Protokoll der Sitzung vom 14.09.2006

Meine Damen und Herren, nachdem sich die Regierungsbänke wohlbekleidet und beschlipst gefüllt haben, darf ich Sie zur 36. Plenarsitzung des Landtages Brandenburg begrüßen.

Vor Eintritt in die Tagesordnung teile ich Ihnen mit, dass der CDU-Fraktionsvorsitzende Thomas Lunacek heute seinen 42. Geburtstag feiert. Alles Gute!

(Unter allgemeinem Beifall überreichen einige Abgeord- nete Herrn Lunacek Blumen.)

Dann habe ich die Freude, Gäste in unserer Runde begrüßen zu dürfen. Es sind Schülerinnen und Schüler der Stadtschule in Altlandsberg. Herzlich willkommen, liebe Märkisch-Oderländer!

(Allgemeiner Beifall)

Ich habe vorweg einige Bemerkungen zur Tagesordnung zu machen. Zum Tagesordnungspunkt 6 - Unterrichtung des Landtages über die Fortschreibung der Personalbedarfsplanung - und zum zusätzlichen Tagesordnungspunkt 10 - Wahl eines Richters des Verfassungsgerichts des Landes Brandenburg; Antrag mit Wahlvorschlag - wurde vereinbart, keine Debatte zu führen.

Gibt es von Ihrer Seite Bemerkungen oder Ergänzungen? - Das ist nicht der Fall. Ich lasse über die Tagesordnung abstimmen. Wer ihr zustimmt, den bitte ich um sein Handzeichen. - Gibt es Gegenstimmen? - Stimmenthaltungen? - Damit ist die heutige Tagesordnung einstimmig angenommen.

Wir haben die ganztägige Abwesenheit des Ministerpräsidenten sowie von Ministerin Ziegler zu bedauern. Minister Junghanns wird ab 16.30 Uhr abwesend sein; einige Abgeordnete sind ebenfalls nicht anwesend. Sie alle werden gut vertreten.

Wir treten in die Tagesordnung ein. Ich rufe Tagesordnungspunkt 1 auf:

Aktuelle Stunde

Thema: Schul- und Ausbildungsfähigkeit verbessern

Antrag der Fraktion der SPD

Die Debatte wird mit dem Beitrag der Abgeordneten Siebke von der SPD-Fraktion eröffnet.

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Seien wir ehrlich: Bis vor vier oder fünf Jahren stand das Thema Bildung in Deutschland nicht ganz oben auf der Tagesordnung zu Unrecht, wie ich meine. Dabei ist Bildung heutzutage die Voraussetzung für fast alles; damit man im Leben weiterkommt, für Wachstum und soziale Gerechtigkeit. Bildung ist die Investition in die Zukunft.

Brandenburg hat zwar in verschiedenen Bildungstests nach PISA immer besser abgeschnitten, genug ist uns das jedoch noch lange nicht. Deshalb haben die SPD-Fraktion und die Regierung unter Matthias Platzeck in dieser Legislaturperiode Bildung zur Priorität erklärt. Wir wollen, dass Brandenburg zum Bildungsland Brandenburg wird. Dafür arbeitet die Koalition.

Warum ist Bildung so ungeheuer wichtig? - Im 21. Jahrhundert kann es nicht mehr darum gehen, dass der Staat jedem Bürger die exakt gleichen Lebensbedingungen organisiert, aber er muss den Menschen die gleichen Lebenschancen bieten. Er muss von Anfang an und ein Leben lang in die Menschen investieren. Im Zentrum steht dabei die Bildung. Die erfolgreichen skandinavischen Länder machen es uns vor. Auch sie investieren in bessere Bildung und damit in die Lebenschancen der Menschen. Auf genau diesen Weg hat sich Brandenburg begeben. Auch wir investieren in Brandenburgs Zukunft.

Unsere Gesellschaft entwickelt sich mehr und mehr zu einer Wissensgesellschaft. Im 21. Jahrhundert werden Information und Wissen zu den wichtigsten Faktoren für wirtschaftlichen Erfolg. Jene Unternehmen werden vorn liegen, die über mehr Wissen verfügen als ihre Konkurrenten. Metropolenregionen wie Berlin-Brandenburg werden von der Wissensgesellschaft besonders profitieren. Mit dem Trend zur Wissensgesellschaft steigen aber auch die Anforderungen an die Arbeitnehmer. Keine Bäckerei arbeitet heutzutage ohne Hochtechnologie, kein Händler ohne Computer, keine Fabrik ohne komplexe Lagersysteme.

Wer gut ausgebildet ist, hat gute Chancen auf einen Job. Umso wichtiger wird die Qualität der Ausbildung jedes jungen Brandenburgers und jeder jungen Brandenburgerin. Jeder wird gebraucht. Für junge Menschen bestehen künftig große Chancen, in Brandenburg eine gute Arbeit zu finden. Aber ich wiederhole: Das gilt für gut ausgebildete junge Menschen, nicht automatisch für alle, die bei sinkenden Schülerzahlen die Schulen verlassen. Gebraucht werden Fachkräfte.

Fest steht auch: Bildung dient nicht nur dem wirtschaftlichen Erfolg. In Kita und Schule erlernen Kinder soziale Kompetenzen. Hier sollen sie Selbstbewusstsein aufbauen, hier sollen sie - und zwar unabhängig von ihrer sozialen Herkunft - auf ein selbstbestimmtes Leben vorbereitet werden.

Kein Kind dürfen wir zurücklassen; denn stärker denn je ist die gesellschaftliche Teilhabe des Einzelnen an die Teilhabe an Bildung geknüpft. Ein gutes Bildungssystem sichert demzufolge auch die soziale Gerechtigkeit mit.

Genau deshalb hat die SPD-Fraktion das Jahr 2006 zum Jahr der Bildung ausgerufen. Von März bis April hat die SPD-Landtagsfraktion die Veranstaltungsreihe „Schule und Wirtschaft“ zum dritten Mal durchgeführt. An mehr als zwei Dutzend Abenden brachten wir Schüler, Lehrer und Eltern mit Unternehmen an einen Tisch.

Ende des Jahres werden wir das neue Schulgesetz verabschieden. Über das geplante Gesetz haben wir auf vielen Regionalkonferenzen in ganz Brandenburg mit Schülern, Eltern, Lehrern, Unternehmern und anderen Verantwortlichen diskutiert. Die Konferenzen haben einmal mehr gezeigt, wie wichtig die Zusammenarbeit aller Akteure bei diesem zentralen Zukunfts

thema ist. Es ist deutlich geworden, dass die Menschen in diesem Lande begriffen haben, wie wichtig Bildung für die Zukunft ihrer Kinder und die Zukunft ihres Landes ist.

Wir Sozialdemokraten lassen uns dabei von folgenden Handlungslinien leiten:

Erstens: Wir wollen die Qualität der Bildung steigern. Jedes Kind soll entsprechend seinen Talenten und Fähigkeiten noch stärker gefördert werden. Für die Kitas planen wir Qualitätsstandards und eine verpflichtende Sprachstandsmessung. Die Grundschulen sollen flexiblere Rahmenbedingungen bekommen und so alle Kinder individuell betreuen können. Auch sollen die Schulen mehr Freiräume erhalten und selbstständiger und eigenverantwortlicher handeln.

Gleichzeitig sollen die Kitas und Grundschulen aber auch enger zusammenarbeiten. Die guten Startchancen eines Kindes am Beginn der schulischen Laufbahn hängen mehr denn je davon ab, wie die Kita dieses Kind vorbereitet und wie die Grundschule auf die unterschiedlichen Lernstände oder Begabungen ihrer ABC-Schützen eingeht. Das Ministerium hat für das laufende Schuljahr erstmals eine Unterrichtsstunde pro Schule für derartige Vorhaben zur Verfügung gestellt. Sie gilt es, pädagogisch sinnvoll zu nutzen; denn zunächst kommt es auch auf einen gelungenen Start an, der nicht selten über die weitere Schullaufbahn mit entscheidet.

Zweitens: Wir wollen die Schulen durchlässiger machen. Möglichst viele Schüler sollen unabhängig von ihrer sozialen Herkunft und vom Wohnort gute Abschlüsse machen. Wir wollen Schüler nicht ausgrenzen und aussondern, sondern einbinden. Daher bauen wir in Brandenburg die Ganztagsschulen aus. Genau deshalb stellen wir die Entscheidung, ob ein Kind in eine Förderschule aufgenommen werden soll, auch auf eine breitere Basis; denn kein Kind soll zu früh in eine Förderschule abgeschoben werden können.

(Beifall bei der SPD)

Weiterhin hat das Bildungsministerium ein Maßnahmenpaket für die Oberschulen in Höhe von 19 Millionen Euro aufgelegt. Diese 19 Millionen Euro werden eingesetzt, um die Oberschulen auch auf ihre Anschlussfähigkeit an das Berufsbildungssystem hin zu stärken; denn neben der Erweiterung der Stundentafel stehen vor allem das soziale Lernen und das Praxislernen im Mittelpunkt. Auch hier gilt, dass kein Schüler und keine Schülerin die Schule ohne Abschluss und Perspektive verlassen soll.

Unsere Politik muss sich immer auch an der Frage messen, ob die Übergänge so gestaltet sind, dass wir das Optimum für unsere Landeskinder herausholen können, also ob sie entsprechend ihren Fähigkeiten und Begabungen die weitere Schul-, Berufs- oder aber auch Hochschulbildung durchlaufen können.

Ich meine, hier gibt es in Brandenburg noch Potenzial. Hier können noch mehr Synergieeffekte entstehen. Aus diesem Grund startet die SPD-Fraktion in diesem Monat mit einer weiteren Kampagne. Diesmal stehen die beiden Institutionen Kita und Grundschule im Mittelpunkt. Ich bin mir sicher, diese wird genauso erfolgreich wie die Kampagne zur Zusammenarbeit zwischen Schule und Wirtschaft.

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zusammenfassen.

Mit all diesen Maßnahmen verfolgen wir eindeutige Ziele. Wir wollen kein Kind zurücklassen, sondern allen Kindern die gleichen Lebenschancen bieten. Dafür brauchen wir Qualität, Durchlässigkeit und gut organisierte Übergänge. Nur so schaffen wir die Voraussetzungen dafür, dass sich die vielen Talente in diesem Land optimal entfalten können.

Des Weiteren werden wir uns für eine bessere Bildung aller einsetzen; denn wir wissen, Bildung ist der Kern sozialer Gerechtigkeit, weil sie Lebenschancen eröffnet. - Vielen Dank.

(Beifall bei SPD und CDU)

Für die Linkspartei.PDS-Fraktion erhält die Abgeordnete Große das Wort.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren Abgeordnete! Das Thema ist so aktuell wie es ein Dauerbrenner ist. Ich habe schon Verständnis dafür, verehrte Kolleginnen und Kollegen der SPD-Fraktion, dass Sie um die Meinungsführerschaft bei Bildungsthemen kämpfen müssen, da Ihr Koalitionspartner nicht müde wird, zu behaupten, aller Segen der Brandenburger Schulpolitik komme von der CDU-Fraktion, die ungeheuerlichen Unterrichtsausfälle aber seien eine SPD-Last.

(Minister Schönbohm: Gute Arbeitsteilung! - Schippel [SPD]: Nicht alle Behauptungen sind wahr!)

Deswegen will die CDU-Fraktion eine Kampagne zur Unterrichtsabsicherung ins Leben rufen, Sie aber wollen eine andere Kampagne. Nun dient also die Aktuelle Stunde der Kampagneneröffnung der SPD-Fraktion. Dem Schulvolk wird suggeriert, dass die 19 Millionen ESF-Mittel zur Stärkung der Oberschule eine Art Kampagnenbegleitgeschenk sind. Wir sind nun alle herzlich eingeladen, die Begleitmusik zu spielen und über den ich zitiere - „verheerenden Einfluss von Abstimmungsschwierigkeiten“ - so heißt es in Ihrer Begründung - „zu debattieren“.

Die Übergänge sind also das Thema. Kita-Erzieherinnen klagen über Eltern, Grundschullehrkräfte über die Kita, Sek-ILehrkräfte sind höchst unzufrieden mit dem Niveau der Grundschule - der Kampfbegriff ist dabei „Kuschelpädagogik“ -, und Lehrkräfte der gymnasialen Oberstufe haben schwere Krisen, weil sie nicht wissen, wie sie die künftigen Abiturienten durch das Abitur bekommen sollen. Falls sie diese Schüler in der Sekundarstufe I aber selbst unterrichtet haben, suchen sie die Schuld schon einmal bei den Eltern. In der Industrie und im Handwerk erklingen in Zeiten, in denen 10 200 Ausbildungsplatzsuchende auf 2 600 Angebote verteilt werden müssen, täglich Klagelieder. An Hochschulen leiden frustrierte Dozenten unter dem andauernden Niveauverlust der Studenten.

Nach meiner Erinnerung war das mehr oder weniger schon immer so. Dennoch hat es einen rationalen Kern und eine neue und vor allem soziale Dimension. Rückstellungen und Abbrecherquoten sprechen eine eigene Sprache. Die Ursache jedoch - wie in Ihrer Begründung ausgewiesen - in Abstimmungsproblemen zu sehen ist wohl zu einfach.

Ich beginne mit der Schulfähigkeit, einem wunderbar doppel

deutigen Begriff. Gemeint hat der Antragsteller die durch Schuleingangsuntersuchungen ermittelte Schulreife. Als ich im Jahr 1960 eingeschult wurde, gehörte zur Schuluntersuchung noch der so genannte Armtest, bei dem man mit dem Arm bis ans Ohr gelangen musste. Davor hatten wir Kinder großen Respekt. Inzwischen gibt es ein qualifiziertes, modernes Testverfahren. Jedoch werden 10,2 % der Kita-Kinder und 15,2 % der Hauskinder zurückgestellt. Diese haben dann einen ersten Knick in ihrer Bildungsbiografie.

Was passiert in dieser ersten Warteschleife in den Kindertagesstätten? - Es gibt noch keine - zumindest nicht in dieser Warteschleife - gesetzlich gesicherte Frühförderung. Der Anteil von Kindern mit Sprachauffälligkeiten liegt - wie Sie wissen - mittlerweile bei 20,3 %. Die Sprachstandsfeststellung und die kitaintegrierte Sprachförderung werden diesbezüglich etwas leisten, jedoch setzt das zu spät - erst im letzten Jahr vor der Schule - ein.

Vielleicht sollten wir nachdenken und es wie die Berliner machen. Dort gibt es keine Schulrückstellungen mehr. Das hat man unter Rot-Rot in Berlin abgeschafft.

(Beifall bei der Linkspartei.PDS)

In den meisten Ländern der OECD gibt es diese Warteschleifen überhaupt nicht. In Finnland werden Kinder mit Defiziten im frühkindlichen Bereich früher eingeschult, damit sie mehr Zeit haben. Müsste Schulfähigkeit nicht eigentlich die Fähigkeit der Schule sein, das Kind adäquat zu fördern?

(Beifall bei der Linkspartei.PDS)

Hierzulande wird Schulfähigkeit immer noch als Eigenschaft des Kindes betrachtet, ausgehend von überholten reifungstheoretischen Vorstellungen, und das trotz aller einschulungsdiagnostischen Fortschritte, trotz der Kenntnis vom Wirken der relativen Armut und der anderen Faktoren. Vor allem geht es hier schon damit los, Kinder über ihre Mängel zu definieren. Seit Jahren wird die unzureichende Verzahnung von Kita und Grundschule beklagt. Den „Strickfehler“ im System benennt aber niemand. Das KJHG ist Bundesgesetz, die Bildung liegt beim Land. Der Gesetzgeber Land stößt immer wieder an Grenzen. Sicherlich gibt es auch neben den gesetzlichen Möglichkeiten vieles, was der besseren Koordinierung von Kita und Schule dient. Einiges wird jetzt, 16 Jahre nach der Wende, wiederentdeckt. Eine Kita-Leiterin berichtete mir neulich freudestrahlend, dass sie erstmals einen Elternabend mit der Leiterin der Grundschule an ihrem Ort abhält. Darüber kann ich mich natürlich nur wundern.

Viele neue Hürden werden aber auch erst gelegt: Inwieweit zum Beispiel wurde der Bildungsauftrag der Kindertagesstätten mit den Grundschullehrplänen abgestimmt? Wie wurde die frühere Einschulung der Kinder mit nunmehr fünf Jahren durch Schule und Kita gemeinsam vorbereitet? Was wissen Grundschullehrkräfte über die neue Sprachförderung an den Kindertagesstätten? - Das alles haben Sie in der Hand, meine verehrten Damen und Herren von der Koalition. Das sind nicht vordergründig Fragen der Ausfinanzierung und der Abstimmung.

In Berlin hat man vernünftigerweise trotz KJHG die Horte wieder personell und räumlich bei den Schulen angebunden. Dort