Protokoll der Sitzung vom 17.01.2002

[Beifall des Abg. Hahn (FDP)]

Kein Schlüssel sperrt die Stimmen der Erinnerung weg, die tausendfältig gegen enteignetes Leben protestieren. Ich sage: Der Mensch wird geboren, um die Schwingen auszubreiten und fliegen zu lernen über das Enge und Kleine hinaus. Dass der deutsche Kommunismus dies vor allem anderen den Menschen auszutreiben getrachtet hat, bleibt seine Hauptsünde. Kein Kalter Krieger, sondern Deutschlands bedeutendster Lyriker der Gegenwart, Durs Grünbein, hat jüngst seine Jugend in der DDR mit einer vernichtenden Bilanz beschrieben:

Alle schlechten Eigenschaften des modernen Menschen fanden sich hier kollektiviert und in den Rang gesellschaftlicher Notwendigkeiten erhoben, die geistige Ignoranz... die Denunziation des Nächsten, das dumme Geschwätz... die Borniertheit [und der] Kadavergehorsam.

Ist das nun Schwarzmalerei? – Natürlich gelang auch etwas in der DDR. Natürlich haben Millionen von Menschen ein Leben in Würde und Anstand gelebt, nur waren es Würde und Anstand t r o t z und g e g e n SED und Staatssicherheit. Was in Leben, Kunst, Wissenschaft und Wirtschaft Positives geschaffen wurde, war in Leidenschaft und List dem Staatssozialismus abgerungen. D i e s sind die Biographien, vor denen wir uns in Hochachtung verneigen. Wir sagen zur Präambel der Koalitionsvereinbarung: Die PDS hat nicht das geringste Recht, sich zur Anwältin dieser Lebensgeschichten zu ernennen.

[Beifall bei der CDU, der FDP und den Grünen]

An diesem Tag, der ein einziges Fragezeichen über Berlin ist, fragen wir noch einmal: Wohin platziert sich die Sozialdemokratie in der deutschen Geschichte? – Es ist enthüllend, dass die Bündnispapiere ein Denkmal für Rosa Luxemburg beschließen. Kann es im Ernst solche historische Legasthenie geben?

[Beifall bei der CDU und der FDP]

Die große Sozialistin ist keine Schutzpatronin der Demokratie. Sie hat Klassenkampf, Diktatur des Proletariats und Bürgerkrieg propagiert. Mit dem Spartakusaufstand gegen die demokratische Vernunft Friedrich Eberts begann der Teufelskreis von Gewalt und Gegengewalt, der am Ende die erste deutsche Republik zerstörte. Golo Mann hat der verblendeten Republikfeindschaft der deutschen Kommunisten ein gerüttelt Maß Mitschuld an der deutschen Katastrophe zugemessen.

[Zuruf von der FDP: Sehr richtig!]

Und weiter: Als das Nazi-Reich 1945 in Schande untergegangen war, wer hinderte eigentlich Walter Ulbricht daran, sich in der Sowjetzone einem echten demokratischen Votum zu stellen, anstatt das Wort „Freiheit“ ständig zu missbrauchen? – Die Frage ist rhetorisch, das weiß ich, aber man braucht sie, um den Schleier, den die heutige Berliner SPD und die PDS mit den Schlagworten vom „Kalten Krieg“ und vom „Ost-West-Konflikt“ vor die Schuldfrage spannen, einmal wegzureißen. Dass der deutsche Kommunismus seinen Staat auf Unfreiheit baute, dass er zuerst die Sozialdemokratie, dann das ganze Land in Ketten schlug und bespitzelte, einsperrte und aus dem Land jagte, wer die Ketten nicht tragen mochte, d a s hat unser Land gespalten.

[Beifall bei der CDU und der FDP]

Es hat alles brüderliche Streben nach Gleichheit und Gerechtigkeit, das es im östlichen Deutschland selbstverständlich ebenso gab wie im freiheitlichen Sozialstaat des Westens, vom ersten Tag an mit Zwang und Verlogenheit vergiftet. Freiheit ist nicht alles, das weiß ich, aber ohne Freiheit ist alles nichts.

[Beifall bei der CDU und der FDP]

Das Jahr 1989 kam endlich, nach dem 17. Juni 1953, nach dem 13. August 1961, wo historischer Appell genug schon gewesen wäre zur Einsicht und Umkehr für den Kommunismus. Aber was geschah im Winter 1989? – Noch einmal verweigerte sich der deutsche Kommunismus der Forderung des Tages. Süchtig nach der Droge der Macht, war ihm alles verhasst, was Machtverlust verhieß. Am Ende eines jahrzehntelangen Niedergangs, nach ökonomischem wie moralischem Bankrott, wäre die Umwidmung der Parteimilliarden für die Diktaturopfer und die Selbstauflösung der Partei ein Akt von jener welthistorischen Größe gewesen, wie sie die Sozialisten immer für sich beansprucht hatten.

[Beifall bei der CDU und der FDP]

Einzelne sind diesen Weg einer echten geistigen Umkehr gegangen. Denen gilt meine ganze Sympathie.

Die Präambel der Koalitionsvereinbarung, etwa am 4. November 1989 am Alexanderplatz verlesen, hätte dem Sozialismus vielleicht einen Rest von Glaubwürdigkeit gerettet. Nach 12 Jahren Schweigen aber ist sie nur ein Zeugnis eiskalter Berechnung zur Betäubung des schlechten Gewissens der Sozialdemokratie.

[Starker Beifall bei der CDU und der FDP]

Der Stein, den die PDS 1989/90 vergeblich der Wiedervereinigung in den Weg wälzte, wurde danach geschickt zermahlen und zum Sand im Getriebe.

„Desinformation“ hat eine große Tradition im Kommunismus. Geschickter hat wohl nie jemand „Haltet den Dieb!“ gerufen. Von denen, die doch ganz still hätten sein müssen über all dem Elend, das sie verantworteten, kamen zum Wiederaufbau vor allem Hohn und Häme und agitatorische Maximalforderungen.

[Beifall bei der CDU und der FDP]

Die von der CDU geführte große Koalition beschloss: Aufbau Ost kommt vor Aufbau West. Ist die PDS ein einziges Mal darauf positiv eingegangen? – Ich wüsste nicht. In Berlin hat die PDS die Stadt gepalten. Sie s e l b s t ist das Problem, für dessen Lösung sie sich jetzt großzügig anbietet.

[Beifall bei der CDU und der FDP]

Welche Kompetenz bringt sie mit? – Das Parteiprogramm der PDS ist buchstäblich nicht von dieser Welt. Viel wichtiger ist etwas anderes: Die Partei hat die Erinnerung, wie süß die Macht schmeckt. Und sie schickt Persönlichkeiten in den Senat, die vor allem eine Qualifikation haben: Sie sind mit allen Wassern des Klassenkampfes gewaschen.

[Heiterkeit bei der PDS]

Sogar die DKP darf mit ihrer in Moskau ausgebildeten Sozialsenatorin einen unerwarteten, späten Erfolg feiern.

[Beifall bei der CDU und der FDP – Zurufe von der PDS]

Und wir, das bürgerliche Berlin? – Auch an diesem Tag, der grau, nicht groß ist, verhüllt die Stadt der Freiheit nicht ihr Haupt. Sie braucht ihre offenen Augen mehr denn je. Und sie weiß: „Lachen hat seine Zeit, Weinen hat seine Zeit.“ Das hat das bürgerliche Berlin im letzten Jahr schmerzhaft erfahren. Auch die Sozialdemokratie, die heute einen großen Tag zu haben glaubt, wird die Wahrheit des biblischen Satzes bald erleben. Die leichtfertige „Liaison dangereuse“ von heute wird sie ihre Seele kosten.

[Zuruf des Abg. Dr. Lindner (FDP)]

Darüber freut sich niemand, dem unsere Demokratie am Herzen liegt. Klaus Wowereit, Peter Strieder, Klaus Böger! Um nichts in der Welt möchte ich heute in Ihrer Haut stecken! – Vielen Dank!

[Stehender Beifall bei der CDU – Beifall bei der FDP]

Danke schön, Herr Kollege Stölzl! Das Wort hat nunmehr für die Fraktion der SPD der Fraktionsvorsitzende Müller. – Bitte schön, Herr Müller!

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Heute ist ein besonderer Tag. Nach einem Jahr gewaltiger politischer Veränderungen wird heute eine neue Regierung gewählt und ihre Arbeit für die nächsten fünf Jahre aufnehmen. Als mir mitgeteilt wurde, dass der Ältestenrat heute eine Aussprache zur Wahl der zukünftigen Senatsmitglieder vereinbart hat, war ich gespannt, wer hier welche Rolle spielen wird und ob die Opposition ihre Verantwortung für unsere Stadt wahrnehmen wird. Herr Steffel, Sie hätten heute die Chance gehabt, sich endlich einmal als kraftvoller Oppositionspolitiker zu präsentieren und als solcher hier auch politische Akzente zu setzen.

[Beifall bei der SPD – Vereinzelter Beifall bei der PDS – Zurufe von der CDU]

Ich stelle fest: Schon wieder Fehlanzeige!

[Zuruf des Abg. Henkel (CDU)]

Sie treten Ihre Rederunde ab an Herrn Stölzl. Ich finde im Übrigen auch bemerkenswert, dass der Vizepräsident des Abgeordnetenhauses diese Rolle hier annimmt

[Frau Michels (PDS): Allerdings!]

und sich in eine parteipolitische Diskussion verstricken lässt.

[Beifall bei der SPD und der PDS – Gelächter bei der CDU]

Wobei ich auch das ganz deutlich sage: Im Grunde genommen, wenn man sich die Inhalte anguckt – diese Rede hätten Sie auch halten können, Herr Steffel!

[Beifall bei der SPD und der PDS – Henkel (CDU): Das ist eine Unverschämtheit!]

Es waren die gleichen Inhalte, sie waren nur besser vorgetragen. Das war alles.

[Dr. Steffel (CDU): Das ist Ihr Niveau, Herr Müller!]

Die Stadt Berlin hätte mehr davon gehabt, wenn die CDU sich früher aufgeregt hätte, nicht erst heute, nämlich als führende CDU-Politiker im Umgang mit der Bankenkrise ihre Unfähigkeit bewiesen haben. Aber da haben Sie alle miteinander geschwiegen. Da haben Sie alles mitgemacht.

[Beifall bei der SPD und der PDS – Henkel (CDU): Herr Strieder hat auch mitgemacht!]

Aber das Ergebnis kennen wir auch. Sie kennen es sehr gut. Die Wähler haben Ihnen nämlich dafür im Oktober auch die Quittung präsentiert und den Neuanfang gewählt. Sie wären gut beraten, das Wahlergebnis endlich auch einmal zur Kenntnis zu nehmen

[Frau Herrmann (CDU): So gut war das nun auch nicht!]

und auch Ihre Rolle anzunehmen und gründlich darüber nachzudenken. Mit diesen Reden aus den 50er Jahren werden Sie zum Zusammenwachsen der Stadt mit Sicherheit nicht beitragen.