Protokoll der Sitzung vom 28.11.2002

Natürlich nicht mit Absicht, sondern durch die gewohnte Mischung aus Eile, Schlamperei und Kurzsichtigkeit.

So sollten wir in Berlin nicht handeln, aber wir sind auf dem besten Weg dorthin.

[Beifall bei der CDU]

Danke schön! – Für die PDS-Fraktion hat nun der Abgeordnete Pewestorff das Wort. – Bitte!

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Diese Debatte kann man – je nach charakterlicher Veranlagung – bezüglich mancher Äußerungen amüsiert verfolgen, aber man kann sie auch empört verfolgen, weil manche Dinge den Tatsachen in Berlin nur sehr unvollkommen entsprechen. An einer Stelle wird es aber richtig ärgerlich, nämlich wenn der Fraktionsvorsitzende der CDU billigend in Kauf nimmt, dass man seine Reden so versteht, dass Berlin vorhandene Wirtschaftsfördermittel, Investitionsfördermittel nicht ausschöpft. Das ist unwahr.

[Zurufe von der CDU]

Die Beratungen im Hauptausschuss haben eindeutig klargemacht, dass der Senat, die Berliner Landesregierung alles tut, um das mit Energie und Notwendigkeit auszuschöpfen. Wir werden nicht auf Ihre Anregung hin zu einer Investitionslenkung kommen. Die verfolgt andere Wirkmechanismen.

[Beifall bei der PDS]

Wirtschaft ist im Abgeordnetenhaus ein Thema. Aber ein Problem der Debatte liegt darin, dass wir sektoral diskutieren. Wie diskutieren über Kultur, Bildung und Wirtschaft, und dann diskutieren wir noch über den Landeshaushalt. Es gibt Fraktionen, die klagen einerseits gegen die Verfassungswidrigkeit des Haushalts, und in jeder anderen Debatte kommt das Universalargument, dass keine Kürzung zulässig sei, weil der volkswirtschaftliche Effekt, um vieles multipliziert, Geld in die Kassen spüle. Wir können nicht einerseits die Haushaltsnotlage für das Land Berlin erklären und andererseits auf Steuereinnahmen und Steuerungsmöglichkeiten verzichten. Wir werden nicht mit der Gewerbesteuer ostfriesischer Dörfer konkurrieren können. Das kann niemand, der ernsthaft versucht, für diese Stadt Politik zu machen, wollen.

[Beifall bei der PDS und der SPD]

Natürlich führen wir diese Debatte zu einer Zeit, wo Menschen, die in der Wirtschaft tätig sind, normalerweise nicht fernsehen. Die kümmern sich um ihre Läden in der Spandauer Altstadt oder in der Bölschestraße, die betreiben ihren Handwerksbetrieb oder leiten vielleicht auch ihren Weltkonzern. Zur Unterhaltung schauen sie nicht nebenbei die Abgeordnetenhausdebatte. Aber natürlich gibt es viele Menschen, die, weil sie aus dem Prozess der Arbeit herausgedrängt wurden und arbeitslos sind, zu dieser Zeit eine solche Debatte verfolgen. Denen sollten wir ein bisschen mehr als nur schlechte Unterhaltung bieten, Herr Lindner, denen sollten wir zumindest den Eindruck vermitteln, dass die Menschen hier in diesem Saal ihre Sorgen und Nöte ernst nehmen und sich um Lösungsmöglichkeiten bemühen.

[Beifall bei der PDS und der SPD – Zuruf des Abg. Ritzmann (FDP)]

Insofern stimmen mich die Ausführungen des Wirtschaftssenators Wolf ein bisschen optimistisch. Da ist jemand, der mit Ernsthaftigkeit Probleme angeht, wo andere in gleicher Verantwortung und mit welchem Parteibuch auch immer – mir fallen da Branoner und Pieroth ein, aber auch andere –,

[Schmidt (FDP): Gysi!]

darüber geklagt haben, dass es so viele wirtschaftsfördernde Institutionen in dieser Stadt gibt, ganz Mao: Lasst viele Blumen blühen. Manche Institution hat ihren eigentlichen Zweck auch schon überlebt. Und jetzt ist hier jemand dabei, in einem komplizierten Verfahren unter unterschiedlichem gesellschaftsrechtlichen Bedingungen das, was von vielen als notwendig erkannt wurde, Stück für Stück umzusetzen, nach außen eine Anlaufstelle zu schaffen, die die Menschen, die in dieser Stadt etwas wirtschaftlich unternehmen wollen, aufnimmt und weiterleitet. Da ist übrigens noch ein Multiplikationstalent oder ein Kommunikationstalent gefragt, der einen etwas schwungvolleren Namen als „One-Stop-Agency“ dafür findet.

[Ritzmann (FDP): Machen Sie das, Herr Pewestorff!]

Was vielleicht noch viel wichtiger ist, für Sie, die Sie ja mit Verwaltung zu tun haben, dieser Senat geht daran, die Wirtschaftsverwaltung in der inneren Struktur neu und leistungsfähiger zu organisieren. Und was kommt als Erstes? – Als Erstes kommt ein Antrag der CDU: Lasst alles so, wie es ist, um Himmels willen ändert nichts an der bisherigen Struktur. Wenn das eine verantwortungsvolle Opposition ist, ist das ja wirklich tragisch.

Aber zum Einstieg in diese Debatte durch die beantragenden Fraktion der FDP: Herr Lindner, ich sage Ihnen das in aller Ernsthaftigkeit, Sie sollten dringend darum bemüht sein, jeden Eindruck zu vermeiden, dass eine Opposition – und man weiß ja nie, was alles noch kommt im Leben, Herr Lindner –

[Frau Dr. Klotz (Grüne): Da weiß die PDS, wovon sie spricht!]

Freude an schlechten Nachrichten hat. Häme ist keine politische Kategorie, auch wenn man die „Times“ liest und Margaret Thatcher nacheifern wird. Ich wünsche Ihnen schon als Lord Lindner viel Freude im Oberhaus – wir sind Sie dann los!

[Heiterkeit und Beifall bei der PDS und der SPD – Zuruf der Abgn. Brauer (PDS) und Hoff (PDS)]

Ich will hier keinen weltwirtschaftlichen Exkurs betreiben, aber die Situation dieser Stadt ist nicht losgelöst von der Situation in der gesamten Bundesrepublik, in Europa oder der Weltwirtschaft.

[Zuruf des Abg. Hahn (FDP)]

Umso wichtiger ist es, hier – und das mag manchmal mühselig und wenig erfreulich sein – das Mögliche zu tun: vom Kleinstkredit bis hin zur One-Stop-Agency. Das halte ich für wichtig. Wichtig ist auch der Wirtschaftsdialog eines Wirtschaftssenators, der sich an einem langen

Abend mit Gewerbetreibenden in Friedrichshain-Kreuzberg die Zeit nimmt mit seiner Verwaltung und zuhört und nicht vordergründig Politik vertritt, sondern die Sorgen der Leute vor Ort im Kiez aufnimmt. Berlin ist eben nicht nur die Konzernzentrale am Potsdamer Platz, es ist auch der Kiez.

[Dr. Lindner (FDP): Sie könnten auch etwas Großes tun!]

Natürlich würde ich mich freuen, wenn wir z. B. auch über die Erfahrungen von Berlin-Chemie reden. Das ist auch ein Stück Berliner Wirtschaftsgeschichte in Ost und West, wo ein früher volkseigenes Kombinat den Sprung in die Marktwirtschaft geschafft hat und heute nach Osteuropa und in die Staaten Mittel- und Osteuropas Marktführer ist, zusammen mit dem italienischen Mutterkonzern Menarini.

Wenn sich die Politik ernsthaft bemüht, das Machbare zu tun und niemandem etwas zu versprechen, was man nicht halten kann, dann kommen wir vielleicht auch zu Auffassungen über diese Stadt, die wir ein bisschen lieber hören als manches andere. Ich höre es gerne, wenn der SAP-Chef Hasso Plattner den Standort Berlin mit Barcelona, San Francisco und Paris vergleicht, was seine Attraktivität für junge kreative Entwickler angeht. Wir werden hier noch viel Arbeit leisten. Dieser Senat ist angetreten, diese Arbeit zu leisten. Und ich glaube, dass wir es auch tun werden. – Vielen Dank!

[Beifall bei der PDS und der SPD]

Danke schön! – Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat Frau Abgeordnete Pop das Wort!

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es sollte eigentlich um die Zukunftsfähigkeit der Stadt in dieser Debatte hier gehen. Dafür war sie ganz schön traurig.

[Zuruf des Abg. Liebich (PDS)]

Es geht ja nicht nur darum, dass Unternehmen hier aus Berlin weggehen, es geht auch darum, dass Menschen aus Berlin weggehen, und vor allen Dingen junge Menschen gehen aus Berlin weg. Sie finden hier keinen qualifizierten Job als Berufseinsteiger, und noch trauriger ist, dass sie noch nicht einmal einen Ausbildungsplatz finden.

Die Ausbildungssituation in Berlin ist unter Rot-Rot so schlimm wie noch nie. Während auf Bundesebene dieses Jahr Entspannung zu verzeichnen war, gibt es in Berlin die wenigsten Ausbildungsplätze seit der Wende.

[Liebich (PDS): Umlagefinanzierung!]

Auf Grund der schlechten konjunkturellen Lage bildet die Wirtschaft in Berlin immer weniger aus. Die Zahl der betrieblichen Ausbildungsplätze ist auf einen erneuten Tiefpunkt in Berlin gesunken. Aber die Ausbildung von Jugendlichen ist und bleibt nach wie vor in der Verantwortung der Wirtschaft. Und wir brauchen ein verstärktes Engagement. Das sage ich hier nicht zum allerersten Mal.

Wir brauchen ein verstärktes Engagement der Betriebe in Berlin in diesem Bereich. Und aus dieser Verantwortung dürfen Sie sie auch nicht entlassen, meine Damen und Herren!

[Beifall bei den Grünen]

Mehr Engagement von der Privatwirtschaft zu fordern ist einfach, reicht aber nicht aus. Der öffentliche Dienst in Berlin braucht ebenso den Nachwuchs. Diesem geben Sie inzwischen keine Chance. Der Senat hat sich aus der Verantwortung für die Nachwuchsbildung im öffentlichen Dienst inzwischen verabschiedet. Auszubildende werden nicht mehr übernommen, Ausbildungsplätze im öffentlichen Dienst gibt es gar nicht mehr, trotz der drohenden Vergreisung des öffentlichen Diensts und der geplanten Verwaltungsreform.

Ebenso in Ihrer Verantwortung, vor allem in Ihrer, Herr Wolf, ist der Rückgang der geförderten Ausbildungsplätze in Berlin. In der Jugendberufshilfe, aber auch in der Verbundausbildung wurde im Doppelhaushalt 2002/2003 gekürzt; das Ergebnis: fast 1 000 Plätze weniger. Kurzfristig, wenn Not an Mann ist, rufen Sie großzügige Notprogramme aus, die diese Lücken, die Sie vorher gerissen haben, wieder stopfen sollen. Es scheint ohnehin symptomatisch zu sein in dieser Stadt, dass jedes Jahr Aktionismus zum Thema Ausbildung ausbricht, wenn das Kind schon längst in den Brunnen gefallen ist. Wir erwarten von Ihnen, dass nächstes Jahr nicht wieder Anfang September das große Bedauern angesichts der schlimmen Lage ausbricht, sondern dass tatsächlich früher und gezielter um Ausbildungsplätze geworben wird.

Lassen Sie mich ein Beispiel nennen: Trotz der schlechten Wirtschaftslage gibt es einen kleinen, aber dynamischen Bereich, die so genannte ethnische Ökonomie, in Berlin. Die Zahl der Betriebe mit nichtdeutschen Inhabern hat sich in den letzten Jahren verdoppelt. Berlin ist in diesem Bereich auch die Hauptstadt, denn es gibt über 20 000 Betriebe mit Inhabern nichtdeutscher Herkunft. Da frage ich mich, warum es keine Initiative von Ihnen gibt, bei diesen Ausbildungsplätze zu schaffen. Ich will Sie nur daran erinnern, dass alle anderen Städte, Hamburg an erster Stelle, mit guten Initiativen über 300 Ausbildungsplätze gewonnen haben. Das wäre doch einmal eine Idee!

[Beifall bei den Grünen – Vereinzelter Beifall bei der CDU]

Dieser Weg ist weitaus sinnvoller, als mit Notprogrammen das Geld für komplett staatlich geförderte Maßnahmen auszugeben. Das fördert nicht gerade die Ausbildungsbereitschaft der Wirtschaft, und den Jugendlichen tut man damit doch auch keinen Gefallen, wenn sie praxisfern ausgebildet werden.

Unter dem Stichwort „Ausbildung modernisieren“ müssten Sie einiges mehr tun in nächster Zeit, und zwar muss es schnell gehen, damit die Situation nächstes Jahr besser wird. Der Übergang von der Schule in den Beruf muss verbessert werden, denn viele Jugendliche schaffen den ersten Schritt nicht einmal; die schlechte Berufsbera

tung, die mangelnden Praxiseinblicke in der Schule, das alles gilt es zu verändern.

Gerade für benachteiligte Jugendliche gibt es eine Fülle von Programmen und Maßnahmen – ein Experte sagte: „Bei 87 haben wir aufgehört zu zählen.“ –, die nicht aufeinander abgestimmt oder miteinander koordiniert sind. Die Folge davon ist ganz klar: Warteschleifen, die den Jugendlichen nichts bringen. Nach wie vor können Jugendliche keine anerkannten Teilqualifikationen in dieser Stadt erhalten. Wenn sie Berufsvorbereitungsmaßnahmen machen oder wenn sie schlicht und einfach die Ausbildung abbrechen, haben sie nichts in der Hand. Sie können dann wieder von vorne anfangen im nächsten Jahr und sitzen in der nächsten Warteschleife.

In Berlin blühen Förderdschungel und Bürokratie in diesem Bereich. Jugendliche müssen sich den Maßnahmeprogrammen anpassen, und es ist nicht anders herum, dass die Maßnahmen auf die Talente und Fähigkeiten der Jugendlichen zugeschnitten sind. Eigentlich wäre das ein guter Stoff, um mit der Arbeit zu beginnen. Denn sich einfach zurückzulehnen und darauf zu warten, dass sich die Jugendarbeitslosigkeit demographisch erledigt – darauf warten Sie offensichtlich –, finde ich zynisch. Ich finde auch, dass Sie sich daran messen lassen müssen, wie viel Zukunft sie den jungen Menschen in dieser Stadt bieten. Und davon hängt die Zukunft dieser Stadt auch ab. – Danke!

[Beifall bei den Grünen – Vereinzelter Beifall bei der CDU]

Danke schön! – Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor. Damit hat die Aktuelle Stunde ihre Erledigung gefunden.

Wir kommen zur

lfd. Nr. 2 A: