Protokoll der Sitzung vom 12.06.2003

[Beifall bei der FDP]

[Eßer (Grüne): Aber nur bei der Wirtschaft, nicht bei den Bürgern!]

Der Kollege Hahn hat sich dazu beredt geäußert.

[Beifall bei der FDP – Zuruf des Abg. Wieland (Grüne)]

Das ist gar kein Grund für Aufgeregtheit.

[Beifall bei der FDP]

[Beifall bei der FDP – Vereinzelter Beifall bei der CDU]

Wir sind uns aber auch darüber im Klaren, dass es einen zusätzlichen Feiertag in Deutschland nicht geben kann, ohne dass das kompensiert wird. Wir haben eine erhebliche Belastung der Wirtschaft und eine Vielzahl von Urlaubs- und Feiertagen auch im internationalen Vergleich. Wenn wir in die Debatte eintreten, ob wir den 17. Juni wieder zum Feiertag machen, müssen wir deshalb darüber nachdenken, einen anderen Feiertag zu einem Gedenktag zu machen, der nicht arbeitsfrei ist. Wir schlagen Ihnen den 1. Mai hierfür vor.

[Beifall bei der FDP – Heiterkeit bei der PDS – Klemm (PDS): Können wir nicht Weihnachten nehmen? Oder Neujahr! – Brauer (PDS): Unsinn! – Liebich (PDS): Bisher war es eine ernsthafte Debatte!]

Der 1. Mai hat im Gegensatz zum 17. Juni über die Jahre seine Bedeutung eingebüßt. Er ist denaturiert von einem Tag der Arbeit zu einem Tag der Funktionäre. Ich möchte das jetzt nicht in eine Polemik abgleiten lassen,

[Heiterkeit bei der SPD, der PDS und den Grünen – Vereinzelter Beifall bei der PDS]

was da vor allem am letzten 1. Mai an uns vorbeigezogen ist. Ich hatte darüber bereits berichtet: Statt der angemeldeten 20 000 Arbeitnehmer waren 4 000 gekommen – vorwiegend Gewerkschafter, Politiker und andere Funktionäre.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Lindner! Ich hatte erwartet, dass Sie eine Begründung bringen, warum wir an dem 3. Oktober als Feiertag festhalten. Das war ja damals auch schon umstritten. Er ist festgelegt worden. Auch damals ist ein Vergleich mit den europäischen Nachbarländern angestellt worden, die eben die Volkserhebung – die Ursache dessen, was danach kam, zum Gedenktag gemacht haben – und nicht den Akt der Unterschrift. Das ist typisch preußisch oder deutsch. Man kann auch sagen, es ist die Angst vor Volksbewegung und Revolution, die unsere Geschichte begleitet. Dazu haben Sie kein Wort gesagt. Statt dessen kommen Sie mit der ollen Kamelle der Gewerkschaftsfeindlichkeit der FDP. Angesichts der Tradition und der Geschichte der Arbeiterbewegung sollten Sie die Gewerkschaften ein bisschen mehr achten. Den 17. Juni und den 1. Mai gegeneinander ausspielen! Ich sage Ihnen noch einmal: Das hat nichts miteinander zu tun. Das ist absurd.

[Gaebler (SPD): Wir müssen noch einmal über den Champagner reden!]

Ich glaube, Herr Sommer, Frau Engelen-Kefer, Herr Bsirske und andere brauchen keinen eigenen Feiertag.

[Beifall bei der FDP]

Herr Kollege Cramer! Ich möchte keine Missverständnisse aufkommen lassen. Ich bin der Letzte, dem man Gewerkschaftshass nachsagen kann.

[Heiterkeit bei der SPD, der PDS und den Grünen]

Es kann überhaupt keine Rede davon sein, und deswegen kommt es mir auch überhaupt nicht in den Sinn, zu sagen: Der 1. Mai wird keine Bedeutung mehr haben! – Selbstverständlich wird er auch nach unserer Auffassung eine Bedeutung haben, und man kann darüber nachdenken – alternativ –, den Tag der Arbeit am ersten Sonntag im Mai zu feiern oder die Arbeitgeber zu verpflichten, Arbeitnehmer, die an Veranstaltungen teilnehmen wollen, von der Arbeit an dem Tag zu beurlauben.

[Zuruf des Abg. Over (PDS)]

Das ist beim Buß- und Bettag genauso gemacht worden. Ich darf das an der Stelle einmal in Erinnerung rufen: Der wurde zur Finanzierung der Pflegeversicherung als Feiertag abgeschafft, und zwar als einziger ausschließlich evangelischer Feiertag für Millionen evangelischer Christen.

[Over (PDS): Die evangelischen Christen feiern auch Ostern!]

Dieser Feiertag wurde abgeschafft, obwohl er als Feiertag eine längere Tradition hat als der 1. Mai, der erst 1933 zum Feiertag gemacht wurde. Die Debatte darf deswegen nicht verboten sein – vor dem Hintergrund, dass wir eben auch an dieser Stelle ohne Weiteres einen solchen sehr tradierten Feiertag in Deutschland geopfert haben.

Ich freue mich, dass ich in dieser Debatte „17. Juni statt 1. Mai!“ nicht nur Beistand aus meiner eigenen Fraktion und Partei habe. Nicht nur der Vize-Vorsitzende der FDP, Rainer Brüderle, ist dem beigetreten,

[Nolte (SPD): Ach!]

sondern auch der – wohl unstreitig – sehr renommierte Historiker Arnulf Baring hat dem beigepflichtet. Und auch aus anderen Parteien kam Zustimmung. Der stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag, Michael Glos, hat nun gesagt, in einer Abwägung zwischen dem 17. Juni und dem 1. Mai müsse man dem 17. Juni den Vorzug geben.

[Zurufe von der PDS – Unruhe]

Vor allem freut mich aber, dass spontan über 60 % der Leser der größten Berliner Zeitung ihre Zustimmung zu diesem Vorschlag geäußert haben. Daran kann man wieder einmal sehen, dass die Bürgerinnen und Bürger Berlins auch in dieser Frage durchaus weiter sind als ein Großteil der Mitglieder dieses Hauses.

[Beifall bei der FDP]

Die Debatte ist angestoßen, und so schnell kriegen Sie die auch nicht wieder weg.

[Heiterkeit bei der SPD, der PDS und den Grünen]

Kämpfen Sie mit uns für den Tag der Freiheit!

[Beifall bei der FDP – Vereinzelter Beifall bei der CDU – Frau Simon (PDS): Nieder mit dem 1. Mai! – Zuruf von der PDS: Voll daneben! – Weitere Zurufe]

Ich bitte nun um Aufmerksamkeit für den nächsten Redner. Das Wort hat der Abgeordnete Cramer. – Bitte schön!

[Beifall bei den Grünen, der SPD und der PDS – Zuruf des Abg. Dr. Lindner (FDP)]

Eigentlich ist die zweite Runde ein bisschen überflüssig geworden. Die erste Runde hatte Niveau – von allen Rednern.

[Vereinzelter Beifall bei der SPD und der PDS]

Alle haben sich angestrengt, die Würde dieses Tages zu veranschaulichen. Jetzt ist die Debatte abgeglitten. Wir würdigen den 50. Jahrestag des 17. Juni, und einige haben nichts anderes vor, als auch an diesem Tag und zu diesem Gedenken ihr billiges, parteipolitisches Süppchen zu kochen.

[Beifall bei den Grünen, der SPD und der PDS – Dr. Lindner (FDP): Jetzt hört es aber auf!]

Deshalb möchte ich noch einmal meine Bitte äußern. Wir haben einen gemeinsamen Antrag. Das ist positiv an diesem Tag. Dem haben alle Fraktionen dieses Hause zugestimmt. Jetzt bitte ich Sie, diesem Antrag auch zuzustimmen. – Herzlichen Dank!

[Beifall bei den Grünen, der SPD und der PDS]

Freiheiten – das möchte ich als Schluss sagen, allen ins Ohr –, die nicht immer wieder erkämpft werden, gehen zugrunde. Sie reduzieren sich auf Verhaltensformen, auf Rituale. Davon sind alle Parteien betroffen, da kann sich niemand herausnehmen und meinen, er hätte die Freiheit besonders gepachtet. Die Freiheitsrituale gehen zugrunde, wenn sie nicht immer wieder gepflegt werden und wenn dieses Wollen nicht politisch seinen Ausdruck findet. – Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit!

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Jungnickel! – Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Die Aktuelle Stunde hat damit ihre Erledigung gefunden.

Ich lasse jetzt über den Entschließungsantrag aller 5 Fraktionen zum 50. Jahrestag des 17. Juni 1953 abstimmen, das ist die Drucksache 15/1766. Wer diesem Antrag seine Zustimmung zu geben wünscht, den bitte ich um das Handzeichen! – Die Gegenprobe! – Enthaltungen? – Dann ist dies mit einer Enthaltung von der überwältigenden Mehrheit des Hauses so angenommen.

Als Letzter in der Rednerrunde erhält der fraktionslose Kollege Herr Dr. Jungnickel das Wort. – Bitte schön!

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Cramer! Ich werde Ihnen Folge leisten und beim nächsten Mal zum Ende der ersten Runde sprechen.

[Heiterkeit]

Freiheit – persönliche Freiheit – ist ein Grundrecht. Das Bedürfnis nach Freiheit ist ein originäres Bedürfnis jedes Menschen. Die reale Freiheit aber und der Gebrauch von Freiräumen und Freiheiten sind ein Kunstprodukt – und außerdem auch noch ein labiles Kunstprodukt. In dem Moment, wo Freiheit erworben worden ist, gibt es Strukturen, die diese Freiheit von vornherein wieder eingrenzen und abbauen. Jeder von Ihnen erlebt das im eigenen Leben immerfort, dass er diese Freiheiten auf dem Papier hat, sie aber nicht ausüben kann, weil ihre Begrenzungen strukturell bedingt sind.

Wir haben gestern – das ist bereits häufiger erwähnt worden – diese Veranstaltung zum 17. Juni in diesem Hause gehabt. Der Präsident dieses Hauses hat eingeladen. Der Bundesratspräsident und Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, Herr Böhmer, hat die Rede gehalten. Frau Maischberger hat moderiert. Es ist mir nicht entgangen – und darauf sollten alle achten, die sagen, es habe keinen Sinn, solche Veranstaltungen zu machen –, dass zwei Dinge passiert sind: Zum einen waren die Parteien gestern zwar repräsentativ, aber sehr spärlich vertreten, und der Senat war überhaupt nicht zu sehen. Zum anderen zeigten sich bei denjenigen – das gilt auch für die anwesenden Vertreter der PDS –, die diese Geschichte erlebt und vor allem den ersten Beitrag des Betroffenen gehört haben, sehr wohl Spuren. Dabei wurden anscheinend doch Gedankenprozesse ausgelöst, die man ernst nehmen muss.

Insofern finde ich es nicht richtig, dass jetzt nach der Art „Herr Lehrer, ich weiß was!“ gesagt wird, wer der bessere oder schlechtere Demokrat ist. Ich habe festgestellt – und deshalb erwähne ich, dass die Beteiligung nur so gering war –, dass das Bewusstsein in der Bevölkerung insgesamt für diesen Tag deshalb so gering zu sein scheint, weil die Erziehungselemente verkümmert sind, die diesen Tag hervorheben sollten. Jedenfalls ist das mein Eindruck im Verlauf der letzten Jahrzehnte. Ich habe Gründe genug festzustellen, dass die Sehnsucht nach Freiheit im Osten größer war als und das Bewusstsein der Bedeutung der verschiedenen Freiheiten im Westen. Und das wird eigentlich nicht so richtig herausgearbeitet. Diese Freiheiten, die wir haben, sind durch Gewalt entstanden. Sie sind nicht durch Freiheitsbewegungen entstanden; 1945 durch das Eingreifen der Amerikaner in die kriegerischen Auseinandersetzungen. Das ist auch passiert durch den Zusammenbruch der Sowjetunion. Niemals hätte es in der DDR Freiheitserfolge gegeben, wäre dieses System nicht zusammengebrochen. Das ist auch der Hauptgrund für mich, weshalb ich mich für diesen Irak

krieg entschieden habe, nicht wegen der Waffen oder was da alles für Sekundärgründe angeführt worden sind, sondern hier ist mit Gewalt eine grausame Diktatur zerstört worden. Wir sind jetzt wieder dabei, uns sehr mit unserem Engagement zurückzuhalten, wenn in Afrika Völkermord betrieben wird.