Protokoll der Sitzung vom 31.08.2011

Aufgrund der hohen Abwanderung nach England, Irland und in andere Staaten seit 2004 ist der Spielraum für die Arbeitsmigration nach Deutschland zudem von vornherein gering gewesen. Vor diesem Hintergrund erwecken auch Initiativen der Wirtschaftskammern zur Gewinnung von polnischen Lehrlingen für Brandenburger Unternehmen nicht nur Freude auf der anderen Seite von Oder und Neiße: Unsere Lehrlinge - das sagt man uns bei unseren Besuchen in den Nachbarwoiwodschaften werden dringend im eigenen Land gebraucht.

Viel wichtiger erscheint uns deshalb, dass sich Brandenburg gemeinsam mit den polnischen Partnern überlegt, wie es mittelfristig - auch mithilfe von EU-Mitteln - Projekte unterstützen kann, in denen junge Menschen für ein Arbeitsleben in einer bilingualen und bikulturellen deutsch-polnischen Grenzregion aus- und fortgebildet werden können. Hier könnte der immer wieder geforderte europäische Wert, den europäische Förderung haben soll, offensichtlich werden. Genau das brauchen wir angesichts des zunehmenden Verdrusses großer Teile der Bevölkerung gegenüber den politischen Akteuren in der Europäischen Union. Mit solchen Projekten wird Europa für die Bürgerin und den Bürger sichtbar.

Ideen dazu gibt es, wie die Mitglieder unseres Europaausschusses bei ihrem Arbeitsbesuch in Niederschlesien erfahren konnten. Solche und ähnliche Ideen müssen zur Einreichung der Operationellen Programme für die EU-Förderperiode 2014 bis 2020 bei der Europäischen Kommission das Stadium eines fertigen Projektes, das alle Anforderungen an eine EU-Förderung erfüllt, erreicht haben. Dann haben wir eine Chance, die heutigen Ideen auch umzusetzen.

Wir wollen junge Leute, Polen wie Deutsche, hier in der Region halten und für sie zukunftsfeste Arbeitsplätze schaffen. Das ist eine gemeinsame Aufgabe deutscher und polnischer Politiker. Genau in diesem Bereich muss endlich an Tempo zugelegt werden. Manchmal sind unsere Entscheidungswege doch ziemlich lang. In Polen erwecken wir damit nicht selten den Eindruck, dass hier einmal gemeinsam Diskutiertes längst zu den Akten gelegt wurde.

Egal, ob es tatsächlich so ist oder nicht - wir brauchen mehr Verbindlichkeit in den deutsch-polnischen Gesprächen und zügige Entscheidungsprozesse zur Errichtung eines gemeinsamen Arbeitsmarktes, zur gemeinsamen Berufsausbildung und generell zur Schaffung gemeinsamer Bildungsangebote. Wir erwarten hier vor allem von zwei Gremien wichtige Anregungen und konkrete Schritte: zum einen von dem neu geschaffenen Deutsch-Polnischen Ausschuss für Bildungszusammenarbeit im Rahmen der Deutsch-Polnischen Regierungskommission, die sich neben der Förderung der Sprache des Nachbarlandes auch die Unterstützung von Kooperationen im Bereich der beruflichen Bildung auf die Fahne geschrieben hat; zum anderen von der Arbeit unserer hiesigen deutsch-polnischen Arbeitsgruppe, die den Prozess der Herstellung der vollen Arbeitnehmerfreizügigkeit seit dem 1. Mai 2011 aktiv begleitet und bis Ende 2011 einen Bericht mit Handlungsempfehlungen für die Grenzregion Brandenburg-Lubuskie vorlegen soll.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die heutige Beschlussfassung ist eng mit dem verbunden, was wir in der vorletzten Landtagssitzung in dem Beschluss „Deutsch-polnische Zusammenarbeit vertiefen“ festgehalten haben. Gemeinsam mit den Partnern in den westpolnischen Woiwodschaften wollen wir uns - das hat

die Koalition 2009 vereinbart - mittelfristig über die Entwicklungslinien für eine gemeinsame Region an Oder und Neiße verständigen.

Zentral für uns sind dabei vor allem die weitere Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur und des grenzüberschreitenden Tourismus, die gemeinsame Erschließung der kulturellen und natürlichen Potenziale der Region sowie die Kooperation bei Bildung und Ausbildung. Einige Instrumente und Wege dahin sind in dem Beschluss vom 22. Juni 2011 genannt.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte abschließend bekräftigen, was im Antrag steht: Die Politiker in Brandenburg, Landtag wie Landesregierung, müssen sich dafür einsetzen, dass in Brandenburg eine Kultur des Willkommens etabliert und ausgebaut wird. Wenn die im Antrag skizzierten Aufgaben schrittweise umgesetzt werden, kommen wir dem ein Stück näher, was Brandenburger Politiker, Gewerkschafter, Unternehmensvertreter und Arbeitsmarktexperten in ihrer „Frankfurter Erklärung“ formuliert haben. Ich zitiere:

„Wie in anderen europäischen Grenzregionen sollen grenzüberschreitende Berufspendler, bilateriale Bildungs- und Qualifizierungsprojekte und der soziokulturelle Austausch aller Altersgruppen zur Normalität werden. Die zügige Schaffung eines gemeinsamen integrierten Arbeitsmarktes hat dabei für uns eine Schlüsselrolle.“

Lassen Sie uns also gemeinsam daran arbeiten! Die klugen Ideen vieler werden hier gebraucht; denn wir betreten in der Region in vielen Fragen Neuland.

Liebe Kollegen von der FDP, in diesem Sinne ist Ihr Entschließungsantrag nützlich. Er enthält wichtige Punkte, die aber auch in unserem Antrag aufgegriffen werden und auf anderer Strecke Beachtung finden, etwa wenn es um die Sprachausbildung geht, deren Bedeutung im Koalitionsvertrag betont wird.

Wir haben die angesprochene gemeinsame Arbeitsgruppe mit den Unterarbeitsgruppen „Statistik“ und „Fachkräfte“, die ihre Arbeit aufnehmen werden. Ich denke, dazu braucht es Ihres Entschließungsantrages nicht mehr. Wir werden zu einem guten Ergebnis kommen. Ich bitte Sie um Zustimmung zu unserem Antrag.

(Beifall DIE LINKE und des Abgeordneten Bischoff [SPD])

Vielen Dank, Herr Abgeordneter Dr. Bernig. - Wir setzen die Aussprache mit dem Beitrag der CDU-Fraktion fort. Frau Abgeordnete Schier erhält das Wort.

Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Der Landtag begrüßt die uneingeschränkte Freizügigkeit von Arbeitnehmerinnen und nehmern. Die Mitglieder des Landtages werden sich dafür einsetzen, dass in Brandenburg eine Kultur des Willkommens für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ausgebaut und etabliert wird? - Dazu kann ich nur sagen: Guten Morgen!

(Frau Lehmann [SPD]: Es ist aber abends!)

- Eben drum. - Im Dezember 2010 haben Sie eine Arbeitsgruppe gebildet; Herr Dr. Bernig hat es gerade gesagt: Sie wird uns im Dezember dieses Jahres berichten. Schön! Wir haben gleich September und seit 1. Mai die Freizügigkeit. Finden Sie nicht, dass das alles ein bisschen spät ist?

Auch Ihre Einschätzung zur Fachkräfteproblematik war doch allen von vornherein klar.

(Görke [DIE LINKE]: Wir wollen schon den Zwischen- bericht!)

Wir reißen Löcher in Polen und stopfen sie hier oder in anderen europäischen Ländern.

(Görke [DIE LINKE]: So etwas wollen wir nicht!)

Das kann doch nicht sein! Was wollen Sie jetzt eigentlich in der Grenzregion gestalten?

(Zurufe von der Fraktion DIE LINKE - Bischoff [SPD]: Führt doch den Mindestlohn ein, um das zu verhindern!)

Auf Brandenburg entfallen laut Bericht der Bundesagentur für Arbeit vom Juli 2011 lediglich 1 200 Beschäftigungszunahmen von April auf Mai. Es gab Ängste vor einer Schwemme zuströmender Arbeitnehmer. Diese ist jedoch ausgeblieben.

Sie schreiben in Ihrem Antrag von der „Schaffung von Rahmenbedingungen für eine mögliche gemeinsame Ausbildung von Jugendlichen“. Die Handwerkskammer hat ein Pilotprojekt in der Euroregion Spree-Neiße-Bober gestartet; dort werden bereits 20 Jugendliche ausgebildet.

Ich verstehe den Antrag nicht. Die Arbeitsgruppen sind etabliert. Wir halten diesen Antrag für entbehrlich und werden ihn ablehnen.

(Beifall CDU)

Vielen Dank, Frau Abgeordnete Schier. - Wir kommen zum Beitrag der SPD-Fraktion. Herr Abgeordneter Baer erhält das Wort.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Seit dem 1. Mai 2011 haben wir - nach einer langen Übergangszeit von sieben Jahren - die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit. Uns sind, das ist schon gesagt worden, ausländische Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer herzlich willkommen. Sie bereichern unsere Arbeitswelt, und das eben nicht nur wegen des sogenannten Fachkräftebedarfs; in dem Punkt hat Frau Schier Recht.

Insbesondere mit unseren polnischen Nachbarn haben wir eine gute Partnerschaft aufgebaut, die wir auch in Zukunft vertiefen werden. Die Frankfurter Wirtschaftskammern, der DGB, die Stadt Frankfurt (Oder), die Agenturen für Arbeit in der Region Frankfurt und Eberswalde machen dies mit ihrer Erklärung „Arbeitnehmerfreizügigkeit - Chancen für Ostbrandenburg“ deutlich. Mein Kollege Dr. Bernig hat darauf hingewiesen.

Wir brauchen eine grenzüberschreitende Wirtschaftskooperation entlang der Oder. Gerade die 2006 gegründete Oder-Partnerschaft übernimmt dabei eine sehr wichtige Rolle. Wir brauchen eine Kooperation im Bereich der Arbeitsmarktpolitik und der beruflichen Bildung mit den Selbstverwaltungsorganen in den westpolnischen Woiwodschaften, wenn wir mittelfristig einen gemeinsamen Arbeitsmarkt schaffen wollen. Denn wir brauchen Arbeitsplätze, die in der deutsch-polnischen Grenzregion auch eine Zukunft haben.

Um auf die Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt im Zusammenhang mit der Arbeitnehmerfreizügigkeit reagieren zu können, brauchen wir eine Bestandsaufnahme. Nur mit der Kenntnis über diesen Zustand können wir gegen Fehlentwicklungen bei den Arbeitsbedingungen, zum Beispiel die Zunahme prekärer Beschäftigung und Lohndumping angehen. Wir bitten daher in dem Antrag die zuständigen Ministerien, im März 2012 dazu Bericht zu erstatten.

Der Angst vor Lohndumping - zumindest in Unternehmen, die öffentliche Aufträge übernehmen - können wir mit dem heute beschlossenen Vergabegesetz begegnen. Die im Vergabegesetz festgeschriebene Lohnuntergrenze von 8 Euro ist dabei ein Anfang. Allerdings - ich werde nicht müde, dies immer wieder zu betonen - wäre das effektivste Mittel gegen Lohndumping und Billigkonkurrenz ein allgemeiner gesetzlicher Mindestlohn.

(Beifall SPD und DIE LINKE)

In dem vorliegenden Antrag fordern wir die Landesregierung auf, Rahmenbedingungen zu schaffen, die eine gemeinsame Ausbildung von brandenburgischen und polnischen Jugendlichen ermöglichen. Dies umfasst auch die Vermittlung von Sprachkenntnissen. Angebote zum Erlernen der Sprache des polnischen Nachbarn gibt es viele. Wir sollten gemeinsam mit Kammern und Wirtschaftsverbänden dafür werben, dass diese verstärkt genutzt werden.

Wir fordern die Landesregierung in dem Antrag auf zu prüfen, ob die Beratungsangebote für ausländische Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ausreichend sind. Denn nur, wer umfassend informiert ist und seine Rechte kennt, kann sich auch aktiv dafür stark machen. Wir werden unseren Teil dazu beitragen, Arbeitnehmerfreizügigkeit entsprechend zu gestalten. Doch einige Gestaltungsmöglichkeiten existieren leider nur auf Bundes- und auf europäischer Ebene. Wir ermuntern daher ausdrücklich die Landesregierung, sich stark zu machen für: die Anerkennung von im Ausland erworbenen Ausbildungsabschlüssen, gleiche Arbeitsbedingungen von Leiharbeitnehmerinnen und Leiharbeitnehmern und der Stammbelegschaft, den Abbau rechtlicher Barrieren im Bereich der Sozial- und Steuergesetzgebung und nicht zuletzt, wie betont, für einen allgemeinen branchenübergreifenden gesetzlichen Mindestlohn.

Arbeitnehmerfreizügigkeit ist keine Einbahnstraße, sondern eine Chance für alle Seiten. Wir sollten sie gemeinsam gestalten. Deswegen bitte ich Sie um Zustimmung zu dem vorliegenden Antrag. - Vielen Dank.

(Beifall SPD und DIE LINKE)

Vielen Dank, Herr Abgeordneter Baer. - Herr Abgeordneter Büttner wird für die FDP-Fraktion nunmehr die Aussprache fortsetzen.

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Dr. Bernig, richtig: Ich habe mich gewundert. Ich habe mich gewundert, dass wir zum vierten Mal in dieser Legislaturperiode in diesem Landtag über die Arbeitnehmerfreizügigkeit sprechen. Ich bin natürlich davon ausgegangen - und so haben Sie es auch in Ihren Reden, die Sie zu diesem Thema bereits vorher gehalten haben, immer gesagt -, dass Sie die Landesregierung aufgefordert haben und dass Sie ein Konzept haben bzw. entwickeln. Allein, jetzt fordern Sie erneut die Landesregierung auf, etwas zu tun.

Ich glaube, dass Sie einfach die Zeit verpasst haben. Sie sprechen davon, dass Sie jetzt Tempo hineinbringen müssen. - Ja, das Tempo müssen Sie auf jeden Fall hineinbringen. Nur, wir haben Ihnen das schon zum Anfang dieses Jahres gesagt, bevor die Arbeitnehmerfreizügigkeit eingesetzt hatte. Sie sind einfach ein Stück weit zu spät. Gut, wenn dann trotzdem irgendetwas kommt. Aber es ist schlichtweg zu spät.

Vielleicht sollten wir uns noch einmal vor Augen führen, was es eigentlich bedeutet, dass die Arbeitnehmerfreizügigkeit eingeführt wurde. Das bedeutet, dass sich Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer um tatsächlich angebotene Stellen bewerben dürfen. Das bedeutet, dass sie sich zu diesem Zweck im Hoheitsgebiet eines Mitgliedsstaates aufhalten und frei bewegen dürfen. Das bedeutet, dass die für Arbeitnehmer dieses Staates geltenden Rechts- und Verwaltungsvorschriften für sie gelten und dass sie nach Beendigung einer Beschäftigung auch im Land bleiben können.

Was also wollen wir eigentlich entwickeln? Wir wollen eine gemeinsame Arbeitsmarktregion entwickeln, die - Sie haben es gesagt - unterschiedliche kulturelle Hintergründe und unterschiedliche Sprachen hat. Die wollen wir zusammenführen. Wenn Sie sagen, der Entschließungsantrag der FDP-Fraktion sei in Ihrem Antrag enthalten, gebe ich Ihnen sogar ein Stück weit Recht.

(Dr. Bernig [DIE LINKE]: In einigen Zügen!)

Ich gebe Ihnen wenigstens ein Stück weit recht, weil der Antrag, den Sie vorgelegt haben, leider so global und so weit gefasst ist, dass man das alles darunter subsumieren kann, und die Schritte, die Sie einleiten wollen, aus unserer Sicht, einfach nicht präzise genug sind.

Wir werden in der Region Berlin-Brandenburg nach der gemeinsamen Fachkräftestudie bis zum Jahr 2030 insgesamt 460 000 Arbeitskräfte brauchen.

Das betrifft alle Felder; darüber haben wir schon gesprochen auch hier. Und wir haben es trotz achtjähriger Vorlaufzeit, die wir hatten, verschlafen, die richtigen Weichen für einen gemeinsamen deutsch-polnischen Arbeitsmarkt zu stellen. In beiden Bundesländern gibt es weder eine mit der polnischen Seite abgestimmte Arbeitsmarktstatistik, noch wurde Wert darauf gelegt, Polnisch in der Aus- und Weiterbildung, insbesondere in den Brandenburger Grenzregionen, zu stärken.

Wir glauben, dass der Antrag der beiden Regierungsfraktionen den Ehrgeiz, der notwendig wäre, um aus der Arbeitnehmerfreizügigkeit in der Grenzregion wirklich eine Erfolgsgeschichte zu machen, vermissen lässt. Für uns Liberale reicht

es nicht aus, der Regierung letztendlich ein „Weiter so!“ zuzurufen und auf Besserung zu hoffen. Wer so denkt und handelt, der verkennt die Realitäten und räumt keine einzige Barriere aus dem Weg. Vielmehr verzögert er den längst überfälligen Integrationsprozess auf dem Arbeitsmarkt.

Wir haben ein klares Konzept, wie Sie die weitere Entwicklung der Arbeitnehmerfreizügigkeit in Brandenburg aktiv gestalten und zu einem Gewinn für erwerbsfähige Brandenburger und erwerbsfähige polnische Bürger machen möchten. Unser Konzept beinhaltet drei Entwicklungsstränge, welche parallel gefördert werden müssen. Wir benötigen - erstens - auf Grundlage bestehender Daten der Arbeitsagenturen und Statistikämter des Landes und der polnischen Woiwodschaften eine gemeinsame grenzübergreifende Arbeitsmarktstatistik, welche die Entwicklung und Defizite auf den nationalen Arbeitsmärkten auflistet. Eine solche Statistik ist notwendig, um die schrittweise Harmonisierung der gegenwärtig getrennten Arbeitsmärkte anhand valider Daten auch begleiten und gegebenenfalls Korrekturen in den Arbeitsmarktpolitiken vornehmen zu können.