Wir Berliner müssen sensibel sein. Die Hauptstadtfrage ist nicht primär eine Frage der Finanzen. Es ist eine Frage der politischen Kultur. Es ist eine Frage des politischen Bewusstseins. Wir haben jetzt die Chance, in einen breiten Dialog über die Hauptstadt, ihre Pflichten und ihre Rechte zu treten. Wir müssen den Dialog mit den Berlinern ebenso führen wie mit den Nichtberlinern. Ostberlin, wie es war, gibt es seit 1990 nicht mehr. Der Umbruch war nicht leicht. Vom alten Westberlin verabschieden wir uns in Wirklichkeit erst seit 2 ½ Jahren. Das ist für viele nicht weniger schmerzhaft.
Das neue Berlin ist anders. Es kann auch eine gute Hauptstadt werden. Es wird von allen Regionen Deutschlands etwas in sich haben und doch ganz anders sein. Ich freue mich darauf, denn eines ist klar: Die Lust auf Berlin wird nur der befördern, der mit Lust Berliner ist. – Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit!
Mit diesen dramatischen Worten hat Ernst Reuter seinerzeit vermocht, die Aufmerksamkeit auf unsere Stadt zu lenken, und er wurde erhört. Reuters Pathos ist uns heute fremd, und die historische Situation, in der wir uns befinden, ist auch nicht annähernd mit der von 1948 vergleichbar, aber dennoch: Auch wir stehen heute vor einem Abgrund, einem finanziellen und einem wirtschaftlichen. Darum rufen wir nach Hilfe von außen. Das ist in Wahrheit auch der Hintergrund unserer Hauptstadtdiskussion heute.
Nun ergeht der Ruf nicht mehr an die Völker der Welt, aber doch an die Länder der Bundesrepublik und an den Bund selbst. Werden wir gehört? Werden wir verstanden? Wie ist unser Image draußen im Land? – Die Reaktionen auf den Vorschlag des Regierenden Bürgermeisters, das Grundgesetz um einen Berlinpassus zu ergänzen, aber auch die ablehnende Haltung fast aller Bundesländer auf unser Klagebegehren in Karlsruhe machen deutlich, wie wenig entgegenkommend die Stimmung im Land in Wirklichkeit Berlin gegenüber ist. Ich zitiere Ernst Reuters Sohn, Edzard Reuter, aus dem Januar 2004:
Zugleich ist der Name Berlin in weiten Teilen der deutschen Bevölkerung zum Synonym für öffentliche Geldverschwendung, lähmenden Filz geworden.... Die Rolle als Hauptstadt setzt nach aller europäischer Tradition voraus, dass diese im ganzen Land als solche anerkannt wird, dass die Menschen stolz auf das in der Hauptstadt Besondere in dem Sinne sein können, es zugleich als Eigenes zu empfinden.
Heute schallt uns dagegen entgegen: Helft euch doch selbst! – Es rächt sich nun, dass die Stadt so wenig getan hat, um auf ihre wahre wirtschaftliche Lage hinzuweisen, dass sie sich angewöhnt hat, Probleme zu überdecken, zu übertönen durch Großmäuligkeit, phantastische Visionen und Projekte. Die Landespolitik trägt ihren Anteil an dieser Stimmung, und zwar einmal wegen der zahlreichen Fehler und Fehleinschätzungen der Vergangenheit, zum anderen, weil stets der politische Gegner für strukturelle Probleme verantwortlich gemacht wird. Das ist der Fluch der Wahlkämpfe. Wenn man einerseits den politischen
Gegner abqualifiziert und andererseits hochtrabende Versprechungen macht, man könne alle Probleme lösen, wenn man nur den Willen dazu aufbrächte, dann nährt man auch im Land die Illusion, die Stadt könne ihre Probleme selbst beheben.
Berlin kann seine Probleme aber nicht mehr allein lösen. Es ist die Frage, ob es dazu überhaupt irgendwann seit Kriegsende in der Lage gewesen ist. Ich werde versuchen, diese Frage zu beantworten, weshalb ich mich auch an die Bürger im Land wende, soweit sie dieser Debatte folgen, weil ich um Verständnis für Berlins Probleme werben möchte. Die Zukunft Berlins ist nicht nur ein Problem dieser Stadt, sondern eines unseres ganzen Landes. Das Bild, das die Hauptstadt abgibt, prägt das Bild des ganzen Landes und mehr noch, die Chancen, die eine funktionierende Hauptstadt unserem Land geben könnte, sind die Chancen unseres Landes im internationalen Wettbewerb. Das haben wir noch viel zu wenig verstanden.
Heute wird viel zu leicht über Berlin geurteilt: Die Probleme seien selbst verschuldet, die politischen Führungen der vergangenen Dekade hätten im Größenwahn schwelgend die finanzielle Katastrophe verursacht. – In dieser Aussage steckt mehr als das sprichwörtliche Körnchen Wahrheit. Doch wer die aktuelle Situation nur mit dem Handeln der vergangenen zwölf Jahre erklärt, wird nicht nur falsch urteilen, sondern auch zu falschen Schlussfolgerungen für die Zukunft gelangen. Berlins Probleme wurzeln tiefer, sie haben eine lange Vorgeschichte. Diese reicht weiter zurück als bis in die Zeiten der Teilung der Stadt. Das wird oft übersehen. Natürlich sind die spezifischen Strukturen West- wie Ostberlins auch heute noch ein Klotz am Bein der Gesamtstadt. Der aufgeblähte öffentliche Dienst, die hoffnungslos überschuldeten Wohnungsunternehmen beispielsweise, aber auch die kuscheligen Ecken einer weitflächigen „Sozialindustrie“ mit ihren zahlreichen öffentlich finanzierten Initiativen und Projekten lasten auf dem Landeshaushalt. Bis heute hat die Berliner Landespolitik die Kraft nicht aufgebracht, diese Strukturen auf das notwendige Maß zurückzuschneiden. Alle Senate, der gegenwärtige rotrote eingeschlossen, haben vor der Allmacht des öffentlichen Dienstes und des nicht minder großen quasi öffentlichen Dienstes kapituliert. Sie alle scheuten davor zurück, dem öffentlichen Dienst wirkliche Opfer abzuverlangen. Doch auch damit wäre das Problem der Unterfinanzierung Berlins noch nicht gelöst. Die Probleme haben ebenso wenig mit der Hauptstadtfunktion zu tun. Wer eine Antwort auf diese Frage sucht, muss die sozialen und wirtschaftlichen Realitäten in den Blick nehmen.
Berlin ist heute nicht nur eine arme Stadt, sondern auch eine Stadt armer Leute. Ich brauche die Zahlen nicht zu nennen. Wer über Berlins Perspektiven nachdenken will, muss sich über die Gründe und Ursachen der wirtschaftlichen und sozialen Probleme klar werden, denn die Finanznot ist noch nicht einmal Berlins Hauptproblem. Sie ist in Wirklichkeit nur das Symptom einer sehr viel
tiefer gehenden Krise. In Wahrheit ist nämlich Berlins Wirtschaftskraft viel zu gering für eine Stadt dieser Größe und dieser Einwohnerzahl. Dieser Zustand besteht jedoch nicht erst seit gestern, der Grund dafür liegt in der einzigartigen Geschichte dieser Stadt im 20. Jahrhundert. Ich muss darauf näher eingehen, weil dies viel zu selten geschieht und diese Argumentation im Hinblick auf die aktuellen Probleme viel zu wenig genutzt wird.
Berlin fallen erst jetzt, mit einer zeitlichen Verzögerung von über vier Jahrzehnten, die bitteren Folgen des 2. Weltkriegs auf die Füße. Die Stadt befindet sich seit Kriegsende national wie international in einer Randlage. Im Brennpunkt des Kalten Krieges erlebten beide Stadthälften eine Scheinblüte, sie waren jeweils Schaufenster der beiden konkurrierenden Gesellschaftssysteme. Ost- wie Westberlin waren wie zwei einander zugewandte potemkinsche Dörfer, künstlich aufrecht erhaltene Weltstadtfassaden zur Demonstration der Überlegenheit des jeweiligen Systems und zu diesem Zweck finanziert aus dem jeweils zuständigen Teil des geteilten Landes. So blieb es Berlin lange erspart, den Realitäten ins Auge zu sehen, zugleich aber auch verwehrt, auf ein wirtschaftlich tragfähiges Maß zu schrumpfen.
Um die Ursachen dafür zu verstehen, muss man den Aufstieg Berlins in den Blick nehmen. Wir alle wissen, dass Berlin im 19. Jahrhundert explosionsartig anwuchs, sich zur größten Industriestadt Mitteleuropas entwickelte. Berlin stand an der Spitze des technologischen Fortschritts, es war Verkehrsknotenpunkt, Drehscheibe, Anziehungspunkt für die aktiven, die wirtschaftlich dynamischen Teile des Landes. Es sammelte und band Talente, Unternehmer, Ingenieure, Techniker, Wissenschaftler, Finanziers, auch Arbeitskräfte für die zweite Phase der industriellen Revolution. Wer heute eine Hauptstadtrolle definieren möchte, kann sich durchaus am Berlin jener Jahre orientieren. Wer wissen will, was Berlin leisten könnte, kann auch diese Epoche in den Blick nehmen.
Mit dem Ende des 2. Weltkriegs entfielen beide Grundvoraussetzungen für den Aufstieg Berlins. Berlin blieb weder politisches noch – durch den Verlust der deutschen Ostgebiete – geographisches Zentrum. Die Stadt rückte an den Rand. Durch die Teilung des Kontinents und die Isolation vom Westen verlor sie schlagartig ihre wirtschaftliche Funktion. Die Abwanderung der Konzernzentralen von Siemens, AEG und Deutscher Bank sind markante Beispiele dafür. Andere sind die Allianz AG 1949, die Commerzbank 1958,
die Lufthansa, die Deutsche Post, die Veba, die Dresdner Bank, Osram, alle diese Unternehmen waren einmal gute Steuerzahler und sorgten für viel Beschäftigung. Will man den Bedeutungsverlust der Stadt ermessen, muss man sich vor Augen halten, dass die Stadt in den 20er Jahren drei Viertel aller Aktiengesellschaften Deutschlands und ein Drittel aller GmbHs beherbergte. Ich erwähne dies, weil gern verschwiegen wird, dass Wirtschaft und Industrie nach dem Krieg den Westteil der Stadt im Stich gelassen
haben. Das geschah nicht aus bösem Willen, sondern aus Vorsicht und klarer Erkenntnis der wirtschaftlich problematischen Randlage. In dieser Situation wäre eine drastische und kontinuierliche Schrumpfung der Stadt unvermeidlich gewesen. Unter den gegebenen politischen Umständen war eine solche Entwicklung jedoch unmöglich.
Der Westteil Berlins wurde 1948 während der Blockade Brennpunkt der Weltpolitik und zu einem Symbol für die Verteidigung der Freiheit und Selbstbehauptung des Westens. Die Bedrohung der Freiheit des Westteils der Stadt wurde zum Wendepunkt der amerikanischen Europapolitik. Die USA zogen sich nicht aus Europa zurück, sie blieben demonstrativ in Berlin und damit notwendigerweise auch in Westeuropa und sicherten nicht nur die Freiheit des halben Kontinents, sondern auch die Bedingungen für den wirtschaftlichen Wiederaufstieg Westeuropas und Westdeutschlands. Diese historische Tatsache ist heute ebenso aus dem Blick geraten wie die Bedeutung Berlins für die Wiedervereinigung des Kontinents. Ohne die prinzipielle Offenheit der politischen Situation wäre die Entfremdung des Ostens vom Westen sehr viel schneller, gründlicher und damit endgültiger gewesen. Deutschlands Teilung wäre zementiert gewesen, so wie die Koreas es noch heute ist. Berlin hielt die deutsche Frage offen, für den Osten wie für den Westen.
Wir in Berlin haben viel erbracht für die Wiedervereinigung und die Sicherheit des Kontinents. Das kann einen historischen Anspruch der Stadt auf Unterstützung durch den Rest des Landes legitimieren.
Berlin steht heute vor einer klaren Alternative: Entweder die Stadt entschließt sich, auf das für sie erträgliche Maß zu schrumpfen oder sie versucht in einer einzigartigen Anstrengung, schnell Wirtschaftskraft an die Stadt zu binden oder aufzubauen. Während die erste Alternative ohne historisches Beispiel ist, erfordert die zweite Investitionen; Investitionen, für die wir heute kein Geld haben. Eben deshalb brauchen wir die Unterstützung unseres Landes, wir brauchen die Solidarität aller Bürger in Deutschland. Die herbeizuführen, ist heute die Aufgabe eines Regierenden Bürgermeisters. Er muss für Berlin werben, damit es ein Zentrum für unser Land sein kann.
Ich komme sofort zum Ende. – Das ist die vornehmste Aufgabe eines Regierenden Bürgermeisters. Herr Wowereit, Sie müssen in die Schuhe eines Ernst Reuters wachsen,
damit Berlin diese Chance wahrnehmen und die Solidarität des ganzen Landes erfahren kann. – Vielen Dank für die Aufmerksamkeit!
Vielen Dank, Herr Kollege Hahn! – Für die Fraktion der Grünen folgt der Kollege Ratzmann. – Bitte schön!
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wollte man den Berliner Senat in eine politische Kategorie einordnen, wäre die Bezeichnung Regierung nicht in der Aufzählung – gleicht sein Handeln doch mehr dem Aktionismus einer chaotischen Spontigruppe als plan- und verantwortungsvollem Regierungshandeln.
Mal sind es die Ausbrüche des heimlichen Regierenden Bürgermeisters Sarrazin, die die Stadt erfreuen, mitunter – wenn auch selten – politische Vorschläge des gewählten Regierenden.
Lange haben wir darauf gewartet, dass er sich in der Hauptstadtfrage bewegt. Spätestens seit der Diskussion um die Einsetzung der Föderalismuskommission hätte das Thema ganz oben auf der politischen Agenda stehen müssen. Und dann, just als wir Grünen einen eigenen Vorschlag ankündigten, platzte es aus ihm heraus: Die Hauptstadt muss ins Grundgesetz. – Kein Wunder, dass keine Zeit blieb, um das Abgeordnetenhaus über diesen Vorstoß in der Kommission zu informieren. Verständlich, wenn auch durchaus mitverschuldet und etwas überzogen, ist die säuerliche Reaktion unseres Präsidenten.
Ich habe hier im Hause mehrfach angeboten, die Diskussion über die Arbeit der Föderalismuskommission zu führen, Informationen zu vermitteln und Positionen abzustimmen. Herr Liebich – ich sage das bewusst in Ihre Richtung –, augenscheinlich wird das hier im Hause nicht gewollt. Dennoch wiederhole ich ausdrücklich mein Angebot zur Zusammenarbeit und Abstimmung. Es ist – darauf hat Herr Momper zutreffend hingewiesen – an dieser Stelle einfach borniert, das parteipolitisch kleinkarierte Hickhack zu pflegen.
Der Vorschlag von Ihnen allerdings, Herr Regierender Bürgermeister, die Hauptstadt ins Grundgesetz zu schreiben und darüber hinaus nichts weiter zu unternehmen, ist zu oberflächlich. Ihm fehlt die politische Botschaft, das Neue. Aber der Vorschlag ist immerhin da, und das ist wohl das Beste, was man über Ihre Spontiaktion sagen kann. Gut, dass Sie endlich mitmachen und auf den Zug aufgesprungen sind. Für die Lokomotive, als die Sie eigentlich gewählt sind, reicht es aber wieder einmal nicht.
Was enthält Ihr kleiner Brief an die Kommission? – Substanz nicht. Sage und schreibe ein langer, detaillistischer Sermon ist zur Hauptstadt knapp über der Bundesflagge in Artikel 22 platziert. Die Länder kommen in
Ihrem Vorschlag überhaupt nicht vor. Wir wissen, dass Sie Druck hatten, nicht der Letzte zu sein. Die Bundesjustizministerin hat zu Ihrem Schnellschuss bereits das Nötige gesagt. So geht das nicht.
Denn wieder einmal fehlt das politische Konzept hinter Ihrer Idee völlig. Es gilt, dazu endlich seriöse Vorschläge auf den Tisch zu legen.
Herr Momper hat bereits erwähnt, dass ich zusammen mit Frau Künast ein Thesenpapier erstellt und es in die Föderalismuskommission eingebracht habe. Lesen Sie es, und lassen Sie es uns zur Grundlage einer Diskussion machen!
Wir hätten uns gewünscht, dass auch Sie den Bürgerinnen und Bürgern der Bundesrepublik dazu etwas zu sagen gehabt hätten. Das Erste wäre gewesen, dass Berlin seine Hausaufgaben machen wird, dass Berlin sich anstrengen wird, die Finanzmisere zu lösen. Denn die Finanzmisere ist in erster Linie Sache dieser Stadt. Es ist Ihre Aufgabe, deutlich zu machen, dass Berlin in der Lage ist, hausgemachte Finanzprobleme, die uns die große Koalition, an der Sie immerhin beteiligt waren, und die Kohlregierung eingebrockt haben, zu lösen, und zwar unabhängig von der Rolle und der Funktion der Hauptstadt im föderalen Staat.
Herr Zimmer, ich habe feststellen müssen, dass leider auch Sie der Versuchung erlegen sind, das Finanzielle in den Vordergrund zu stellen. Das ist der falsche Weg. Das ist genau das, was uns die anderen Länder vorwerfen werden. Denn wesentliche Vorbedingung für eine grundgesetzliche Verankerung einer Hauptstadtregelung ist, dass wir klarmachen, dass wir in der Lage und willens sind, die Finanzprobleme Berlins zu lösen.
Herr Wowereit und Herr Zimmer, passen Sie auf, dass Sie mit dem einfachen Argument, Berlin wolle über die Hauptstadtfrage die eigene Verantwortung abschieben, nicht Türen zuschlagen lassen. Sie machen es den bürgerlichen Fundis, die im Bundesrat gerne alles verhindern, was wichtig ist und Zukunft heißt, sehr leicht.
Deshalb müssen wir offensiv auf die Länder zugehen und eine Einladung formulieren. Wir wollen mit ihnen über die Funktionen einer Hauptstadt im föderalen Staat diskutieren. Wir müssen gemeinsam klären, wie Berlin die Bundesrepublik im 21. Jahrhundert repräsentiert, und zwar nach innen und nach außen.