Protokoll der Sitzung vom 27.03.2003

Antrag der CDU Drs 15/1476

Dafür steht eine Beratung von bis zu fünf Minuten zur Verfügung. Es beginnt die Fraktion der CDU, und zwar die Frau Abgeordnete Schultze-Berndt – Bitte schön!

Vielen Dank, Frau Präsidentin! – Meine Damen und Herren! In diesem Winter ergab eine Studie der Schulverwaltung, dass in Berlin mehr als 15 000 Schüler, das sind knapp 5 %, mehr als 20 von 100 Tagen dem Schulunterricht fern bleiben, dass davon sogar noch einmal 4 000 mehr als 40 Tage, das heißt 40 %, des Schulunterrichts versäumen. Vor allem betroffen davon sind Haupt- und Sonderschüler. Jede Schülerin, jeder Schüler steht für ein Einzelschicksal mit den individuell unterschiedlichsten Beweggründen für das Fehlen und die Schuldistanz oder – nennen wir es doch beim Namen – für das Schwänzen. Dabei stehen Zweifel am Nutzen des Schulbesuchs und mangelndes Interesse neben überforderten Elternhäusern und einer sinkenden Identifizierung mit der eigenen Schule als Gründe.

Die Konsequenz sind nicht nur Wissenslücken und eine mangelhafte Einbindung dieser Schülerinnen und Schüler in die Klassengemeinschaft mit ihrer Dynamik und der Geborgenheit, die solch eine Gruppenzugehörigkeit geben kann; Personalchefs nennen als eines der wichtigsten Auswahlkriterien die Fehlzeiten auf dem Zeugnis. Damit wird die Dimension des Schulschwänzens über die fehlende Wissensvermittlung hinaus deutlich. Diese Schülerinnen und Schüler werden es schwer haben, einen Arbeitsplatz zu finden – wenn sie vorher überhaupt einen Schulabschluss erworben haben. Mit ihrer Ablehnung eines regelmäßigen Schulbesuchs schaffen sie sich eine negative Lebensperspektive.

Unser Ziel muss es sein, diesen Jugendlichen mit allen verfügbaren Mitteln eine profunde Schulbildung zu ermöglichen.

[Beifall bei der CDU]

Zu diesem Zweck muss – erstens – die Schulpflicht umgesetzt werden. Dabei sollte die Zuführung durch die Polizei an letzter Stelle stehen. Jugendhilfe und Erzieher, Familienhilfe und Lehrer, Schulpsychologen und Schulstationen müssen hier zusammenarbeiten, um einen Schulbesuch sicherzustellen. Lehrkräfte und Schulleitung müssen frühzeitig einschreiten, wenn sich die Fehlzeiten häufen.

[Beifall bei der CDU]

Dabei muss durchaus auch auf die Unterstützung durch die Polizei zurückgegriffen werden, was in Berlin trotz einer verbindlichen Rechtsvorschrift nicht geschieht. Als

letztes Mittel ist auch die Klage gegen die Eltern wegen Vernachlässigung der Aufsichtspflicht zu erwägen.

[Beifall bei der CDU]

Die einzelnen Schulen unternehmen bereits eine Menge, um diesem Missstand abzuhelfen. So holen sie zum Beispiel die gefährdeten Schülerinnen und Schüler auf eigene Initiative von zu Hause ab und begleiten sie zum Unterricht.

Im Allgemeinen kann man die Eltern dieser Jugendlichen in zwei Gruppen einteilen. Erstens handelt es sich um Eltern, die nicht wissen, dass ihre Kinder dem Unterricht fernbleiben. Hier reicht oft eine kurze Unterrichtung, und die Schülerinnen und Schüler begeben sich wieder auf den Schulweg. Problematischer ist die zweite Gruppe der Eltern, die die Schuldistanz tolerieren oder sogar unterstützen. Hier scheinen die Bemühungen der Lehrerinnen und Lehrer und Schulleiterinnen und -leiter zunächst vergebens zu sein.

Es scheint mir jedoch nicht angebracht, hier nach der Polizei zu rufen, die die Schülerinnen und Schüler von zu Hause abholt und mit Blaulicht in die Schule transportiert. – Ich freue mich, dass Frau Schultze-Berndt auch solch ein Statement abgegeben hat. – Erstens hat die Polizei in Berlin wahrlich andere Hauptstadtaufgaben zu erfüllen. Zweitens wurde es nicht selten beobachtet, dass die be

Aber auch das sollten wir nicht auf die leichte Schulter nehmen. Ich möchte zunächst die „Null-Bockler“ betrachten und dazu eine Geschichte aus dem Leben erzählen. Mein Söhnchen traf ich im zarten Alter von 16 Jahren häufiger auf der Bank vor „Spar“ in Frohnau, gemütlich mit einer Coladose. Wenn ich ihn fragte, wieso er nicht in der Schule sei, antwortete er mir, eine Freistunde, oder ein Lehrer war krank. Irgendwas erzählte er mir immer – bis ich mir sagte, ruf doch vielleicht mal die Lehrerin an. Da bekam ich von der Dame zu hören: Liebe Frau Senftle

ben, Ihr Sohn schwänzt seit geraumer Zeit den Unterricht. – Ich war nicht nur über meinen Sohn sauer, es hat mich auch wütend gemacht, dass die Lehrerin mich nicht darüber informiert hat, dass mein Sohn den Unterricht geschwänzt hat.

Ja, mein Sohn! Ich sage das ganz offen. Ich habe ihn im Übrigen vorher gefragt, Herr Wieland, ich durfte die Geschichte erzählen. – Es kann nicht sein, dass wir solch eine sehr breite Toleranzgrenze bei den Pädagogen haben. Vielleicht, Herr Schulsenator Böger, kann man diesen „Null-Bock“-Kindern oder -Jugendlichen den Weg zurück ein bisschen erleichtern, indem man auch die Lehrer bittet, sich unmittelbar – Herr Böger! – Herr Böger! –

mit den Eltern in Verbindung zu setzen, damit dieses nicht mehr geschieht. Und es wäre schön, wenn so etwas einmal per Rundschreiben mitgeteilt würde. Vielen Dank, dass Sie so aufmerksam waren.

Jetzt haben wir aber ein größeres Problem, und das ist – Frau Tesch, auch hier gebe ich Ihnen Recht – die Gruppe der Schulverweigerer oder Lernmüden. Hier gibt es tiefergehende Ursachen: Familie, Schule, Umfeld. Es bringt Frust, es bringt Arbeitslosigkeit. Und weil dieses Problem so gravierend ist, müssen wir einfach auch neue Wege beschreiten. Primär gilt hier – das muss die Prämisse sein, das A und O –: Schule muss attraktiver werden. Der Unterricht in den betroffenen Schultypen muss spannender werden, weg vom Frontalunterricht, hin zu mehr Praxis. Der Unterricht muss lebensnäher werden, auf den Beruf vorbereiten, muss sich in der Theorie auf das Wesentliche beschränken, und der Anteil der praktischen Erfahrungen muss sich dagegen steigern.

troffenen Jugendlichen sofort wieder durch die Hintertür verschwinden, und drittens kann es durchaus einen konterkarierenden Effekt haben, wenn der Jugendliche, der mit Fahrer vorfährt, von seinen Klassenkameraden gebührend gefeiert wird.

Auch die Vorschläge, die Sozialhilfe der Eltern zu kürzen oder den Schülerinnen und Schülern einen Teil ihres Taschengeldes zu entziehen, halte ich für problematisch. Die Sozialhilfe hat wahrlich einen anderen Sinn, als dass ihr Entzug als Drohmittel gelten könnte. Und wie will man den Beitrag des Taschengeldentzuges definieren? – Allenfalls könnte man über ein Bußgeld nachdenken. Wichtiger ist und bleibt aber die Ansprache an die Eltern.

Ich habe im Schulausschuss bereits vor geraumer Zeit einen Antrag auf Besprechung gestellt. Obwohl dieser CDU-Antrag keine eigenen Vorschläge macht, sondern lediglich die Auflistung eines Maßnahmenkataloges vom Senat verlangt, bedarf er noch weiterer Beratung. Deshalb bitte ich um Überweisung an den Schulausschuss. – Ich danke Ihnen.

Danke schön! – Für die FDP-Fraktion hat Frau Abgeordnete Senftleben das Wort. – Bitte sehr! – Ich bitte zwischenzeitlich noch einmal um Ihre erhöhte Aufmerksamkeit. Vor allen Dingen bitte ich Sie, die Beratungen, die jetzt verstärkt an den Rändern und im Saale stattfinden, draußen durchzuführen.

Frau Präsidentin! Vielen Dank! – Meine Herren, meine Damen! Wir reden gerade über das Schulschwänzen. Aber wenn ich mich hier so umschaue – –

[Frau Dr. Klotz (Grüne): Bußgeld!]

Die Zahlen sind genannt: 14 000 bis 15 000 Schülerinnen und Schüler bleiben 20 bis 40 Fehltage der Schule fern. Das Problem ist offensichtlich von allen erkannt. Haupt-, Sonder- und Gesamtschulen sind besonders davon betroffen. Eine soziostrukturelle Debatte brauchen wir heute nicht zu führen. Wir alle wissen: Es sind hauptsächlich Kinder aus bildungsfernen Schichten, die uns diese Sorgen bereiten. Aber es gibt auch Gymnasiasten und Gymnasiastinnen, die einfach „null Bock auf Schule“ haben und ihr deshalb fernbleiben. Allerdings ist das – Frau Tesch, darin gebe ich Ihnen Recht – eine Phase, die irgendwann auch vorübergeht.

[Ritzmann (FDP): Nach der Schule!]

[Wieland (Grüne): Frau Senftleben! Ich bin entsetzt! Ihr Sohn!]

[Ratzmann (Grüne): Nicht schwätzen im Unterricht!]

[Vereinzelter Beifall bei der FDP]

[Beifall bei der FDP]

Seit langem fordert die Wirtschaft eine intensivere Zusammenarbeit zwischen Betrieben und Schule. Schüler sind häufig frustriert, weil sie in der Theorie überfordert sind. Es gehört zu unseren Aufgaben, gerade diese Klientel zu motivieren, den Schulabschluss zu erreichen, und das geht eben besser über die Praxis.

Mit der Praxis wird den Schülern bewusst, dass die Theorie Basis für die Praxis ist, also etwas Sinnvolles darstellt. Sie erkennen also die Notwendigkeit einer Qualifikation. Schulen, die in diesem Bereich erfolgreich sind, gibt es in Berlin, aber leider zu wenig. Ich erinnere nur an das Projekt „Produktives Lernen“, ein Schulversuch – leider. Dieses Projekt hat Wege aus dieser Misere aufgezeigt. Ich finde, Herr Böger, es wird Zeit, dass wir dieses Projekt aus der Versuchsphase in die reguläre Phase überführen. Produktives Lernen sollte hier in Berlin Grundstock für alle praxisorientierten Schulzweige werden.

Das Fach Arbeitslehre haben alle, aber dieses Fach allein reicht vielfach nicht aus, um die Jugendlichen zu

Hoffentlich nicht! Ich zitiere das als abschreckendes Beispiel. – Nach den Empfehlungen, die sie für ihre Kinder zum Anfertigen und Betreuen der Hausaufgaben von der Schule erhalten hat, schreibt sie:

... gab es eine Unterweisung in die sinnvolle Vorbereitung der Klassenarbeiten, die in Bayern Schulaufgaben genannt werden. Wir sollen mit dem Kind etwa 10 Tage vor der Klassenarbeit eine Freizeitplanung einschließlich des Wochenendes erstellen, in die alle festen Termine einzutragen seien. Sodann sei auf die restlichen Termine die Stoffwiederholung im Detail zu verteilen. Hilfreich sei es dabei, wenn sich die Eltern die Übungsblätter, bevor sie bei der regelmäßigen Hausaufgabenerledigung ausgefüllt würden, am häuslichen Faxgerät kopieren würden. Dadurch ließe sich die mühevolle eigene Erstellung von Aufgaben zur Vorbereitung der Klassenarbeit ersparen. Hilfreich sei es des Weiteren, mit den Kindern Lernplakate zu erarbeiten, die in Stichworten den Lernstoff in übersichtlicher Weise wiedergeben sollten. Diese Plakate seien auf die Innenseite der Toilettentüren zu heften, so dass ein Lernen auch an diesem stillen Ort, an dem sich Kinder oft und lange aufhielten, möglich sei.

Ich finde, wer nach dieser Anweisung handelt, der hat schon eine gute Grundlage, dass Kinder künftig schwänzen. Das sollte es nicht sein. Dann gibt es eine andere Möglichkeit, die ich jetzt gelesen haben: In Köln wird man Schulschwänzen ab Montag mit einem Bußgeldverfahren belegen. Der Erstverstoß, lese ich, kostet 173,40 €. Da kann ich nur Frau Senftleben beipflichten: Das wird die Lösung auch nicht sein.

motivieren, bei der Stange zu bleiben. Die BürgerStiftung ist eine sinnvolle Sache – ehrenamtliches Engagement, Bürgerengagement, das wir als Liberale fördern und einfordern –, hier wird wirklich gute Arbeit geleistet. Weiter notwendig ist eine intensive Zusammenarbeit mit den Elternhäusern. Jugendämter, Sozialarbeiter müssen hier verstärkt ihre Aufgaben wahrnehmen. Wer hier Geld einspart – Herr Sarrazin ist leider nicht mehr da –, spart an der Zukunft!

Entschuldigung! Der Finanzsenator steht unmittelbar vor Ihnen – nicht, dass im Protokoll vermerkt wird, er sei nicht anwesend.

Ich freue mich, dass Sie es gehört haben, Herr Sarrazin!

Also, ich sage noch einmal: Die genannten Vorschläge sind Maßnahmen. Keine Maßnahmen sind es, die Sozialhilfe zu kürzen, die Polizei hinzuschicken. Die lachen sich halb kaputt, die Jugendlichen. Das Taschengeld zu kürzen, ist ein völlig irrer Vorschlag. Nein, wir müssen an den Unterricht heran, wir müssen präventiv arbeiten, wir müssen mehr Bildung und auch mehr individuelle Förderung in die Grundschule bringen. So bekommen wir dieses Problem in Zukunft in den Griff. – Vielen Dank!

[Beifall bei der FDP]

Danke schön! – Für die PDS-Fraktion hat das Wort die Abgeordnete Frau Schaub!

Vielen Dank, Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! – Insbesondere an die Adresse der CDU-Fraktion: Ich hatte erwartet, Frau SchultzeBerndt, dass ich in Ihrem Redebeitrag höre, was ich im Antrag nicht lesen kann, dort einfach nicht wiederfinde, nämlich Ideen, wie dem Problem beizukommen sei. Ihre Idee ist offensichtlich, die Senatsverwaltung möge in drei Monaten – wenn ich richtig rechne – einen Bericht vorlegen, wie dem beizukommen ist.

[Vereinzelter Beifall von links]

Das kann die Senatsverwaltung nicht per Konzept und Bericht regeln. Das ist eine gesellschaftliche Aufgabe, und darüber müsste man erst einmal Klarheit schaffen.

Ihr Antrag beschäftigt sich u. a. damit, den Auftrag zu erteilen, Hintergründe herauszufinden, wie die Eltern das Verhalten ihrer Kinder beeinflussen können. Eine Möglichkeit haben wir gerade von Frau Senftleben gehört. Ich ahne ja nicht, in welche Richtung Ihre Ideen gehen, wie dem Problem beizukommen sei, aber hoffentlich nicht in die Ihres Unionspartners ganz im Süden Deutschlands – ich zitiere mit Verlaub eine Mutter, die aus Berlin nach Bayern gekommen ist, Richterin von Beruf, die nun folgende Anweisungen in der Schule erhalten hat:

[Zuruf der Frau Abg. Jantzen (Grüne)]