Protokoll der Sitzung vom 28.11.2002

[Ritzmann (FDP): Wir sind hier nicht der Reichstag?!]

Ansonsten hätte ich von Ihnen auch gern ein paar Sätze zu der Frage gehört, wie sie es denn mit den MaastrichtKriterien halten. Ich habe sie nicht geboren, aber zu Ihren Träumen, was die Steuern angeht, müssten Sie auch endlich einmal der Wahrheit gerecht werden und zu den 3 % des Maastricht-Vertrags ein paar Worte verlieren. Wie hätten Sie es denn gern: 4 %, 5 %, 10 %? Wie hätten Sie es denn gern?

[Zuruf: 18 %! – Heiterkeit]

18 %! Genau, das ist doch einmal eine gute Marke.

Frau Abgeordnete! Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Lindner? Sie haben ihn selbst angesprochen.

Bitte schön!

Können Sie mir eine Gebietskörperschaft, sei es eine Kommune, ein Land oder ein größerer Städteverbund, nennen, in dem es durch Steuererhöhungen zu Mehreinnahmen des Staates gekommen ist? Eine einzige!

[Pewestorff (PDS): Deutschland!]

Tut mir leid, ich habe meine Statistik gerade nicht dabei, aber ich kenne einige, wo genau das Gegenteil der Fall gewesen ist. Genau das ist ja derzeit auch das, was wir erleiden müssen: Die rot-grüne Bundesregierung hat eine Steuerreform gemacht, hat an die Bevölkerung Geld zurück gegeben und muss derzeit mit den Löchern leben, die existieren. Das ist die Realität, mit der wir heute zu kämpfen haben.

Der Anlass dieser Aktuellen Stunde war die Meldung von Sony am Wochenende. Es ist zwar schön, dass wir heute darüber reden, aber nichtsdestotrotz wollte ich vorweg sagen: Die Zukunft des Wirtschaftsstandorts Berlin steht und fällt wirklich nicht mit einem internationalen Luftdrehkreuz Schönefeld. Schön wäre es, wenn das tatsächlich unser einziges Problem wäre.

Richtig ist, dass es seit inzwischen mehr als 10 Jahren das Projekt Single-Airport Schönefeld gibt, und richtig ist, dass wir bisher praktisch keinen Zentimeter vorwärts gekommen sind. Denn was ist der heutige Stand? – Erstens: Es gibt einen so genannten letter of intent. Es gibt keinen Vertrag zwischen dem Senat und dem Konsortium. Das einzige, was es bisher gibt, ist ein letter of intent.

Zweitens: Ein Planfeststellungsverfahren, das so schlecht vorbereitet wurde, dass es mit Sicherheit vor dem Bundesverwaltungsgericht landen wird, und es ist heute noch völlig offen, wie das Gericht, und zwar erst 2005, schließlich entscheiden wird.

Drittens haben wir derzeit einen PDS-Wirtschaftssenator und einen rot-roten Senat, der diese Erblast der großen Koalition verwaltet. Er verwaltet sie, er gestaltet sie nicht. Diese Unsicherheit in den Rahmenbedingungen ist es, die die Unternehmen verärgert. Es begeistert auch nicht, wenn der gesamte Senat zwar hinterher einen Brief schreibt, aber am Wochenende zu keiner Stellungnahme zu erreichen ist. Ich finde, das kann nicht sei. Das darf nicht sein. Herr Senator Wolf, das müssen Sie ändern.

Es ist klar, dass Sony lieber Direktflüge hätte als keine, aber auch hier gehört die Kirche zurück ins Dorf.

[Beifall bei den Grünen]

Schauen Sie, von der CDU und der FDP, nach Düsseldorf. Dies hat Herr Lindner heute auch schon getan. Wenn er da genauer hingeschaut hätte, hätte er festgestellt, dass Düsseldorf bei japanischen Unternehmen und Investoren sehr beliebt ist. Sie sind gern und präsent in Düsseldorf und auch in Hamburg. Fakt ist aber auch, dass es bisher keinen einzigen Direktflug von Düsseldorf nach Tokio oder von Hamburg nach Tokio gibt. Es gibt keine Direktflüge, und deshalb kann es auch nicht die Grundvoraussetzung für eine Entwicklung in Berlin sein.

[Beifall bei den Grünen]

Richtig ist, das habe ich auch schon gesagt, auch an dem Beispiel Schönefeld: Berlin und die Investoren sowie die Unternehmen und die Wirtschaft in Berlin brauchen verlässliche Rahmenbedingungen, die sind entscheidend. Dazu gehört in erster Linie ein Haushalt, der wieder in den Griff bekommen wird. Dazu gehört eine Anlaufstelle für Unternehmen in der Verwaltung, in der Wirtschaftsförderung, die auch entscheidet, und zwar zügig entscheidet. Dazu gehört natürlich auch ein gelingender Solidarpakt im öffentlichen Dienst. Dazu gehört aber insbesondere auch eine verbindliche und eine verankerte Strategie des Senats, Berlin tatsächlich zu einer Stadt des Wissens zu machen, mit Kompetenzfeldern – Biomedizin, Verkehr, Energie, Umwelt, Kommunikation, Film und Medien – und auch zu einer internationalen Stadt in Europa zu machen, d. h. zu einer Stadt des Tourismus, der Kultur, zu einer offenen Stadt, zu einer Stadt ohne Filz und politischen Mief zu entwickeln.

[Beifall bei den Grünen]

Das Enttäuschende und das Tragische ist, dass wir heute nicht zum ersten Mal darüber reden, sondern das tun wir seit Jahren. Immer wieder über die gleichen Dinge. Die Probleme sind seit Jahren bekannt. Wir wiederholen sie alle wie ein Mantra. Auch dieser Satz kam entweder von mir oder von anderen schon tausend Mal, und trotzdem geht es nach wie vor nur in Millimeterschritten voran. Über allem schwebt die Bank, schwebt das nächst drohende Haushaltsloch, ob aus der Steuerschätzung oder aus weiteren Beteiligungen, wie Herr Liebich eben schon erwähnt hat. Die Wirtschaft in dieser Stadt verliert zu Recht die Geduld mit diesem Senat, verliert zu Recht das Vertrauen, dass Sie in der Lage sind, dies Probleme der Stadt zu lösen und ihr eine Zukunft zu geben.

Nun noch einmal zum Haushalt: Herr Sarrazin! Es ist schön, dass ich heute in der „Berliner Zeitung“ lesen konnte, dass wir doch auch ein Einnahmeproblem in dieser Stadt haben, und nicht nur eine Ausgabeproblem.

[Henkel (CDU): Späte Erkenntnis!]

Genau! – dass auch Ihnen endlich aufgegangen ist, dass es besser ist, wenn es auch in Berlin eine Wirtschaft gibt, die in der Lage ist, Steuern zu zahlen – jetzt, wo die Steuereinnahmen ausbleiben.

[Doering (PDS): Wem sagen Sie das?]

Mit der nächsten Erkenntnis sollten Sie aber nicht so lange warten, nicht so lange, bis wiederum die Katastrophe eingetreten ist: Es hilft nämlich niemandem in der Stadt, wenn Sie jetzt schon wieder die scheinbare Sicherheit verbreiten, Berlin könne immer noch bis 2006 einen ausgeglichenen Primärhaushalt erreichen.

Die Berlinerinnen und Berliner brauchen einen echten Konsolidierungspfad aus der extremen Haushaltsnotlage,

[Liebich (PDS): Dazu brauchen wir die Bundesregierung!]

und nicht einfach die nächste Latte vor Augen, die wieder gerissen wird, und dann versinken wir wieder in die nächste Depression in dieser Stadt.

[Beifall bei den Grünen]

Die Lage in Berlin ist sehr, sehr ernst. Die Zahlen wurden bereits genannt: Arbeitslosigkeit über 17 %, und sie wird weiter steigen. Das Wachstum liegt unter 0 % und wird weiter fallen. Die Insolvenzen sind rekordverdächtig. Nicht nur Kiepert oder Foto-Klinke, sondern auch der Einzelhandel insgesamt stirbt derzeit leise aber sichtbar. Bombardier, Bosch-Siemens: Ich brauche das alles nicht zu wiederholen. Die Lage ist sehr ernst, aber ich finde – und ich denke, wir alle tun dies –, dass es die Aufgabe des Senats ist, daran zu arbeiten, dass sie nicht hoffnungslos wird, und da vermisse ich wirklich einiges.

Erster Punkt: Es reicht beispielsweise nicht, Herr Senator Wolf, wenn Sie sagen: Ich bin für Optimismus zuständig. Der Wirtschaftssenator muss sich nicht nur dafür zuständig fühlen, er muss ihn auch begründet und glaubwürdig verkörpern. Da fehlt sicher noch einiges. Es hilft

auch nicht, den Präsidenten des renommierten Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung zu beschimpfen, weil er die schlechten Nachrichten verkündet, meine Damen und Herren von der SPD. Herr Zimmermann vom DIW ist zwar der Überbringer der schlechten Nachricht, aber nicht der Verursacher. Auch wenn Sie noch lauter rufen: Haltet den Dieb!, wird dies aus Ihrem Mund nicht glaubwürdiger. Setzen Sie sich stattdessen mit ihm zusammen und suchen Sie seinen Rat.

[Beifall bei den Grünen]

Es ist schon absurd: Jeder fünfte Deutsche würde gern in Berlin leben, aber es gibt nicht die Unternehmen und die Bedingungen in Berlin, die diesen Menschen ermöglichen, auch ihren Lebensunterhalt zu verdienen.

Auch ein anderer Punkt irritiert: Die Branchenstruktur von Berlin ist laut Deutschem Institut für Wirtschaftsforschung eigentlich so, dass Berlin überdurchschnittliche Steigerung im Handel beispielsweise mit den osteuropäischen Staaten erreichen können müsste. Realität ist aber, dass Berlin beim Export nach Mittel- und Osteuropa deutlich gegenüber dem Bundesdurchschnitt hinterherhinkt, weil die Branchen zwar die richtigen sind, die Produkte jedoch, die in Berlin produziert werden, z. B. in der Nahrungsmittelindustrie, eher Billigprodukte als hochwertige Produkte sind und deshalb werden sie eher selbst produziert, als aus Berlin importiert.

Damit ist klar, was zu tun ist: Wir brauchen erstens mehr Know-how, mehr Innovation, und das heißt, wir brauchen eine verlässliche Strategie des Senats zu einer Stadt des Wissens und damit verbunden zweitens eine aktive Strategie des Senats für Berlin als offene internationale und europäische Stadt. Hier liegt alles im Argen.

Ich will mit den Projekten, die für eine Stadt des Wissens konkret anstünden, beginnen. Da gibt es seit Jahren ein saniertes Gewerbegelände in Oberschöneweide, das alte Rathenau-Gelände an der Wilhelminenhofstraße. Die FHTW möchte gern dorthin ziehen. Es ist auch Platz vorhanden. Das Gelände ist nicht ausgelastet. Wir haben zwei Senatoren von der PDS, wir haben Herrn Wolf und Herrn Flierl. Es müsste doch eigentlich möglich sein, dass sich die beiden zusammensetzen und diese Sache endlich bewegen.

[Pewestorff (PDS): Das sind Immobilien! Die bewegt man nicht!]

Was ist bisher geschehen? – Nichts! Nach wie vor der alte Stand. Ich empfehle Herrn Flierl und Herrn Wolf, dass sie endlich einmal einen gemeinsamen Termin machen.

[Doering (PDS): Wer finanziert das? – Pewestorff (PDS): Bingen Sie das Geld mit?]

Kommen wir zum abschließenden Punkt, zu Berlin als offener und internationaler Stadt. Vielleicht hat der eine von Ihnen in dieser Woche die „Berliner Morgenpost“ gelesen, die uns in Erinnerung gerufen hat, wie viel Geld Berlin durch intransparente Auftragsvergabe und Ausschreibung verschleudert. Und das geschieht heute noch

trotz des Bankenskandals und den vermeintlichen Läuterungen der politisch Verantwortlichen. Der Korruptionsverdacht drängt sich auf. Es sind zahlreiche Verfahren anhängig.

Viel schlimmer jedoch ist, dass durch solche Praktiken alle abgeschreckt werden, egal, ob sie in Berlin sitzen, eine Firma gründen wollen oder von außerhalb kommen. Jedem kleinen und mittleren Unternehmen ist klar, dass es draußen bleibt, wenn es hier in Berlin in den Verflechtungen nicht drin ist; es hat einen deutlich erschwerten Stand. Es reicht dann auch nicht, ein Kleinstkreditprogramm zu machen, auch wenn das eine gute Sache ist und wir nach wie vor unterstützen, dass Sie unsere Initiative aufgegriffen haben. Draußen zu sein, ist die Realität für mehrere tausend Unternehmer nichtdeutscher Herkunft in Berlin. Das gilt für viele andere. Das muss endlich aufhören. Wir brauchen diese Unternehmen und diese Arbeitsplätze für Berlin.

Ich möchte noch ein letztes, abschließendes Thema anführen. Es geht um Berlin als Ost-West-Kompetenzzentrum. Seit Jahren sind hier bergeweise Chancen vertan worden. Es kann nicht sein, dass wir immer davon tönen, wir hätten Kompetenzen im Plattenbau; das hätten wir seit Jahren aufgebaut. Und hinterher stellt sich dann heraus, dass die Konferenz nicht in Berlin, sondern in Helsinki stattfindet und Berlin nicht einmal teilnimmt. Es kann nicht sein, dass große Chancen auftauchen und Berlin sie nicht einmal wahrnimmt. Es ist klar, dass Polen ab 2006 sehr wahrscheinlich 6 Milliarden € pro Jahr bekommen wird. Es gibt hier viele Chancen für Berliner Unternehmen. Berlin hat davon noch nicht einmal Kenntnis genommen. Das kann so einfach nicht sein!

Deswegen möchte ich mich zum Schluss noch einmal an uns alle wenden: Meine Damen und Herren aus allen Fraktionen! Lassen Sie uns in diesem Punkt bei der Wirtschaftspolitik zu einem anderen Miteinander kommen. Lassen Sie uns alle unseren Beitrag gemeinsam dazu leisten, damit wir in der Wirtschaftspolitik endlich vorankommen. Berlin sollte es uns wirklich wert sein!

[Beifall bei den Grünen]

Danke schön! – Für den Senat hat nunmehr der Herr Senator Wolf das Wort. – Bitte!

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist in dieser Diskussion nicht sinnvoll, weder das Thema Wirtschaftsstandort und wirtschaftliche Situation in Berlin schönzureden, noch Horrorszenarien an die Wand zu malen. Das, was wir die letzten drei Tage erlebt haben, war durchaus typisch für Berlin. Es gab eine ZehnZeilen-Meldung im „Focus“, die schlecht recherchiert war. Es ging um die Berliner Titelseiten. Einen Tag später gab es das Dementi des Unternehmens Sony, und das ganze Szenario brach in sich zusammen. Wir im Abgeordnetenhaus, die wir in der Politik Verantwortung tragen, sollten hier etwas zur Versachlichung der Diskussion

beitragen, um den Wirtschaftsstandort in Berlin nicht zu beschädigen.

[Beifall bei der PDS und der SPD]

Dazu gehört natürlich auch – das ist klar –, die Probleme und Schwierigkeiten zu benennen. Herr Dr. Lindner, die Probleme des Standortes Berlin, die wirtschaftlichen Probleme in dieser Stadt werden nicht durch Ideologie gelöst, sondern dadurch, indem man sich die Probleme genau ansieht und versucht, Problemlösungen für konkrete Probleme zu entwickeln und nicht zu behaupten, dass das, was ich schon immer gesagt habe, auch die Probleme der Stadt löst.