im täglichen Wettbewerb mit konkurrierenden Unternehmen, die keine Lehrlinge beschäftigen, ihren Verpflichtungen zur Ausbildung nach wie vor nachkommen.

Wir haben gestern schon über Berlin geredet: Berlin macht es vor; Unternehmen, die ausbilden, werden in Berlin bei Ausschreibungen bevorzugt. Auch hier hat die Brandenburger Regierung, zumal wir hier in einer Region leben, erheblichen Nachholbedarf.

Meine Damen und Herren, die Kluft zwischen den hohen Erwartungen der Betriebe und den real existierenden Fähigkeiten der Jugendlichen hat einen Begriff populär gemacht, den vor zehn Jahren kaum jemand kannte, den Begriff der Ausbildungsfähigkeit. Ich will nicht noch einmal ausführlicher über die Ergebnisse der PISA-Studie reden, aber eines sagen, meine Damen und Herren von CDU und SPD: Wer durchschnittlich 3 600 Euro pro Schüler und Jahr für Bildung einsetzt und damit die letzte Stelle unter allen Bundesländern einnimmt, braucht sich über diese Entwicklung doch wirklich nicht zu wundern.

(Beifall bei der PDS)

Der im August 2003 groß angekündigte Ausbildungsgipfel des Ministerpräsidenten mit den Kammern und den Sozialpartnern, die Neuauflage des Brandenburger Ausbildungskonsenses vom Mai dieses Jahres und auch die beschwörenden Formeln des ehemaligen Sozialministers und jetzigen SPD-Fraktionschefs Baaske nach einem großen Ruck für mehr Ausbildung klingen in Anbetracht der Ausbildungssituation in Brandenburg recht hilflos, denn die Ausbildungssituation ist auf einem Tiefstand seit der deutschen Wiedervereinigung.

Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, setzen Sie sich endlich für die Umlage ein! - Vielen Dank.

(Beifall bei der PDS)

Ich danke dem Abgeordneten Görke. - Das Wort erhält jetzt die SPD-Fraktion, für die Frau Dr. Schröder spricht.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn in diesen Tagen noch immer viel zu viele junge Brandenburgerinnen und Brandenburger nach einer betrieblichen Lehrstelle suchen, dann steht es dem Landtag gut zu Gesicht, ihnen zu signalisieren, dass ihre Probleme hier verstanden und politische Lösungen erarbeitet und umgesetzt werden.

Jugendarbeitslosigkeit ist eine der größten sozialen Ungerechtigkeiten unserer Gesellschaft. Hiermit verbindet sich letztlich nicht weniger als die Frage nach der Zukunftsfähigkeit auch unseres Landes.

Noch immer läuft in den wirtschaftlich schwachen Regionen Brandenburgs die Abstimmung mit den Füßen auf Hochtouren. Junge Leute verlassen auf der Suche nach einem Ausbildungsund Arbeitsplatz unser Land und ziehen in die westlichen Bundesländer. Zukunft bedeutet für diese jungen Menschen ein Stück weit auch Zwang zur Aufgabe von Herkunft. Hier sind wir in einem Dilemma, weil wir diese Herkunft so dringend für unsere Zukunft brauchen. Klar ist, die Zukunft unseres Gemeinwesens liegt zuerst in den Händen gut ausgebildeter Menschen.

(Vereinzelt Beifall bei der PDS)

Meine Damen und Herren, all dies ist zwischen den Parteien wohl unstrittig und doch debattieren wir alljährlich im Herbst durchaus kontrovers die angespannte Ausbildungssituation. Dabei jedoch, meine Damen und Herren von der PDS, ist mehr Realismus gefragt. Wir können die Ausbildungslücke nicht losgelöst von der allgemeinen Wirtschaftslage, von der spezifischen Beschäftigungslage im Land und insbesondere nicht losgelöst von der Brandenburger Betriebsstruktur betrachten. Das haben Sie jedoch getan.

Auch sollten wir mit statistischen Daten verantwortungsvoller umgehen. Lassen Sie mich die oberflächliche Argumentation der PDS an diesen entscheidenden Stellen geraderücken und qualifizieren. Wenn wir anhand der Zahlen der Bundesagentur für Arbeit zur Kenntnis nehmen müssen, dass in Brandenburg Ende September 3 080 noch nicht vermittelte Bewerberinnen und Bewerber um einen Ausbildungsplatz lediglich 80 unbesetzten Lehrstellen gegenüberstanden, dann ist das eine selektive statistische Momentaufnahme. Diese Statistik kann nämlich nur einen Teil des Geschehens auf dem Ausbildungsmarkt abbilden.

Aus den Erfahrungen - das weiß jeder, der sich mit der Materie beschäftigt - der Vorjahre wissen wir, dass in den nächsten Monaten noch reichlich Bewegung in die Zahlen kommen wird. Das, Herr Kollege Görke, ist nicht wundersam, sondern eine ganz logische Entwicklung.

Entscheidend ist - wie in den Vorjahren auch und nicht nur in Brandenburg, sondern bundesweit - die jetzt laufende Nachvermittlungsphase. Die Handwerkskammern haben die ersten erfolgreichen Nachvermittlungen gemeldet. Brandenburger Unternehmen stellen nach den Angaben der Industrie- und Handelskammern sogar deutlich mehr betriebliche Ausbildungsplätze als im Vorjahr zur Verfügung. Bis Ende September wurden 9 861 neue Ausbildungsverträge geschlossen, 718 mehr als noch vor einem Jahr. Das ist ein Plus von etwa 8 %.