Diese Große Anfrage hatten wir zuletzt am 26. September 2002 vertagt. Einen Tag später war bereits die schriftliche Antwort der Justizverwaltung verteilt worden. Zur Begründung mit bis zu 5 Minuten pro Fraktion erhält für die SPD-Fraktion Frau Fischer das Wort. - Bitte sehr, Sie haben das Wort, Frau Fischer!
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Gewalt im häuslichen Bereich - ein Thema, das den Ort betrifft, von dem man gemeinhin annimmt, er sei für alle der sicherste Ort. Es geht um Gewalt zu Hause, in der eigenen Wohnung. Es geht auch um Gewalt ausgeübt durch den Ehepartner, den Lebensgefährten, den Vater oder andere Personen, die zu den Opfern in einer engen Beziehung stehen. Für die Opfer häuslicher Gewalt war die Bitte um Hilfe durch Polizei und Justiz meist mit dem Zwang verbunden, die eigene Wohnung und damit die vertraute Lebensumgebung zu verlassen, also eine zusätzliche Belastung.
Mit der Einrichtung des Berliner Interventionsprojekts gegen häusliche Gewalt - BIG - im Jahre 1995 als ein gemeinsam vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und der Senatsverwaltung für Arbeit und Frauen unter der Leitung der damaligen Senatorin Christine Bergmann gefördertes Modellprojekt wurde die umfassendste Umsetzung eines neuartigen Konzepts in der Antigewaltarbeit eingeleitet, das nunmehr in dem seit dem 1. Januar 2002 in Kraft getretenen Gewaltschutzgesetz seine Anwendung findet. Nun gilt: Das Opfer bleibt, der Täter geht.
Dieser Schutz muss jedoch vor dem Zivilgericht durchgesetzt werden und ist lückenhaft, wenn nicht die Polizei, die als erste an den Ort des Geschehens gerufen wird, vorläufige Maßnahmen bis zur Entscheidung des Gerichts treffen kann. Daher hat es in Berlin ein Pilotprojekt der Polizei in der Direktion 7 gegeben, den Täter aus der Wohnung wegzuweisen und ihm das Betreten der Wohnung zu verbieten. Das alles soll nun auch gesetzlich im Berliner Allgemeinen
Es ist noch nicht lange her, da wurden Ehe und Familie in der Gesellschaft als ein Bereich angesehen, in den der Staat sich nicht einzumischen hat. Erst seit 1997 ist die Vergewaltigung in der Ehe strafbar, und dazu bedurfte es einer erheblichen Kraftanstrengung im Deutschen Bundestag, dies im Wege eines Gruppenantrags durchzusetzen. Häusliche Gewalt, das heißt Körperverletzung, Nötigung, Beleidigung, alles das war schon immer strafbar. Dennoch gab es eine Kultur des Wegsehens, der Nichteinmischung in vermeintlich private Angelegenheiten. Mit dieser althergebrachten Tradition machen wir Schluss. Das Signal an die Gesellschaft ist: Häusliche Gewalt ist nicht Privatsache. Dazu müssen wir viel mehr ändern als nur Gesetze.
Die Sensibilität von Polizei und Justiz für diese Bereiche muss geschärft werden. Das Zusammenspiel zwischen beiden muss eingeübt werden. Das geht nicht von heute auf morgen. Um den Schutz der Opfer zu verbessern, um besser auf Täter einwirken zu können, brauchen wir Informationen. Polizei und Justiz müssen im Zusammenwirken mit sozialen Einrichtungen optimal reagieren können. Dem dient diese Große Anfrage. Sie stimmen mit mir sicher überein, dass es nicht das letzte Mal sein wird, dass wir uns mit dieser Frage befassen werden. - Vielen Dank!
Vielen Dank, Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wie Frau Fischer eben schon gesagt hat: Die Ausübung von Gewalt gegen Frauen stellt leider immer noch ein großes und allgegenwärtiges Problem dar, und das auch in Berlin, obwohl die Lage der Frauen in Berlin durch das konsequente Vorgehen in den letzten Jahren bereits erheblich verbessert werden konnte.
Zum Ausmaß der häuslichen Gewalt liegen dem Senat folgende Erkenntnisse vor: Jährlich suchen etwa 2 000 Frauen und ebenso viele Kinder Schutz, Hilfe und Unterkunft in den bestehenden 6 Frauenhäusern und 43 Zufluchtswohnungen. Ca. 40 bis 50 % dieser Hilfesuchenden in den Frauenhäusern sind Migrantinnen. Bei der Polizei wurden im vergangenen Jahr 5 375 Fälle von häuslicher Gewalt erfasst. Die Zahl hat sich in diesem Jahr erheblich erhöht. Bis zum 6. Dezember 2002 waren es bereits 7 343 Fälle.
Diese Zahlen zeigen, dass die verstärkte gesellschaftliche Ächtung von Gewalt und der bessere Schutz für Frauen nunmehr endlich greifen. Die Frauen erstatten jetzt Anzeige, weil sie sich die berechtigte Hoffnung machen können, dass sie die nötige Hilfe erhalten. Es wurde ein gesellschaftliches Klima geschaffen, das Frauen diese Anzeige erleichtert. Eine seriöse Schätzung der Dunkelziffer ist allerdings mangels projektbegleitender Dunkelfeldforschung zurzeit noch nicht möglich. Man geht aber von bis zu 90 % Dunkelfällen aus. Dieser Frage und auch inwieweit Migrantinnen und behinderte Frauen besonders von Gewalt betroffen sind, wird innerhalb des nächsten halben Jahres im Rahmen einer von der Fachhochschule für Verwaltung und Rechtspflege durchgeführten Untersuchung nachgegangen.
Dem Berliner Interventionsprojekt gegen häusliche Gewalt kommt bei der Prävention und Bekämpfung von häuslicher Gewalt eine entscheidende Rolle zu. Das Projekt ist bundesweit wegweisend und hat zu einer Effektivierung der Kooperation aller im Bereich häuslicher Gewalt tätigen Institutionen und Projekte, der Verbesserung der strafrechtlichen Verfolgung der Täter, der Schaffung angemessener rechtlicher Rahmenbedingungen, der Etablierung von Fortbildungen sowie der Umsetzung gezielter Interventionsmaßnahmen beigetragen. Das Projekt wurde im letzten Jahr erfolgreich abgeschlossen, und seit Januar 2002 wird es im Rahmen einer Interventionszentrale fortgeführt.
Die von BIG betriebene Hotline, ein zentrales telefonisches Beratungsangebot, trägt ebenfalls erheblich zum Schutz betroffener Frauen bei. Sie registrierte bereits im Jahr 2001 4 300 Anrufe, mithin etwa 11 Anrufe am Tag. Die Tendenz ist steigend. Berlin ist mit diesen Maßnahmen und mit dem von BIG entwickelten Koordinatorinnennetz wegweisend für alle anderen Bundesländer.
Durch das neue Gewaltschutzgesetz und den polizeilichen Platzverweis werden auch die von häuslicher Gewalt massiv mitbetroffenen Kinder geschützt. Sie können nunmehr in ihrem sozialen Umfeld bleiben, was insbesondere für Kinder, auf die Gewaltsituationen traumatische Auswirkungen haben, eine erhebliche Verbesserung darstellt.
Kindern steht allerdings nach diesem Gewaltschutzgesetz noch immer kein eigenes Antragsrecht auf eine Schutzanordnung zu. Wir
Das Gewaltschutzgesetz hat die Erwartung, es werde den Opferschutz nachhaltig verbessern, bereits jetzt vollauf gerechtfertigt. Das Gesetz erweist sich insbesondere für die Polizeibeamten vor Ort als äußerst hilfreich.
Mit dem Pilotprojekt der Wegweisung wurden nach anfänglichen Schwierigkeiten gute Erfahrungen gesammelt. Vom 7. Januar bis zum 7. Juli dieses Jahres wurden stadtweit 275 Platzverweise ausgesprochen. Lediglich in 7 Fällen wurde Widerspruch eingelegt. Die Funktion des Platzverweises, der betroffenen Frau Zeit zum Nachdenken über weitere Maßnahmen in einem geschützten Raum zu verschaffen, wurde erfüllt. So entschlossen sich im Bereich der Direktion 7, wo 75 Platzverweise ausgesprochen wurden, über die Hälfte, nämlich 43 der Frauen, zur Trennung. So Verstöße gegen die Platzverweise bekannt werden, wird sofort eingeschritten, gegebenenfalls wird der Platzverweis mittels polizeilicher Gewahrsamsnahme durchgesetzt. Schwierigkeiten bei der Unterbringung der weggewiesenen Täter haben sich dabei nicht ergeben.
Die Opfer häuslicher Gewalt werden von der Polizei ausführlich am Tatort informiert. In den vergangenen Jahren wurden von BIG Broschüren und Unterlagen dafür entwickelt. Die Polizisten wurden umfangreich aus- und fortgebildet.
Zu den Fragen der Aufgabenfelder der Justiz bei der Verfolgung häuslicher Gewalt möchte ich wie folgt antworten:
Trotz der starken Belastung der Zivil- und Familiengerichte ist eine schnelle und sachgerechte Entscheidung über die Anträge von Gewaltopfern durch die Zivilgerichte gewährleistet. Die Anträge können bei den Rechtsantragstellen gestellt werden, die Hilfestellung in Bezug auf eine sachgerechte Antragstellung geben. Selbst bei starkem Publikumsandrang bestehen hier Wartezeiten von maximal 2 Stunden. Für die sich unmittelbar darauf anschließende Entscheidung über die Schutzanordnung steht sofort ein Richter bereit, der die Entscheidung noch am selben Tag erlässt. Ob der Richter eine Anhörung durchführt, hängt natürlich von den Besonderheiten des jeweiligen Einzelfalles ab.
Unmittelbar nach Inkrafttreten des Gewaltschutzgesetzes war Kritik aufgekommen, dass sich bei der Umsetzung des Gewaltschutzgesetzes Schwierigkeiten auch in den Amtsgerichten gezeigt haben. Deshalb hat die Senatsverwaltung für Justiz unmittelbar danach eine Informationsveranstaltung für Richterinnen und Richter konzipiert und im Frühjahr dieses Jahres auch durchgeführt, um die erforderliche Fortbildung zu gewährleisten. Nach den jetzt vorliegenden Berichten der Gerichte ist davon auszugehen, dass die genannten Schwierigkeiten nicht mehr bestehen. Wir werden die Umsetzung des Gewaltschutzgesetzes weiterhin begleiten. Insbesondere wird kritisch geprüft werden, ob eine Konzentration der Verfahren nach dem Gewaltschutzgesetz auf ein bestimmtes Amtsgericht sinnvoll wäre.
Nach den uns vorliegenden Stellungnahmen aus den Amtsgerichten reicht die im zukünftigen ASOG vorgesehene 14-tägige Wegweisungsfrist aus. Diese Frist genügt, um beim Amtsgericht eine vorläufige Entscheidung zu erwirken, die in den meisten Fällen am Tag der Antragstellung ergehen wird und deren sofortige Vollstreckung gewährleistet ist. Auch das war ja eine Frage der Kritik.
Auch bei einer Anhörung ist eine kurzfristige Anberaumung eines Termines und die entsprechende Ladung möglich.
Im Bereich des Strafrechts sind im Jahr 2001 in 1 773 Fällen rechtskräftige Verurteilungen ergangen. Diese Zahl hat sich 2002 bereits maßgeblich erhöht. Bereits im ersten Halbjahr lagen 1 117 Verurteilungen vor. Parallel stiegen die Eingangszahlen in Fällen häuslicher Gewalt sowohl bei den Staatsanwaltschaften als auch bei den Amtsanwaltschaften um jeweils ein Drittel. Auch diese Zahlen zeigen, dass eine erhöhte Anzeigebereitschaft besteht, die auf die verbesserte Rechtsposition und den besseren Schutz der Opfer zurückzuführen sein dürfte.
Durch die Neufassung der Anordnung über Organisation und Dienstbetrieb der Staatsanwaltschaft und der Amtsanwaltschaft, die wir am 1. August 2002 in Kraft treten lassen haben, wird gewährleistet, dass die Amtsanwaltschaft nicht nur die große Mehrzahl aller Verfahren häuslicher Gewalt, sondern auch die Straftaten nach dem Gewaltschutzgesetz verfolgt. Diese Konzentration der Strafverfolgung gewährt unseres Erachtens die größtmögliche Effektivität.
Gewaltschutzgesetz. Die vorgesehene spezielle Norm des § 29 a ASOG lässt hinsichtlich der Befugnis, einen gewalttätigen Lebenspartner aus der Wohnung zu verweisen, keinen Zweifel darüber, dass Gewalt im häuslichen Bereich keine Privatsache mehr ist und vom Staat nicht mehr toleriert wird.
Zu den Fragen der Interventionsmöglichkeiten, der Angebote und der Öffentlichkeitsarbeit möchte ich wie folgt antworten:
In Berlin besteht ein breites Netz von Hilfsangeboten für Frauen und Kinder, die von häuslicher Gewalt betroffen sind. Als zentrale Anlaufstelle steht - wie bereits ausgeführt - die Hotline von BIG. Die Hotline bietet ein umfassendes Unterstützungsangebot für alle Frauen und Kinder, und sie wird auch entsprechend in Anspruch genommen.
Die begonnenen Maßnahmen müssen nun fortgeführt und dauerhaft etabliert werden. Der Prozess der Umsetzung muss weiterhin begleitet werden. Sofern sich Schwierigkeiten ergeben sollten, sind diese durch geplante Monitoring- und Clearing-Maßnahmen auszuräumen. Die Hilfsangebote sind weiterzuentwickeln. Insoweit gilt der Berliner Aktionsplan zur Bekämpfung von häuslicher Gewalt für den Zeitraum von 2002 bis 2006.
Ich habe schon einmal versucht, im Zusammenhang mit dem zivilrechtlichen Gewaltschutzgesetz eigenständige Rechte für Kinder, Antragsrechte für Kinder einzuführen. Das ist mir beim ersten Anlauf nicht gelungen. Wir haben jetzt eine neue Zusammensetzung auch im Bundesrat; ich denke, man sollte es noch einmal versuchen, und bitte dabei um Ihre Unterstützung. - Danke schön!
Danke schön, Frau Senatorin! - Für die Fraktion der SPD hat nunmehr Frau Abgeordnete Neumann das Wort. - Bitte!
Danke! - Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Antwort des Senats auf unsere Große Anfrage gibt einen umfassenden Überblick über die jetzige Situation, vor allem über die erzielten Erfolge beim Zurückdrängen häuslicher Gewalt, Erfolge, die zu einem großen Teil der Arbeit der rot-grünen
Koalition auf Bundesebene zu danken sind, aber an denen auch wir in Berlin unseren erheblichen Anteil haben.
Lassen Sie mich an dieser Stelle den früheren Senatorinnen Gabriele Schöttler und Christine Bergmann Dank sagen, Christine Bergmann besonders auch für ihre hervorragende Arbeit als Bundesfrauenministerin.
Die Antwort des Senats zeigt neben den Erfolgen auch, welche Probleme und Aufgaben noch vor uns liegen. Sie muss Anlass sein, uns fraktionsübergreifend zu verständigen über den gegenwärtigen Stand und über die fortbestehenden Aufgaben bei der Bekämpfung von häuslicher Gewalt. Insgesamt stelle ich fest, die Antwort des Senats markiert einen Meilenstein auf dem Weg zur Überwindung häuslicher Gewalt in unserer Gesellschaft. Dafür möchte ich mich im Namen meiner Fraktion herzlich bedanken beim Senat, bei der Fachverwaltung und vor allem bei Frau Senatorin Schubert.
Häusliche Gewalt, vor allem von Männern gegen Frauen, aber auch gegen Kinder, ist schon zahlenmäßig ein gravierendes gesellschaftliches Problem. Das zeigen die zunehmenden Strafanzeigen, die Ermittlungs- und Strafverfahren. Dennoch stellen sie nur einen kleinen Ausschnitt dar. Noch immer ist die Anzahl der Taten, die im Dunkeln bleiben, um ein Vielfaches höher. Die in der Antwort erwähnte wissenschaftliche Untersuchung aus dem Jahre 1995 hat eine Anzeigebereitschaft von nur 4,8 % ergeben.
Nur jede 20. Gewalttat wurde aktenkundig. Nun ist die Anzeigebereitschaft in Berlin sicherlich größer als im christdemokratisch regierten BadenWürttemberg und aufgrund unserer offensiven Politik auch noch deutlich gewachsen. Dennoch brauchen auch wir zusätzliche Ergebnisse wissenschaftlicher Begleitforschung, um das ganze Ausmaß dieser gesellschaftlichen Schattenseiten ermessen zu können.
In Berlin haben wir früher als anderswo begonnen, das Tabu um die häusliche Gewalt zu brechen. Anfang der 70er Jahre entriss die Frauenbewegung der Gewalt im gesellschaftlichen Nahbereich den Schleier des angeblich Privaten.
Bereits 1976 wurde in Berlin das erste Frauenhaus gegründet; weitere folgten in den nächsten Jahren. Die politische Unterstützung und Förderung ihrer Arbeit wurde durchgesetzt und ausgebaut. Lange Zeit standen Beratung und Hilfe für die Opfer im Zentrum. Seit 1993, seit der Fachtagung "Sag mir, wo die Männer sind", können wir aber einen Paradigmenwechsel verzeichnen. Zunehmend geht es um wirksame Sanktionen gegen häusliche Gewalt und um gesellschaftliche Prävention. Dreh- und Angelpunkt, das wurde schon gesagt, wurde die Arbeit des 1995 gegründeten Interventionsprojekts gegen häusliche Gewalt, das BIG. In ihm arbeiteten zuletzt 150 Beteiligte aus staatlichen Institutionen und gesellschaftlichen Projekten zusammen.