Protokoll der Sitzung vom 17.03.2004

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Senator! Ich gebe neidlos zu: Sie tragen keinen Konfirmationsanzug, aber passen muss der Anzug auch, und den Eindruck hat man bei Ihnen nicht immer, Herr Senator Böger!

[Heiterkeit – Beifall bei der CDU]

Die Konfirmation ist bei Ihnen auch schon lange her.

Jugendhilfe ist auch ein sozialer Indikator. In Berlin haben wir nicht nur vergleichsweise hohe Ausgaben, weil wir die Mittel bedenkenloser verteilen, sondern auch, weil es andere Problemlagen gibt. Die Stadt ist stärker von Arbeitslosigkeit betroffen als andere Städte. Viele Familien erhalten Sozialhilfe, für viele Kinder und Jugendliche ist ein Familienleben ohne geregelten Tagesablauf, ohne eine Aufgabe oder ein Beschäftigungsverhältnis ihrer Eltern normal. Hinzu kommt, dass immer mehr Jugendliche selbst von Ausbildungsplatz- und Arbeitsplatzmangel betroffen sind. Es geht heute aber auch um Kinder aus ganz normalen Familien, die vielleicht auch Probleme haben, beispielsweise in der Rechtschreibung. Nicht jedes Kind mit einer Leserechtschreibschwäche muss später im Berufsleben scheitern, wenn ihm rechtzeitig geholfen wird. Es gibt eindeutige fachliche Standards, was als Leserechtschreibschwäche gilt und was nicht. Die Bezirke haben nun aber in Ermangelung landesweiter Vorgaben einfach eigene Standards festgelegt. Insofern haben Sie Unrecht, Herr Böger. In dem einen Bezirk gilt als hilfebedürftig, wer weniger als 5 % seiner Mitschüler lesen und schreiben kann und im nächsten Bezirk nur, wer weniger als 3 % seiner Mitschüler lesen und schreiben kann. Das gleiche uneinheitliche Bild zeigt sich bei Jugendlichen mit anderen Problemen, beispielsweise leichteren Verhaltensstörungen.

Bei der ersten Kürzung der Jugendhilfe 2002/2003 musste der Senat in einem Bericht feststellen, dass die Kürzungen nicht so schnell umzusetzen seien wie geplant. Kurzfristig sei es schwierig

Hilfen, die mit einem individuellen Rechtsanspruch verbunden sind, umzuwandeln oder zu beenden.

Hier wird ganz deutlich, Herr Senator Böger, dass es auch ihr Ziel ist, Rechtsansprüche auf erzieherische Hilfen restriktiv auszulegen und gegebenenfalls einen Rechtsanspruch erst einmal zurückzuweisen und nur im Ausnahmefall wieder eine umfassende Hilfeplanung zu veranlassen.

Herr Kollege! Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Rabbach?

Sehr gern!

Dann muss er schnell reden!

Bitte schön, Herr Kollege Steuer! – Fahren Sie fort!

Ich will den Bildungs- und Jugendsenator gern vieles fragen, wenn er weiterhin, so, wie er es in diesem Jahr getan hat, wieder regelmäßig an den Ausschusssitzungen teilnimmt. Ich gehe davon aus, dass wir fleißig in das Gespräch kommen werden.

[Gram (CDU): In seinem Alter ermüdet man schneller!]

Die Bezirke haben leider keine andere Wahl gehabt, als die Jugendlichen aus dem Blickfeld zu verlieren und angesichts der Einsparvorgaben mehr an den Haushalt als an die Jugendlichen zu denken. – Eines hat die Beantwortung unserer Anfrage auch deutlich gemacht: Herr Böger, Sie haben keine Vorstellungen von den Realitäten in den Bezirken. Die Zahlen zeigen deutlich, dass die Einsparungen keinen nachvollziehbaren Kriterien gefolgt sein können. 3 000 Jugendliche – sagten Sie soeben – haben in 2003 keine Hilfe mehr erhalten. Tatsächlich entsprechen die bisherigen Erfahrungen mit den Einsparungen der bezirklichen Jugendämter den schlimmsten Befürchtungen. Statt Neuorientierung zur Stärkung ambulanter Bereiche sind diese Maßnahmen um 20 % gekürzt worden.

Herr Kollege! Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Matz?

Nein! Ich bin der Meinung, dass eine Zwischenfrage genügt.

[Doering (PDS): Eine gestellte Zwischenfrage!]

Dann fahren Sie bitte fort!

Wer einen Rechtsanspruch auf erzieherische Hilfen hat, muss diesen auch bekommen. Es kann nicht sein, dass das Land Berlin den Bezirken nach Lust und Laune die konkrete Ausgestaltung des Kinder und Jugendhilfegesetzes überlässt. Die einen Bezirke machen dies, und die anderen Bezirke machen das. Das haben Sie in einem Bericht auch aus dem letzten Jahr zugegeben, Herr Senator Böger. Was hat sich seitdem geändert?

Wir brauchen eine Umstellung auch der Hilfen zur Erziehung, auf eine Sozialraumorientierung. Die soziale Struktur der Kinder und Jugendlichen eines Sozialraumes muss gemäß den Sozialkriterien mit Jugendeinrichtungen und Hilfemaßnahmen ausgestattet werden. Dabei müssen alle Mittel präventiv ausgerichtet werden. Jugendeinrichtungen sind ambulanten Maßnahmen vorzuschalten. Ambulante Maßnahmen sind der Heimunterbringung vorzuziehen. Hierzu können auch die soziodemographischen Daten aus der Ermittlung der Zumessung der Hilfen zur Erziehung für die Bezirke mit herangezogen werden. – Der Senator nickt unentwegt, muss ich für das Protokoll festhalten.

(D

Für diesen Umbau der Jugendhilfe brauchen wir aber einheitliche Standards für die Zuweisungen in den Bezirken. Diese einheitlichen Standards müssen Sie, Herr Böger, vorlegen. Dafür sind Sie verantwortlich und nicht jeder einzelne Bezirk. Jedem Berliner Jugendlichen steht die gleiche Hilfe zu. Es kann nicht sein, dass ein Schüler mit einer ausgeprägten Lese- und Rechtschreibschwäche in Treptow eine Förderstunde erhält, in Spandau aber nicht.

Quer über die Stadt ist die Heimunterbringung ebenso zurückgefahren worden wie die ambulanten Hilfen. Zahlreiche Träger müssen schließen, Hunderte Jugendliche bleiben ohne Hilfe allein zurück. Wir bekommen ständig Briefe von Einrichtungen – anders scheinbar als das Landesjugendamt –, die schließen müssen. Sie hingegen reden hier an der Realität vorbei.

Gleichzeitig hat dieser Senat auch schon vor zwei Jahren begonnen, zahlreiche Jugendeinrichtungen und Projekte zu schließen, die Jugendliche nicht nur in sozialen Brennpunkten bisher aufgenommen hatten, bevor die Jugendlichen zum Problem wurden.

Die Bezirke haben ihr Übriges dazugetan. In fast allen Bezirken wurden Jugendeinrichtungen geschlossen. Wie viele Jugendeinrichtungen und Projekte in den beiden letzten Jahren insgesamt geschlossen worden sind, konnten Sie bis heute nicht beantworten, obwohl ich Sie dies schon mehrmals gefragt habe, Herr Senator!

Jugendwohnen, Kiezarbeit, Jugendberufshilfen, Nachbarschaftszentren, Familienberatung, Kinderbetreuung, Eingliederungshilfen, psychosoziale Hilfen, überall haben Sie zugeschlagen. Ich fordere Sie nochmals auf, Herr Senator, nennen Sie uns die Zahl, wie viele Jugendeinrichtungen und -projekte es seit zwei Jahren nicht mehr in Berlin gibt!

Nicht jeder Jugendliche, der so allein gelassen wird, muss zwangsläufig in die Perspektivlosigkeit abrutschen und kriminell werden. Der Weg dahin scheint für viele, die für sich keine Perspektive mehr sehen, aber nun kürzer geworden zu sein. Auch wenn die aktuelle Jugendkriminalitätsstatistik wieder stagnierende Tatverdächtigenzahlen im Bereich der Jugendlichen ausweist, muss ich Ihnen leider prophezeien, dass dies nicht so bleiben wird. Die reduzierte Jugendhilfe wird nur noch einen kleinen Teil der Jugendlichen erreichen, mehr nach dem Zufallsprinzip als nach einem breiten Hilfeangebot für alle Jugendlichen, die dies brauchen.

Die CDU-Fraktion fordert einen Umbau der Jugendhilfe hin zur Prävention und weg von der teuren Heimunterbringung. Die Hilfen müssen flexibel angewendet werden können. Dazu müssen die Bezirke aber auch die ausreichenden Mittel erhalten, um ein Mindestmaß an ambulanten präventiven Maßnahmen aufrecht erhalten zu können.

[Beifall bei der CDU]

Um es deutlich zu sagen: Die CDU-Fraktion bejaht Einsparnotwendigkeiten bei den Hilfen zur Erziehung. Es ist angesichts der Haushaltslage des Landes nicht einzusehen, dass Berlin hier pro Kopf mehr ausgibt als andere Bundesländer. Und das hat die Scholz-Kommission gesagt, Herr Böger, nur das. Genauso deutlich muss man aber auch sagen, dass Einsparungen nicht zum Rechtsbruch führen können. Dazu hat die Scholz-Kommission im Übrigen auch nicht aufgerufen, Herr Senator Böger!

[Gram (CDU): Ist ja unerhört!]

[Sen Böger: Da haben Sie Recht!]

[Rabbach (CDU): Unerhört!]

Ich zitiere:

Jeder junge Mensch hat ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit.

Dies war keine Forderung der CDU-Fraktion, sondern der Handlungsauftrag des Kinder- und Jugendhilfegesetzes. Wir unterstützen diesen Handlungsauftrag und fordern vom Senat die Einhaltung des Gesetzes ein.

[Beifall bei der CDU]

Danke schön, Herr Kollege Steuer! – Für die Fraktion der SPD hat nunmehr Frau Müller das Wort. – Bitte schön, Frau Müller!

Herr Präsident! Meine Herren und Damen! Ich hoffe, dass wir bei diesem sehr wichtigen und ernsten Thema vielleicht doch wieder zur Sachlichkeit zurückkommen und uns nicht über populistische Dinge der Religionszugehörigkeit und passende Anzüge unterhalten müssen. Dieses Thema ist viel zu ernst und zu wichtig! Herr Rabbach, ich habe Sie als Stadtrat immer

In der sogenannten Ad-hoc-Arbeitsgruppe haben sich die Bezirke und die Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport der Problematik angenommen. Durch die umfangreiche Fallrevision wurden die Hilfeplanung und die Bewilligungspraxis der Jugendämter überprüft. Hier konnten wir eine bemerkenswert gute und effektive Zusammenarbeit zwischen den Bezirken und der Hauptverwaltung feststellen, wie sie leider nicht immer zu finden ist. Es ging nicht nur um Einsparungen. Nicht nur die finanziellen Belange standen im Vordergrund, sondern auch die neuen Formen der Hilfegewährung. Durch das Umsetzen konkreter Maßnahmen konnten über 52 Millionen € im Jahr 2003 gegenüber 2002 eingespart

werden. Das ist ein beachtliches Ergebnis, das entsprechend zu würdigen ist. Aber – um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen – die Einsparungen erfolgten immer unter Gewährung des Rechtsanspruches.

Bei der Umgestaltung der erzieherischen Hilfen wurden auch die freien Träger einbezogen. Zwischen dem Träger der öffentlichen Jugendhilfe und den Trägern der freien Jugendhilfe wurde der Berliner Rahmenvertrag für Hilfen zur Erziehung abgeschlossen.

Zu den konkreten Ergebnissen der Umsteuerung: Der Rückgang der stationären Hilfen ist deutlich zu bemerken. Es konnten weniger Kinder in Heimen untergebracht werden. Dies entspricht einer Forderung der CDUFraktion. Bei Rückgang der Heimunterbringung ist das JAW genauso betroffen und wird genauso einbezogen wie andere Träger, auch wenn es ein Träger der öffentlichen Jugendhilfe ist. Herr Steuer, Sie können mir sicher mitteilen, weshalb Sie der Auffassung sind, dass das JAW, weil es ein öffentlicher Träger ist, von der Umstrukturierung nicht betroffen sein soll. Auch im Landesjugendhilfeausschuss wurde darüber gesprochen. Haben Sie da gefehlt? – Ich bin mir sicher, dass die Problematik JAW einer der nächsten brennenden Punkte im Landesjugendhilfeausschuss und im Ausschuss für Jugend, Familie, Schule und Sport sein muss.

sehr geschätzt, aber das, was Sie hier von sich geben, spottet doch manchmal jeder Beschreibung!

[Frau Jantzen (Grüne): Es ist lange her!]

Die vorliegende Große Anfrage bietet eine gute Gelegenheit, über die Umstrukturierung bei den Hilfen zur Erziehung zu debattieren. Wir sollten hier bei dem Thema Hilfen zur Erziehung bleiben und nicht den Rundumschlag durch die gesamte Jugendhilfe machen, so, wie es Herr Steuer getan hat. Vielleicht sollten Sie sich auch einmal die Abgrenzung, wie es das Kinder- und Jugendhilfegesetz vorgibt, in Richtung Jugendarbeit und Jugendförderung sowie Schularbeit zu Gemüte führen.

Frau Kollegin! Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Rabbach?