Protokoll der Sitzung vom 08.05.2003

lfd. Nr. 8:

I. Lesung

Gesetz zur Neustrukturierung der gymnasialen Oberstufe

Vorlage – zur Beschlussfassung – Drs 15/1567

Als Problem wird eine zu lange Schulzeit festgestellt. Diese Erkenntnis begrüßen wir ausdrücklich.

[Frau Dr. Hiller (PDS): Hört, hört!]

Ein Verkürzung der Schulzeit fordert die CDU seit Jahren

[Brauer (PDS): Was? – Weitere Zurufe von der PDS]

allerdings nicht so halbherzig wie hier. Seien Sie doch mutig und verkürzen Sie die Schulzeit auf 12 Jahre! Wagen Sie die Verkürzung der Grundschule auf vier Jahre!

[Mutlu (Grüne): Und IGLU und PISA!]

Wie setzen Sie Ihre Erkenntnis über eine zu lange Schulzeit in dem Schulgesetz um, wo Sie vorschlagen, Schüler in der flexiblen Schulanfangsphase in bis zu drei Jahren zwei Schuljahre durchlaufen zu lassen?

Sie schlagen in dem vorliegenden Gesetzentwurf eine Verkürzung der Schulzeit auf zwölfdreiviertel Jahre vor. Die Schüler können damit ab 1. April ihre Ausbildung beginnen oder studieren – vorausgesetzt, Ausbildungsbetriebe oder Universitäten stellen sich um, was sich längerfristig sicherlich machen ließe. Sie verkürzen die Schulzeit aber ausgerechnet auf Kosten der Fächer Mathematik und Naturwissenschaften.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das wird wohl die ganze Legislaturperiode anhalten, macht aber nichts, da Frau Flesch auch eine sehr nette Kollegin ist. – Die hier eingebrachte Vorlage ist ein Vorschlag des Senats zur Verkürzung der Schulzeit, wie wir sie in der Koalitionsvereinbarung vorgesehen haben. Es gibt also überhaupt keine Streitigkeiten in der Koalition, Frau Schulze-Berndt. Wir setzen dieses hier nur um.

Darüber, dass die Verweildauer der Schülerinnen und Schüler in der gymnasialen Oberstufe zu lang ist, herrscht Konsens. Die Kritik an der bisherigen Oberstufe manifestiert sich in zwei Punkten, erstens der Struktur in der 11. Klasse und zweitens den Unzulänglichkeiten im 4. Semester, vor allem dem zu langen Zeitraum zwischen den schriftlichen und mündlichen Prüfungen. Hier wurde schon lange der Ruf nach einer Verdichtung laut. Ich wiederhole es noch einmal. Es besteht also ein Konsens zur Verkürzung. Wir sind uns aber auch darüber einig, dass die sechsjährige Grundschule beibehalten werden muss.

Danke schön! – Die Koalitionsfraktionen sehen das Festhalten an der sechsjährigen Grundschule als bildungspolitisches Essential an.

Nachdem Sie die Ergebnisse der PISA- und der TIMMS-Studie lange genug beklagt haben, ziehen Sie nun Ihre Konsequenzen und verschlechtern die Ausbildung für Schülerinnen und Schüler weiter. Nachdem Sie die Arbeitszeit der Lehrer erst einmal um zwei bis vier Stunden erhöht haben, erhöhen Sie den Druck auf die Lehrer nun weiter durch verkürzte Korrekturzeiten für das Abitur. Zur Entlastung der Lehrer und aus grundsätzlichen Erwägungen fordern wir: Führen Sie endlich das Zentralabitur ein!

[Frau Dr. Hiller (PDS): Für alle Fächer? – Sagen Sie es doch deutlich!]

Die Lehrer von Abiturgruppen haben einen dreimonatigen Leerlauf vor den Sommerferien.

[Brauer (PDS): Das stimmt nicht ganz, Frau Kollegin! Ein bisschen was tun sie da schon! ]

Vielleicht wollen Sie sie in der Zeit als Saisonarbeiter für die Spargelernte in Brandenburg einsetzen. Schulorganisatorisch verursachen Sie jedenfalls Chaos.

Viele Fragen bleiben ungeklärt. Unklar ist, wie die Auslandsaufenthalte der Schülerinnen und Schüler künftig organisiert werden sollen. Sie fanden bisher in der 11. Klasse statt, und wir begrüßen und fördern sie als Bereicherung des Erfahrungshorizontes ausdrücklich. Unklar bleibt auch, ob es rechtzeitig gelingt, die Rahmenplaninhalte zu überarbeiten und zu verkürzen. Unklar bleibt des Weiteren, wie die Fortzahlung des Kindergeldes und ein Fortbestehen des Krankenversicherungsschutzes gewährleistet werden sollen, wenn die Schulabgänger fünf bis sechs Monate auf den Ausbildungs- oder Studienbeginn warten müssen. Sie können die Familien doch nicht noch mehr belasten.

[Frau Dr. Hiller (PDS): Da gibt es klare Regelungen!]

Wie ernst ist es Ihnen eigentlich mit Ihrem Entwurf, wenn Sie darin bereits verkünden, mit Brandenburg müsse man sich auf eine Schulzeit von zwölfeinhalb Jahren einigen? Beginnen wir dann demnächst mit dieser Diskussion von vorne?

Die SPD-Fraktion setzt dieser Diskussion und dem Warten auf eine Reform der Oberstufe die Krone auf, indem sie justament einen Tag vor der Parlamentsdebatte zu diesem Thema – nämlich gestern – eine Verkürzung der Schulzeit auf zwölf Jahre in die Diskussion einbringt. Chaotischer kann es nicht mehr gehen. Unser einziger Trost: Nachdem Sie sich in der großen Koalition solchen Vorschlägen der CDU standhaft verweigert haben, freuen wir uns sehr, dass Sie nun endlich eine Schulzeit von 12 Jahren anstreben. Diese unsere ureigenste Forderung unterstützen wir ausdrücklich, aber schreiben Sie sie doch auch gleich in Ihren Gesetzentwurf! – Danke schön!

[Beifall bei der CDU – Zuruf der Frau Abg. Schaub (PDS)]

Für die SPD-Fraktion hat Frau Flesch – nein: Frau Dr. Tesch das Wort. – Entschuldigung! – Bitte, Sie haben das Wort, Frau Dr. Tesch!

[Mutlu (Grüne): Das glauben Sie doch selber nicht!]

[Beifall bei der PDS – Vereinzelter Beifall bei der SPD]

[Frau Senftleben (FDP): „Heilige Kuh“ kann man auch sagen!]

Und es ist nach den Ergebnissen von PISA und jetzt der positiveren Analyse von IGLU bildungspolitisch unvertretbar, die Schülerinnen und Schüler noch früher als bisher zu separieren. Und damit, Frau Schulze-Berndt, stehen wir der Meinung der CDU diametral gegenüber. Wollen wir aber die Schulzeit verkürzen und die sechsjährige Grundschule beibehalten, so wurde uns bisher immer die KMK-Vorgabe von 265 Wochenstunden als Problem vorgehalten. Und hier muss im Hinblick auf die Fusion mit Brandenburg ernsthaft über neue Realisierungsmöglichkeiten innerhalb des bestehenden Schulsystems nachgedacht werden. Hier sind verschiedene Möglichkeiten denkbar. Eine Verstärkung des Unterrichts in der Sekundarstufe I kann nach den PISA-Ergebnissen auch nicht ein ganz falscher Weg sein. Hier muss der Übergang zwischen den einzelnen Schulformen möglich sein, um die Chancengleichheit zu sichern.

Es gibt übrigens, Frau Schultze-Berndt, auch keinen Widerspruch zwischen der Verkürzung der Schulzeit und der flexiblen Schuleingangsphase, weil erstens die Schülerinnen und Schüler früher eingeschult werden und es zweitens auch keine Rückstellungen mehr gibt.

Auch wenn wir eine weitergehende Lösung anstreben, lassen Sie mich doch einige Gegenargumente gegen den vorliegenden Gesetzesentwurf entkräften. Es stimmt nicht, dass niemand etwas von einer Verkürzung auf zwölfeinhalb Jahre hätte. Nach Auskunft der Berliner

Es handelt sich nämlich de facto um eine Ersparnis von 3 Monaten, und weder die IHK noch die Universitäten werden sich darauf einlassen. Sie werden ihre Zugangszeiten und Aufnahmeregelungen nicht umstellen – wenn die Unis dann überhaupt noch Studenten aufnehmen. Die Jugendlichen werden dann nicht mehr in der Schule herumsitzen, dafür aber zu Hause. Das ist das Ergebnis einer seit Oktober 2002 währenden Diskussion, an der sich nicht nur die Opposition in diesem Hause beteiligt hat – nein, alle: Eltern, Verbände, Gewerkschaften, Lehrer und vor allem auch die Schüler. Merkwürdigerweise kamen alle zu demselben Ergebnis: Diese Verordnung ist Schrott und gehört in die Tonne.

Die Abstimmung mit Brandenburg fehlte völlig. Als man dann kürzlich mal so darüber gesprochen hat, wurde wohl klar: Brandenburg hat für dieses Sparmodell überhaupt nichts übrig. Der Herr Reiche ist da offensichtlich mental etwas weiter. Aber egal, die allgemeine Kritik wurde nicht wahrgenommen, die Brandenburger wurden nicht ernst genommen, das Gesetz liegt vor und wird heute diskutiert, anschließend – Frau Dr. Tesch sagte es gerade – im Ausschuss. Das kostet Zeit, wie auch die Vorbereitung Zeit gekostet hat, Beamtenzeit.

Universitäten kann in den Fächern, die nicht von der ZVS vergeben werden oder nicht einem universitären NC unterliegen, durchaus im Sommersemester mit dem Studium begonnen werden.

[Frau Senftleben (FDP): Realitätsfremd!]

Außerdem können die männlichen Abiturienten sofort den Bundeswehr- oder Zivildienst antreten. Weiterhin sind auch Berufspraktika oder so genannte Schnupperkurse möglich, um die Zeit sinnvoll auszufüllen.

[Frau Senftleben (FDP): Das bringt´s!]

Berlin hat eine vergleichsweise hohe Zahl von Abiturientinnen, und dies ist auch in Ordnung so. Mit dieser Neuregelung soll ihre Zahl mindestens beibehalten, besser aber noch erhöht werden.

Ich fasse zusammen. Die Regierungskoalition hält an einer Verkürzung der Schulzeit fest. Die Senatsvorlage ist ein erster Schritt in die richtige Richtung. Wir werden sie in den Schulausschuss überweisen und mit den betroffenen Gruppen diskutieren. Ziel ist es, einen Beschluss im Rahmen des neuen Schulgesetzes zu fassen. Dort werden wir gemeinsam nach sinnvollen Lösungen suchen, die zum Wohl der Berliner Schülerinnen und Schüler sind. Da wir vorausschauend handeln wollen, muss im Sommer klar sein, wie die Neustrukturierung der gymnasialen Oberstufe aussieht, damit für die Betroffenen eine Planungssicherheit besteht. Ich bitte Sie daher um Überweisung in den Schulausschuss. – Ich danke Ihnen!

[Beifall bei der SPD und der PDS]

Danke schön! Für die FDP-Fraktion hat Frau Senftleben das Wort. – Bitte schön!

Frau Präsidentin! Meine Herren, meine Damen! Verehrte Kollegen und Kolleginnen! Ich habe bereits in der Plenarsitzung im September 2002 als Erste und zum ersten Mal in diesem Hause ausführlich Stellung zu dieser Neustrukturierung der Oberstufe bezogen. Und eins muss ich denn doch immerhin feststellen: Meinen damaligen Argumenten haben sich inzwischen sehr viele angeschlossen. Auch Sie, Herr Senator, und offensichtlich auch Sie, meine Damen und Herren von Rot-Rot, erkennen die Notwendigkeit einer Verkürzung. Schauen wir uns den ersten Satz in dieser Begründung der Gesetzesvorlage an:

Eine Verkürzung der Schul- und Ausbildungszeit ist gerade auch für Abiturienten nicht zuletzt auf Grund des Vergleichs mit anderen Staaten der EU erforderlich.

Jetzt diskutiert Rot-Grün auf Bundesebene über die Erhöhung des Renteneinstiegsalters auf 67 Jahre. Sollten wir nicht eigentlich zunächst mal über die Kürzung der Ausbildungszeiten nachdenken? Und dazu gehören Schule und Universität. Also, ich sage, ein hehres, ein richtiges Ansinnen, eine Forderung im Übrigen, die die Berliner FDP seit dem Jahr des Herrn 1995 stellt.

Und nun sehen wir uns das Produkt mal etwas genauer an, und wir stellen fest: Nichts anderes als potemkinsche Dörfer sind hier errichtet worden.

[Beifall bei der FDP]

[Beifall bei der FDP – Vereinzelter Beifall bei der CDU]

Und nun wissen wir seit gestern, dass der Erkenntnishorizont des Senators und der Koalition sich schlagartig erweitert hat. Wir wissen nämlich, dass es einen neuen rot-roten Vorstoß gibt, das Abitur nach 12 Jahren zu absolvieren. Und wir wissen auch, und das finde ich das Allerschärfste, dass der Herr Senator schon immer für 12 Jahre war, nach dem Motto: Stellen Sie sich vor, Herr Böger ist für eine zwölfjährige Schulzeit, und keiner weiß es. Und da frage ich mich: Verehrter Herr Böger, wo ist Ihr Engagement im letzten Dreivierteljahr geblieben, wenn Sie schon immer für 12 Jahre Schulzeit waren?