Protokoll der Sitzung vom 23.03.2000

lösen. Im Gegenteil werden hier die Ursachen mit deren Verschärfung bekämpft. Statt Alternativen zu diskutieren, dekretieren Sie. Statt junge Lehrer an die Schulen zu bekommen, die hoch motiviert und belastbar sind, ordnen Sie für die älteren Mehrarbeit an. Nebenbei werden die noch durch Anrechnung der Mehrarbeit auf die Arbeitszeitkonten um das Rückgabeversprechen betrogen.

[Frau Richter-Kotowski (CDU): Das ist falsch!]

Philipp Holzmann lässt grüßen.

[Beifall bei der PDS]

Unter den vielen Protestbriefen, die sicher auch Sie in der vergangenen Zeit bekommen haben, habe ich mir erlaubt, aus einem ein Zitat aufzuschreiben:

Die Arbeitskraft der Lehrerinnen und Lehrer ist kostbar. Sie sind gleichzeitig Erzieher, Moderator, Seelsorger, Schauspieler, Sozialarbeiter, Psychologe, Verwaltungsbeamter, auch Richter und Reiseleiter. Stündlich müssen sie ihrem Publikum neben Fachwissen Aufmerksamkeit und Reaktionsschnelligkeit entgegenbringen. Wer mit dieser Arbeitskraft nicht sorgsam umgeht, zerstört sie. Können wir uns das leisten?

Die Arbeitszeit von Lehrern hat Besonderheiten durch die Zusammensetzung aus sehr unterschiedlichen Faktoren. Auch Herr Böger verwies darauf. Eine Diskussion und anschließende Erprobung neuer Arbeitszeitmodelle wäre für die Veränderung von Schule dringend erforderlich. Der Senator denkt nicht daran, einen solchen Diskurs mit Gewerkschaften, Verbänden und Eltern zu führen – zumindest bisher hat er es nicht getan, heute klang das anders – und so mit den Beteiligten zu Lösungen zu kommen. Er ordnet Arbeitszeitverlängerung an – basta. Reformen sind dadurch unmöglich gemacht, denn sie ermöglicht man mit ergebnisoffenem Dialog, nicht mit einer Ankündigung und Festlegung und dann erst hinterher Gesprächsbereitschaft. Was soll das? [Beifall bei der PDS]

Damit ich nicht falsch verstanden werde: In jedem Beruf gibt es sehr engagierte und weniger engagierte Kollegen. Es geht nicht zuerst um die Frage, ob Lehrerinnen und Lehrer eine Stunde mehr unterrichten können. Es geht um die Frage, welche Auswirkungen das im Zusammenhang mit den anderen schlechten Bedingungen auf Schülerinnen und Schüler hat. Um sie geht es. Sie brauchen die schon erwähnte Eintrittskarte in die Welt von morgen, und die Gesellschaft braucht Fachleute verschiedenster Richtungen, damit dem Offenbarungseid bei den Computerfachleuten nicht ganz schnell weitere folgen. Die Rufe danach sind ja schon zu hören. Oder findet diese große Koalition, dass es sowieso billiger ist, sich Fachleute als Gastarbeiter ins Land zu holen, statt In- wie Ausländern eine solide Ausbildung zu gewährleisten?

Nebenbei bemerkt: Die Steuerreform entlastet die großen Unternehmen in der Hoffnung, dass sie in Ausbildung und Qualifizierung investieren. Wenn sie das weiterhin so mangelhaft tun, mit Ergebnissen, wie wir sie jetzt gerade sehen und erleben, ist nicht zu verstehen, warum sie entlastet werden und warum dem Staat Mittel für Bildung und Ausbildung zunehmend entzogen werden. [Beifall bei der PDS]

Die 2. Leitidee, die Herr Böger aufgeschrieben hat, heißt Qualität. Die Forderung nach mehr und neuer Qualität kann ich nur unterstreichen. Allerdings muss zunächst der Unterricht stattfinden, bevor man sich mit seiner Qualität befassen kann.

Bisher sind über 8 % des Unterrichts ausgefallen. Viele Stunden wurden zwar dank des Engagements der Lehrerinnen und Lehrer vertreten, konnten aber oft nur als Beschäftigung mit mehr oder weniger Aufsicht stattfinden, weil ein Lehrer zwei Klassen – das sind immerhin 60 und mehr Schüler unter Umständen – zu verkraften hatte. Die Erhöhung der Lehrerausstattung auf 107 % und eigene Honorarmittel für Schulen sind zu begrüßen, aber sozusagen ein Pflaster auf die tiefe Wunde, die eigentlich genäht werden muss, damit sie heilen kann.

Das Defizit an Bildung und Erziehung, das durch Unterrichtsausfall und Lehrermangel entsteht, lässt sich nicht durch eine vermeintliche Wertevermittlung schließen, die Sie, Herr Böger, befürworten. In diesem Sinne verkündeten Sie, die Berliner Schüler brauchen einen Wahlpflichtbereich, der Religion zum ordentlichen Unterrichtsfach erhebt. Ich hörte aber auch, und, wie ich fand, sehr richtig, dass sie sagten, Schulen seien Stätten des Wissens. Das kann ich nur unterstreichen und möchte dem hinzufügen – mit Verlaub –: Kirchen sind Stätten des Glaubens. Ich finde schon, dass wir dieses auseinanderhalten sollten.

[Beifall bei der PDS]

Erstens ist Werteerziehung, wenn ich diesen umstrittenen Begriff überhaupt einmal verwende, eine fächerübergreifende Aufgabe der ganzen Schule. Die Rahmenpläne vieler Fächer, insbesondere das Vorwort zu den Rahmenplänen, formulieren diesen Auftrag und seine Inhalte hinreichend. Wissen über die großen Weltreligionen kann in Fächern wie Deutsch, Geschichte, Sach- oder Sozialkunde vermittelt werden. Toleranz kann man kaum besser als beispielsweise mit Lessings Ringparabel lernen. Erfahren und üben können Schülerinnen und Schüler Toleranz vor allem in einer Schule mit niedrigen Klassenfrequenzen, mit Lehrern, die Zeit und Geduld für sie aufbringen, mit einer Schulstation oder Sozialarbeitern, die im Konfliktfall helfen und mit interessanten Angeboten außerhalb des Unterrichts aufwarten. Auf diese Weise könnten Anti-Gewaltprogramme deutlich reduziert werden und das zu ihrer Finanzierung erforderliche Geld direkt sinnstiftend eingesetzt werden.

Zweitens gilt in Berlin bekanntlich die Bremer Klausel der Freiwilligkeit des Religionsunterrichts. Sie hat sich bewährt, gerade in dieser multikulturellen und multireligiösen Stadt. Zwei Drittel der Schüler haben sich nicht für Religionsunterricht entschieden.

[Molter (CDU): Kein Wunder nach 40 Jahren DDR!]

Es gehört zur Demokratie, diese Entscheidung zu respektieren. – In welche Schule sind Sie eigentlich gegangen?

[Doering (PDS): Baumschule!]

Die Koalitionsvereinbarung respektiert die Entscheidung. Herr Böger ließ die Tinte nicht richtig trocknen, nötigte der Stadt eine überflüssige Debatte über ein Wahlpflichtfach Religion und Ethik/Philosophie auf, erfreut assistiert von den Herren Huber, Thierse und Sterzinsky.

[Zuruf von Bm Böger]

Ich bin es gewohnt, Zensuren zu vergeben. Ich bin Lehrerin von Beruf, Herr Böger.

[Beifall bei der PDS – Bm Böger: Debatten sind notwendig!]

Ein solches Fach würde zudem die Trennung der Schüler nach Konfessionen und deren wechselseitigen Ausschluss vom Unterricht in Philosophie oder Ethik bedeuten. Toleranz und vielseitiges Wissen erwirbt man aber am besten miteinander. Nebenbei möchte ich anmerken, dass die Spendenaffäre der CDU nicht gerade eine Werbung für eine Werteerziehung durch Religionsunterricht ist. Die Beteiligten hatten mit Sicherheit welchen.

[Beifall bei der PDS]

Zum Wahlpflichtfach hat der Senator einen ergebnisoffenen Dialog zugesagt. Wir nehmen Sie beim Wort, Herr Senator. Bei der Gelegenheit können Sie auch erklären, woher die Millionen DM, die für den Religionsunterricht benötigt würden, kommen sollen.

Mit wem und unter welchen Voraussetzungen wollen Sie Ihre Leitideen von Chancengleichheit, Qualität und Selbstverantwortung verwirklichen? Sie sagen selbst, und darin sind wir auch einig, dass Schule gesicherte Rahmenbedingungen braucht. Genau diese – so finde ich – fehlen! Da Sie die Forderung der Aktion Bildung als Unterstützung für ihre Politik bezeichnet haben, rufe ich sie Ihnen und dem Haus in Erinnerung. „Einstellen von 1 200 Lehrkräften,“ habe ich auf den Flugblättern gelesen, „kleinere Klassen, Schulstationen und moderne Unterrichtsmethoden und -formen“. Mindestens 40 000 Eltern, Schüler und Lehrer gingen für diese Forderung am 11. März auf die Straße.

Weil Wiederholung die Mutter des Lernens ist, sage ich es noch einmal: Reformen ermöglicht man mit ergebnisoffenem Dialog und mit demokratischer Mitwirkung von Eltern, Lehrern und Schülern. Irgendwie scheint mir da ein nicht aufzuklärender Widerspruch zu bestehen, wenn Sie sagen, Herr Senator, Sie fühlen sich durch die Aktion Bildung bestärkt, die Eltern hingegen zwar von der Gesprächskultur sehr angetan waren, aber zu dem Entschluss kamen, dass die Aktion Bildung weitergehen muss. Nach dem, was ich hier heute gehört habe, scheint mir eine Fortführung der Aktion Bildung dringend notwendig zu sein. Ich finde Ihre Warnung an die Kollegen in den Schulen vor Aktionen wenig hilfreich. Wenn alle Protestaktionen, die es bisher in der Stadt gegeben hat, nicht dazu beigetragen haben, dass sich der in der Bildungspolitik abzeichnende Kurs deutlich verändern wird, wird es weiterer Proteste bedürfen. Ich bin sicher, dass Eltern, Schüler und Lehrer die richtigen Formen dafür finden werden. [Beifall bei der PDS]

Ich komme auf mein eingangs erwähntes Wort über Pisa zurück. Die Stadt unternimmt gegenwärtig alles, um ihr berühmtes Bauwerk zu bewahren, ohne seine Schieflage zu beseitigen. Für das berühmte Wahrzeichen von Pisa ist dies sicherlich eine vernünftige Lösung. Für das Berliner Schulsystem ist sie ungeeignet. [Beifall bei der PDS]

Da wir den Tagesordnungspunkt mit der Schulgesetzänderung und dem dringlichen Antrag verbunden haben, möchte ich dazu noch zwei Bemerkungen in aller Kürze machen. Für die Schulgesetzänderung unterstützen wir den Antrag der Grünen auf eine Rücküberweisung in den Schulausschuss. Wir haben dort unsere massive Kritik bereits vorgetragen, das Grundschulgutachten nun als Kriterium für die Zuweisung an eine Oberschule zu berücksichtigen. Dem, was im Schulausschuss gesagt wurde, ist aus heutiger Sicht hinzuzufügen, dass ein erstes Rechtsgutachten eher darauf hinweist, dass die Verwaltungsbürokratie noch gestärkt würde, statt sie abzubauen. Wir halten es nach wie vor für unverantwortlich, Elternwillen auf diese Weise auszuhebeln. Sollte es zu keiner Rücküberweisung kommen, werden wir gegen diese Änderung stimmen.

Für den dringlichen Antrag der Grünen wünschen wir uns eine gründliche Diskussion im Schulausschuss. Dort finden wir interessante Vorschläge, haben aber auch manches kritisch zu bedenken und würden dort gern zu gemeinsamen Lösungen kommen. – Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!

[Beifall bei der PDS – Vereinzelter Beifall bei den Grünen]

Bevor ich das Wort Frau Eveline Neumann geben, möchte ich der Fraktion der PDS den Hinweis geben, dass es nicht eine Verbindung des Gesetzes mit der Aktuellen Stunde gibt. Vielmehr wird die Große Anfrage mit dem dringlichen Antrag verbunden. Über das Gesetz wird nachher unter Tagesordnungspunkt 1 B separat abgestimmt. Dann erübrigt sich aber nachher vielleicht der Redebeitrag.

[Doering (PDS): Genau darum ging es!]

Jetzt hat Frau Neumann das Wort. Bitte sehr!

Vielen Dank, Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte vorab zwei Anmerkungen vortragen. Frau Jantzen, Sie haben PISA erwähnt und gesagt, dass PISA die Bildungslandschaft nicht verbessern wird. Natürlich geht das nicht, Frau Schaub hat schon erklärt, wozu solche Untersuchungen nötig sind. Die Feststellung, was verbessert werden muss, werden wir im Anschluss treffen. Sie, Herr Mutlu, verweisen auf ein Bildungsgutachten, das nicht alle hier kennen. Ich vermute, es ist das von Rechtsanwalt und Notar Brückner und endet mit dem Satz: „Ob damit den bildungspolitischen Zielen gedient ist, erscheint zweifelhaft.“ Daraus kann man schließen, dass auch Rechtsgutachten von Rechtsanwälten nicht reine Rechtsgutachten sind, sondern auch interessengeleitet. Ansonsten begrüße ich ausdrücklich, dass wir alle, die Regierungsfraktionen und die Opposition, dem Thema Bildung

heute diesen Schwerpunkt einräumen. Ich bedanke mich ausdrücklich bei der Opposition, dass Sie hier mit dazu angeregt haben. Das Parlament ist ja dazu da.

[Zuruf des Abg. Mutlu (Grüne)]

Ja, nein, wir sind ganz fair, Herr Mutlu! Ich hoffe, Sie sind es auch. – [Frau Martins (Grüne): Oh!]

Wir beschäftigen uns hier mit denselben Themen, die die Menschen da draußen beschäftigen. Senator Böger hat bereits darauf hingewiesen, auch Demonstrationen zeigen deutlich das Interesse der Menschen am Thema Bildung. Wir können das nur begrüßen. Es ist auch eine Form des Dialogs, dass Menschen sagen, wo Schluss ist und was sie noch weiterhin wünschen, wobei sich bereits zeigte, bei den Demonstranten sind sich nicht alle einig. Den Streik will die Hälfte der Demonstranten nicht.

Darüber hinaus erfahren wir auch über die Medien, was Menschen wollen. Das heutige Thema im „Tagesspiegel“ auf der Berlinseite ist einzig und allein der Schule gewidmet. Überschrift: „Schöner Lernen: Tapetenwechsel in vielen Schulen“ – Das bezieht sich auf die 100 Millionen DM, die zu 183 Schul- und Sportanlagenverbesserungen und -baumaßnahmen führen sollen. Das ist zu begrüßen. Das wollen wir. Ich bitte hiermit alle Haushälter: Bitte, nehmen Sie diesen Teil von der vorläufigen Haushaltsführung aus, damit die Bezirke sofort prüfen können und entsprechend handeln werden!

[Beifall bei der SPD – Zuruf des Abg. Brauer (PDS)]

Aber wir wollen mehr. Das gesellschaftliche Leben ist differenzierter geworden. Herr Schlede hat das bereits angedeutet. Die Differenzierung betrifft Technik, Konsum, Familienformen, Religionsformen – das Verwaltungsgerichtsurteil verweist uns u. a. darauf –, das Rechtssystem, die Medien, den Arbeitsmarkt. Und das erfordert die neuen Reaktionen der Politik insgesamt, insbesondere der Bildungspolitik. Menschen müssen aus einer Vielzahl von Möglichkeiten eine begründete Auswahl treffen. Diejenigen unter uns, die aus dem ehemaligen Ostteil der Stadt kommen, können sich vielleicht noch erinnern, dass das ganz schön stressig sein kann, auf einmal aus einem Riesenangebot eine Auswahl treffen zu müssen. Wir anderen leiden auch unter diesem Stress, wissen aber manchmal nicht mehr so genau, warum das eigentlich so ist. Dafür müssen alle Menschen Kriterien entwickeln. Sie müssen die Fähigkeiten erwerben, für die Erreichung dieser Ziele, ihrer eigenen Ziele, zu arbeiten. Und dieses hat Schule bereitzustellen. Deswegen muss Schule sich ändern. Angesichts der Massenarbeitslosigkeit im europäischen Raum greifen traditionelle Karrieremuster schon jetzt für die Erwachsenen nicht mehr. Bildung aber soll die Chancen für die zukünftige Generation bereitstellen. Damit sind wir bei einem Thema der Agenda 2000. Es geht um Nachhaltigkeit als Gerechtigkeit zwischen den Generationen. Keine Generation darf auf Kosten der nachfolgenden leben.

[Beifall der Abgn. Nolte (SPD) und Frau Flesch (SPD)]

Deswegen ist Bildungspolitik nicht ohne Abbau des Schuldenberges zu diskutieren. Das ist Nachhaltigkeit.

[Beifall bei der SPD]

Hier endet leider die Übereinstimmung zwischen der SPD und Ihnen, liebe grüne und heute auch nicht mehr strickende Kollegen. Vielleicht werden da auch bei alternden Kollegen die Hände ein bisschen klammer und unbeweglicher.

[Müller-Schoenau (Grüne): Er ist Kaffee trinken!]