Protokoll der Sitzung vom 08.05.2003

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich eröffne die 30. Sitzung des Abgeordnetenhauses von Berlin und begrüße Sie, unsere Gäste, unsere Zuhörer, besonders die Besucher im Rahmen des Girls´ Days sowie die Medienvertreter sehr herzlich.

[Zuruf der Frau Abg. Oesterheld (Grüne)]

Die Vertreterinnen begrüße ich natürlich auch, das ist ja selbstverständlich!

Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, bitte ich Sie, sich zu erheben.

[Die Anwesenden erheben sich von ihren Plätzen.]

Vor Beginn unserer Beratungen möchte ich mit Ihnen eines Kollegen gedenken, der am vergangenen Sonntag nach schwerer Krankheit im Alter von nur 52 Jahren gestorben ist. Mit der PDS-Fraktion trauern wir um Bernd Holtfreter, der dem Abgeordnetenhaus von Berlin seit November 1995 angehört hat. Mit Herrn Holtfreter verliert das Parlament einen Abgeordneten, dessen Arbeit durch sein soziales und intensives gesellschaftliches Engagement geprägt war. Bernd Holtfreter war zutiefst davon überzeugt, dass Bürger auch ohne Amt und Mandat etwas in Bewegung setzen können, wenn sie sich zusammenschließen. Das war seine Grunderfahrung aus den Zeiten der DDR. Er glaubte an den Erfolg von Bürgerinitiativen, und er hatte die Gabe, Menschen zu motivieren und zu mobilisieren.

In den siebziger und achtziger Jahren engagierte sich Bernd Holtfreter in Prenzlauer Berg in der alternativen Szene, die in jener Zeit eine der Nischen in der Nischengesellschaft der DDR in Ostberlin war. Ihm ging es um die konkreten Probleme der Menschen im Kiez. So wurden die von den Ostberliner Behörden geplanten Abrisse in der Oderberger Straße und der Rykestraße durch das Engagement der Bürgerinnen und Bürger verhindert.

Nach dem Fall der Mauer setzte sich Bernd Holtfreter für die Bildung von Mietergenossenschaften ein. Die Mieter sollten gemeinsam Häuser aus den Altbaubeständen der kommunalen Wohnungsgesellschaften erwerben und auch verwalten, die Regie und Verantwortung dafür und für eine sozialverträgliche Sanierung übernehmen. Einige der von ihm angeschobenen Gemeinschaftsprojekte konnten erfolgreich realisiert werden. Nicht mehr erleben wird er die geplante Wiedereröffnung des Stadtbades Oderberger Straße, die ein besonderes Anliegen war und die er jetzt schließlich in jahrelanger Bemühung durchgesetzt hat.

Bernd Holtfreter, der keiner Partei angehört hat, war seit 1995 Mitglied der Fraktion der PDS des Abgeordnetenhauses. Er war der bau- und wohnungspolitische Sprecher der Fraktion. Sein Engagement und seine sachorientierte parlamentarische Arbeit werden uns stets in guter Erinnerung bleiben. Unsere Anteilnahme gilt seiner Lebensgefährtin Frau Geisler und seinen beiden Kindern.

Meine Damen und Herren! Sie haben sich zum Gedenken an unseren verstorbenen Kollegen Holtfreter erhoben, ich danke Ihnen.

Es sind am Montag wieder vier Anträge auf Durchfüh-

rung einer Aktuellen Stunde eingegangen, und zwar alle zum Thema 1.-Mai-Krawalle:

1. Antrag der Fraktion der PDS und der SPD zum Thema: „1. Mai – mit Engagement der Bürgerinnen und Bürger Gewaltrituale durchbrechen“,

3. Antrag der Fraktion der FDP zum Thema: „Gewaltritual am 1. Mai – überforderter Senat lässt Bürger und Polizisten allein!“,

4. Antrag der Fraktion der Grünen zum Thema: „Der 1. Mai 2003 in Berlin zwischen MyFest, politischen Demonstrationen, Deeskalationsstrategie der Polizei und ritualisierter Gewalt“.

Die Fraktionen haben sich auf ein gemeinsames Thema verständigt, und zwar lautet dieses „ 1. Mai – Gewaltrituale durchbrechen“. Die Aktuelle Stunde wird wie immer unter dem Tagesordnungspunkt 2 aufgerufen.

Ferner weise ich auf die Ihnen vorliegende Konsens

liste und auf das Verzeichnis der eingegangen Dringlichkeiten hin. Sofern sich gegen die Konsensliste bis zum Aufruf des entsprechenden Tagesordnungspunktes kein Widerspruch erhebt, gelten die Vorschläge als angenommen. – Über die Anerkennung der Dringlichkeit wird dann wieder jeweils an entsprechender Stelle der Tagesordnung entschieden.

Sodann habe ich Ihnen die folgenden Abwesenheiten

von Senatsmitgliedern mitzuteilen: Die Herren Senatoren Wolf und Strieder werden in der Zeit von 15 bis 18 Uhr abwesend sein, um an einer Konferenz der Wirtschafts- und Infrastrukturminister Ost teilzunehmen.

Herr Präsident! Sehr geehrte Frau Neumann! Die Forderung nach Kürzung der Ausbildungsvergütung ist nicht neu, sondern sie ist immer wieder zu hören. Es wird damit argumentiert, dass die Höhe der Ausbildungsvergütung ein Ausbildungshindernis sei. – Die Ausbildungsvergütung ist je nach Branche sehr unterschiedlich. Insofern muss man das sehr differenziert betrachten. Im Übrigen zeigt alle Erfahrung, dass die Frage, wie viele Ausbildungsplätze von den Unternehmen bereitgestellt werden, weniger eine der Ausbildungsvergütung ist als vielmehr eine der Auftragslage. Somit ist dies stärker von der Konjunktur abhängig als von der Höhe der Ausbildungsvergütung. Insofern ist meine Einschätzung, dass eine Senkung der Ausbildungsvergütung – wie vom Deutschen Industrie- und Handelskammertag gefordert – nur sehr unwesentliche Effekte für die Verbesserung der Ausbildungsplatzsituation hätte. – Außerdem darf man in

der Diskussion nicht vergessen, dass Auszubildende – auch je nach Branche – einen erheblichen Beitrag zum wirtschaftlichen Erfolg von Unternehmen leisten.

Die Höhe der Ausbildungsvergütung ist in entsprechenden Tarifverträgen geregelt. Wenn Unternehmen und Unternehmerverbände der Auffassung sind, die Ausbildungsvergütung sei zu hoch bzw. unangemessen, dann müssen sie das mit den Tarifpartnern in Tarifverhandlungen besprechen. Dort muss Derartiges geregelt werden. Es handelt sich nicht um eine staatliche Angelegenheit, sondern eine der Tarifpartner. Ich würde begrüßen, wenn im Rahmen von Tarifverträgen zur Ausbildungsvergütung verbindliche Regelungen über Ausbildungsverpflichtungen von Seiten der Unternehmen aufgenommen würden, damit nicht nur auf der einen Seite gesagt wird, da müsse etwas gebracht werden, und auf der anderen Seite die Gegenleistung in Form der Bereitstellung von Ausbildungsplätzen nicht gewährleistet wird.

Zu Ihrer zweiten Frage: Die Tatsache, dass sich an dem heute zum zweiten Mal in Berlin stattfindenden Girls’ Day über 4 300 Mädchen beteiligen, ist eine deutliche Steigerung gegenüber dem Vorjahr mit 2 800 Mädchen.

(D Ich hoffe, dass wir im nächsten Jahr zu einer ähnlich hohen Steigerung kommen, denn es muss zu einer wirklichen Bewegung kommen. Heute Morgen habe ich in dem Gespräch mit den Mädchen, die ich zu mir in die Verwaltung eingeladen hatte, festgestellt, dass an den Schulen darüber nicht in dem notwendigen Maß informiert worden ist – mit Verlaub Herr Kollege Böger. Der Erfolg dieses Tages sollte und könnte noch viel größer sein.

Dann rufe ich auf

lfd. Nr. 1:

Fragestunde gem. § 51 der Geschäftsordnung

Es wurde vorgeschlagen, die Mündliche Anfrage Nummer 3 der Abgeordneten Holzheuer-Rothensteiner, die Nummer 7 der Abgeordneten Schultze-Berndt und die Nummer 10 der Abgeordneten Pop miteinander zu verbinden. Ich höre dagegen keinen Widerspruch, so dass wir so verfahren. Ich schlage Ihnen vor, dass wir neben den jeweils zwei möglichen Nachfragen der Antragstellerinnen noch weitere drei Nachfragen zulassen. Auch hierzu höre ich keinen Widerspruch.

Die Abgeordnete Simon und der Abgeordnete Sayan von der PDS haben ihre Fragen in der Reihenfolge getauscht. Sollten wir eine achte Frage haben, dann wäre dies die ehemalige Frage 13 des Abgeordneten Sayan.

Das Wort zur Mündlichen Anfrage Nummer 1 hat nun Frau Neumann von der SPD-Fraktion über

Kürzung von Ausbildungsvergütungen

Bitte schön, Sie haben das Wort!

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich frage den Senat:

1. Wie beurteilt der Senat den kürzlich geäußerten Vorstoß des Deutschen Industrie- und Handelskammertages für eine Kürzung der Ausbildungsvergütung als Anreiz zur Schaffung von neuen Lehrstellen?

2. Was tut der Senat neben der Unterstützung des Girls’ Days, um in den Schulen darauf hin zu wirken, Mädchen vermehrt auf bisher für sie atypische Berufe aufmerksam zu machen?

Danke schön, Frau Kollegin! – Zur Beantwortung hat der Wirtschaftssenator das Wort. – Bitte, Herr Wolf!

[Beifall bei der SPD, der PDS, der FDP und den Grünen – Beifall der Frau Abg. Grütters (CDU)]

Ansonsten stimme ich Ihrem Anliegen völlig zu, dass Mädchen in frauenuntypischen Berufen unterstützt werden müssen. Das ist keine Aufgabe für nur einen Tag, sondern muss kontinuierlich erfolgen. Es gibt eine Reihe kontinuierlich laufender Maßnahmen an den Schulen, beispielsweise die Vorbereitung auf die Berufswahl in den 9. und 10. Klassen in allen Schulformen. Diese soll insbesondere dazu motivieren, Praktika in geschlechtsuntypischen Berufen wahrzunehmen. Zudem werden Studien- bzw. Projekttage zur schulischen Berufsorientierung von Jungen und Mädchen durchgeführt. Es gibt die Organisation des Unterrichts in geschlechtsdifferenzierten Gruppen in den Fächern Biologie, Mathematik, Physik, Chemie und Arbeitslehre. Es gibt Tage der offenen Tür in den naturwissenschaftlichen Abteilungen der Universitäten und wissenschaftlichen Institute und Ansätze zur Aufarbeitung geschlechtsspezifischer Rollenklischees im Unterricht – auch auf der Grundlage spezifisch entwickelter Unterrichtsmaterialien, wie beispielsweise dem Material „Mädchen sind anders – Jungen auch“. Außerdem gibt es regelmäßige Hinweise an die Schulen auf die Bedeutung der Problematik und die Notwendigkeit der regelmäßigen Aufnahme in das Unterrichtsangebot.

Herr Senator! Der Senat hat im Jahr 2002 darauf verzichtet, seine Ausbildungsmittel in einer Größenordnung von 20 Millionen € auszuschöpfen, und damit auch auf 1 600 Ausbildungsplätze in seinem ureigensten Zuständigkeitsbereich, im öffentlichen Dienst, und damit ebenfalls – wenn man das einmal zu Ende rechnet – auf mindestens 800 Ausbildungsplätze, die jungen Frauen hätten zugute kommen können. Halten Sie dieses angesichts der dramatischen Ausbildungssituation in Berlin für junge Männer, aber auch insbesondere für junge Frauen, für richtig?

Sehr geehrte Frau Klotz! Der öffentliche Dienst im Land Berlin bildet immer noch über Bedarf und überdurchschnittlich aus. Vor diesem Hintergrund und vor dem Hintergrund der Tatsache, dass das Land Berlin in den Berufen, die nur für den öffentlichen Dienst qualifizieren, nicht weiter ausbilden kann, da wir hier in der nächsten Zeit keinen Bedarf haben werden, halte ich das zwar für bedauerlich, aber eine den Realitäten des Landes Berlin entsprechend.

Eine Nachfrage des Kollegen Schruoffeneger – bitte schön!

Sie sehen, dass es eine Reihe von Initiativen gibt. Das bedeutet jedoch nicht, dass wir nicht noch aktiver werden müssten. Ich hoffe, dass von dem heutigen Girls’ Day eine stärkere öffentliche Wahrnehmung und starke Impulse ausgehen.

Danke, Herr Senator! – Bitte, Frau Kollegin Neumann, Ihre Nachfrage!

Die Berufswahl ist nach wie vor geschlechtstypisch, was mit geringeren Löhnen für die von Mädchen gewählten Ausbildungsgänge verbunden ist. Wie können Sie als Senator dagegen angehen, dass Mädchen schlechter bezahlt werden? – In weiblichen Berufsfeldern darf es keine schlechtere Bezahlung geben – zumal bei gleicher Qualifikation wie in männlichen Berufsfeldern. Denn es ist festzustellen, dass Mädchen bessere Qualifikationen und Schulabschlüsse haben als Jungen.

Bitte, Herr Senator Wolf!

Ich sagte bereits in der Beantwortung Ihrer ersten Frage, dass es branchenspezifisch sehr unterschiedliche Ausbildungsvergütungen gibt. Gerade in den frauentypischen Berufsfeldern sind die Ausbildungsvergütungen und Entlohnungen in der Regel niedriger. Dieser Zustand bedarf der Änderung. In diesen Bereichen ist eine Diskussion des ohnehin schon niedrigen Niveaus der Ausbildungsvergütung ausgesprochen kontraproduktiv. Ich glaube – wie bereits gesagt – nicht, dass von der Absenkung der Ausbildungsvergütung ein nennenswerter Effekt auf die Bereitstellung zusätzlicher Ausbildungsplätze ausgeht. Hier gibt es andere Hemmnisse, die insbesondere in der konjunkturellen Lage begründet sind. Die Erhöhung der Ausbildungsgebühren bei der Industrie- und Handelskammer Berlin ist sicherlich ein Punkt, den man an erster Stelle nennen müsste, wenn man über Ausbildungsvergütung und mögliche finanzielle Ausbildungshindernisse diskutiert.

Ansonsten ist das Thema, das Sie angesprochen haben, ein grundsätzliches Problem der ungleichen Bezahlung für gleichwertige Arbeit. Hier muss es darum gehen, zu einer gesellschaftlichen Aufwertung und auch zu einer Aufwertung in der Tarifstruktur frauenspezifischer Berufen zu kommen. Insofern kann ich nur begrüßen, dass es bei allen Diskussionen, die wir zur Zeit mit Verdi führen, auf Seiten von Verdi im Bereich des BAT eine Debatte gibt, dass frauentypische Berufe anders bewertet und frauentypische Tätigkeitsmerkmale anders eingruppiert werden. Es ist nach wie vor ein Unding, dass nach dem BAT ein Elefantenpfleger besser bezahlt wird als eine Krankenschwester.

[Beifall bei der SPD und der PDS]

Frau Neumann hat keine weitere Nachfrage. Dann ist Frau Dr. Klotz mit einer Nachfrage an der Reihe. – Bitte schön, Frau Dr Klotz!