Protokoll der Sitzung vom 17.03.2004

Ich glaube nicht.

[Rabbach (CDU): Das ist keine Glaubensfrage!]

Dann fahren Sie bitte fort!

Ich bin mir sicher, dass doch parteiübergreifender Konsens besteht, dass ein Umsteuern in diesem Bereich fachlich angezeigt ist, ein Umsteuern mit den Schwerpunkten, dass der Prävention mehr Bedeutung beizumessen ist und die allgemeine Förderung der jungen Menschen zu verbessern ist. Dabei steht außer Frage, dass die Gewährung des Rechtsanspruchs, wie ihn das Kinder- und Jugendhilfegesetz fordert, nie in Frage gestellt wurde und auch nie in Frage gestellt werden wird.

In diesem Bereich der Hilfen zur Erziehung sind von der Koalition bereits umfangreiche Veränderungen durchgesetzt worden, die nicht – wie die Überschrift der Großen Anfrage suggeriert – durch Sparmaßnahmen verhindert werden. Diese Veränderungen waren seit langem überfällig, und zwar nicht nur wegen der immens hohen Ausgaben. – Senator Böger wies bereits darauf hin, dass Berlin bei doppelter Kinderzahl mehr als das Dreifache von Hamburg ausgibt. – Neue Hilfeformen sind auch aus fachlicher Sicht angezeigt. Wenn man Hamburg und Berlin vergleicht, sind ähnliche Bedingungen in der Sozialstruktur – auch bezüglich der Arbeitslosigkeit – festzustellen. Die Ursachen hierfür müssen ergründet und ausgewertet werden, um daraus die nötigen Schlussfolgerungen ziehen zu können.

[Rabbach (CDU): Unter Beifall der SPD!]

Es kommt auf den Inhalt an und nicht auf den Beifall – schon gar nicht auf den bestellten Beifall von Ihrer Fraktion.

[Beifall bei der SPD und der PDS]

Mit dem Rückgang der stationären Hilfen wurden auch mehr Kinder in der Vollzeitpflege untergebracht. Das bedeutet, dass mehr Kinder in Pflegefamilien betreut werden können. Dies war eine Forderung der CDU. Hierzu liegt ein Antrag von Ihnen vor. Warum stellen Sie das jetzt in Abrede und bewerten das negativ?

Bei den ambulanten und teilstationären Hilfen erfolgte die Umstellung der Finanzierung sowie die Verbesserung der Anbieter- und Leistungsstruktur. Hauptaugenmerk liegt hierbei auf der Sozialraumorientierung.

Die präventiven Angebote der Jugendhilfe wurden ebenfalls weiterentwickelt. Diese Forderung findet sich bereits in der Koalitionsvereinbarung. Ich kann Ihnen gerne ein Exemplar zur Verfügung stellen.

Die Ausführungen von Senator Böger machten deutlich, dass es um ein fachliches Umsteuern geht. Ziel ist zum einen die Einhaltung der vorgegebenen Einsparsumme, die noch nicht ganz erreicht werden konnte, aber der Weg, der sich abzeichnet, ist gut und richtig. Der Weg wird gemeinsam mit den bezirklichen Jugendämtern und den Trägern der freien Jugendhilfe bestritten. Der Umbau erfolgt auf fachlicher Seite immer ausgehend von den gesetzlichen Vorgaben des Kinder- und Jugendhilfegesetzes. Der Rechtsanspruch wird eingehalten.

Herr Dr. Augstin! Stimmen Sie mir zu, dass der vorhin erwähnte Prof. Scholz in seinem Gutachten keinesfalls das wollte, was Senator Böger jetzt tut, nämlich das Kaputtsparen der Berliner Jugend und der Jugendhilfe?

Ich kann solche Unterstellungen hier nicht diskutieren, denn ich kenne die persönlichen Motive von Herrn Scholz nicht. Da Ihre Frage nicht direkt mit meinen Darlegungen zu tun hat, fahre ich in meiner Rede fort.

Leider erkennen wir in diesem Zusammenhang der Pflegefamilien immer mehr, dass nicht maßgeblich umgesteuert wird. Vielmehr war die Vorlage des Senats zu Ausführungsvorschriften des Pflegekinderwesens Anlass zu Zweifeln daran, dass die Bereitschaft umzusteuern auch tatsächlich besteht. Der SPD-PDS-Senat hat vor, die Sätze für heilpädagogische Pflegefamilien, etwa Pflegeeltern, die behinderte Kinder betreuen, um fast ein Drittel zu kürzen. Dieser pädagogisch schon höchst fragwürdige Entschluss hätte nicht einmal fiskalisch Sinn ergeben, schließlich kostet ein Heimplatz – wie wir bereits erläutert haben – vier- bis fünfmal so viel wie eine Unterbringung in einer Pflegefamilie.

Die Anmerkungen zur Lese- und Rechtschreibschwäche fallen mehr in den Bereich des schulpsychologischen Dienstes. Es ist kein originäres Thema der Hilfen zur Erziehung.

[Frau Pop (Grüne): Das ist doch Quatsch!]

Man sollte das bei anderer Gelegenheit mitberaten und nach entsprechenden Lösungen suchen.

Der aufgezeigte Weg bei der Umstrukturierung ist erst richtig durch den Sparzwang in Gang gekommen. Aber hier bewahrt sich der alte Grundsatz, dass in jeder Krise eine Chance liegt. Diese Chance wird genutzt. Lassen Sie sie uns als gemeinsame Aufgabe weiterhin nutzen! – Vielen Dank!

[Beifall bei der SPD und der PDS]

Danke schön, Frau Kollegin! – Für die FDP-Fraktion haben nun Sie das Wort, Herr Kollege Dr. Augstin!

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit der Großen Anfrage der CDU-Fraktion wird ein finanzpolitischer Bereich, nämlich die Hilfen zur Erziehung, angesprochen, der nicht erst seit dem Bericht der Scholz-Kommission vom November 2001, in dem es um die Reduzierung und Umsteuerung geht, zur Diskussion steht. Das politische Interesse an dem Bereich Jugendpolitik steht üblicherweise nicht im Fokus des öffentlichen Interesses. Das sieht man an der Präsenz hier im Plenum.

[Beifall der Abgn. Frau Dr. Barth (PDS) und Frau Schaub (PDS)]

Das gegenwärtige Interesse lässt sich nur durch den dramatischen Anstieg der fiskalischen Belastung erklären. Allein die Ausgaben für die Hilfen zur Erziehung sind vom Jahr 1995 bis 2000 um 41 % gestiegen. Allein für die Heimerziehung und sonstige betreute Wohnformen nach § 34 SGB hat Berlin im Jahr 2002 278 Millionen € ausgegeben. Das entspricht einer Ausgabensteigerung gegenüber 1992 um rund 81 %. Dies ist der Beantwortung einer Anfrage der Bundestagsfraktion vom Februar 2004 zu entnehmen. Die Zahl der Fälle im Bereich der Vollzeitpflege nach § 33 SGB ist dagegen im Zeitraum von 1995 bis 2000 um 550 Fälle gesunken. Dabei ist hervorzuheben, dass ein Fall in Vollzeitpflege durchschnittlich 8 483 € und dagegen ein Fall im Rahmen des § 34 SGB im Durchschnitt 40 500 € kostet. Das ist etwa das Fünffache. Hier wird deutlich, dass zu Gunsten der Heimunterbringung bei den günstigeren Pflegefamilien gespart wurde. Leider erkennen wir in diesem Zusammenhang bislang keinen klaren Willen des Senats bzw. des Schulsenators und der Bezirke, zu einer maßgeblichen Umsteuerung zu kommen.

Herr Kollege! Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Rabbach?

Bitte, Herr Rabbach!

[Sen Böger: Quatsch!]

Bitte schön, Herr Dr. Augstin!

[Zuruf der Frau Abg. Dr. Barth (PDS)]

Doch offensichtlich vertraute man hier eher darauf, dass auch angesichts dieser massiven Kürzungen kaum Pflegeeltern bereit gewesen wären, das ihnen anvertraute Kind abzugeben. Angesichts der massiven Proteste seitens der Pflegeeltern, Herr Böger, scheint der Senat nun doch ein wenig ins Grübeln gekommen zu sein. Nun werden die Kürzungsabsichten doch nicht verwirklicht, aber Genaueres ist bislang noch nicht zu erfahren gewesen. Aber wie will man den Bereich der Pflegefamilien etwa in den östlichen Bezirken ausbauen und die teuren Heimplätze abbauen, wenn wegen Vertrauensschwund keine Pflegeeltern mehr zu gewinnen sind? – Hierzu sollte der Senat heute auch einmal Stellung nehmen. Wie ist ein Umsteuern bei den erzieherischen Hilfen glaubwürdig, wenn Entscheidungen, die auf bezirklicher Ebene gefällt werden, nicht aufeinander abgestimmt sind? – Jeder macht sein eigenes Ding. So wird angesichts ähnlicher Fallkonstellationen höchst unterschiedlich entschieden. Jeder Bezirk hat einen eigenen Mikrokosmos, bestehend aus höchst eigentümlichen Antrags-, Genehmigungs- und Bewilligungsverfahren. Kein Wunder, dass z. B. im Rahmen von Freizeitfahrten Kinder aus Kreuzberg zur Kasse gebeten werden, ihre Spielkameraden aus Hellersdorf dagegen alle vom Bezirk bezahlt werden. Unverständlich, wenn man sich die Einkommensstrukturen der beiden Bezirke anschaut.

[Zuruf der Frau Abg. Dr. Barth (PDS)]

Bei den Hilfen zur Erziehung konnten wir in den letzten Jahren eine wahre Kostenexplosion verzeichnen. Es

Dr. Augstin

3. Die Bezirke müssen von einer Senkung der Ausgaben der Hilfen zur Erziehung unmittelbar profitieren, indem ihnen – Herr Böger, hier sollten Sie einmal zuhören – ein Teil der eingesparten Mittel zur Durchführung

präventiver Arbeit zur Verfügung bleibt. Dies ist auf Grund der pekuniären Haushaltslage sicherlich schwierig, doch ohne ein sachorientiertes Anreizsystem wird der Umbau kaum gelingen.

4. Das Land und die Bezirke müssen sich von den eigenen Unternehmen in dem Bereich trennen und diese Aufgaben den freien Trägern überlassen. Das Jugendaufbauwerk zeigt mit seinen Millionendefiziten, welche Konsequenzen sich aus der Hilfeerbringung durch öffentliche Unternehmen ergeben.

5. Eine bessere inhaltliche Abstimmung zwischen den Bezirken beim Antrags-, Genehmigungs- und Bewilligungsverfahren ist geboten. Die FDP-Fraktion sieht einen dringenden Bedarf, bei den Hilfen zur Erziehung noch deutlicher als bislang umzusteuern. Nur wenn hier tief greifende Veränderungen vollzogen werden, wenn umstrukturiert wird, wenn eine möglichst vollständige Privatisierung der Leistungserbringung erfolgt, können die veranschlagten Ausgabereduktionen durch die Bezirke aufgefangen werden. So sind die durch die öffentliche Hand bereitgestellten Hilfeleistungen in aller Regel nicht nur teurer, auch führt die Vermengung von operativen und kontrollierenden wie planenden Ausgaben zu Interessenkonflikten und kommt in aller Regel den Steuerzahler wie auch den Betroffenen teuer zu stehen, und die Bezirke geraten in eine juristische Zwickmühle. Wir fordern den Senat auf, ernsthaft am Umbau des Hilfesystems zu arbeiten. – Ich danke Ihnen!

muss jedoch verwundern, dass es erstaunlicherweise keinerlei Zusammenhang – wie bereits von Herrn Böger gesagt wurde – zwischen den Ausgaben für Hilfen zur Erziehung, nämlich Heimunterbringung, Familienberatung und dergleichen, und der Sozialstruktur der einzelnen Bezirke gibt. Hier hat eine politische Steuerung des Landes bzw. der Bezirke entweder nicht oder nach anderen als sachorientierten Kriterien – was zu vermuten ist – stattgefunden; denn es gibt nur einen Zusammenhang, und zwar den zwischen Ausgaben für die Hilfen zur Erziehung und dem bezirklichen Angebot an derartigen Leistungen. Dienen etwa die eingesetzten Leistungen eher den finanziellen Interessen bezirklicher Anbieter als denen der betroffenen Familien? – Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Dies wäre angesichts der derzeitigen Situation skandalös. Wenn ein Steuerungsinstrumentarium entwickelt werden soll – hier sei an die integrierte Software der Berliner Jugendhilfe erinnert –, das ermöglicht, bezirksübergreifend Informationen über Leistungsträger zu erhalten, um diese Auswüchse zu verhindern, wird es noch vor der Fertigstellung durch fiskalische Kürzungen verzögert und gegängelt. Und dies nicht nur von der Koalition, nein, der ursprüngliche Kürzungsvorschlag stammt von der CDU.

[Doering (PDS): Na, so was!]

Man fragt sich: Wieso wollte die CDU wohl hier sparen? – Die Antwort ist ganz simpel: Weil so keine Interessengruppe vergrätzt wird, stattdessen wird das Instrumentarium gefährdet, mit dem möglichst umgehend die Hilfen zur Erziehung unter Kontrolle gebracht, ein Vielfaches eingespart werden könnte. Ach, wäre das schön!

[Doering (PDS): Hören Sie mal zu, Herr Rabbach, er sagt, Sie sind schuld!]

Lieber verzögern hier SPD, PDS und CDU mit fiskalischen Mitteln die Kürzung, die Umsteuerung. Fest steht, wenn die Kürzungen der Hilfen zur Erziehung in den Bezirken weiterhin derart unsystematisch und unkontrolliert vonstatten gehen, wenn die Kürzungen nicht durch den Umbau des Hilfesystems begleitet werden, wie Herr Böger das auch fordert, kommt es unweigerlich zu Rechtsbrüchen durch die Bezirke, Herr Böger! Die Senkung der Ausgaben der Hilfen zur Erziehung auf das Niveau anderer Großstädte ist unter Beachtung der besonderen Sozialstruktur notwendig. Doch dies kann sinnvollerweise nur schrittweise geschehen und muss mit einem Umsteuern begleitet werden:

1. Es bedarf eines einheitlichen Informationssystems, um interne Abgleichungen und externe Vergleiche zu ermöglichen.

2. Die Umgestaltung muss mit einer fachlichen Steuerung und einer Qualifizierung der Leitungskräfte begleitet werden.

[Beifall bei der FDP]

Danke schön, Herr Dr. Augstin! – Das Wort für die PDS hat nunmehr Frau Dr. Barth. – Bitte schön!

[Rabbach (CDU): Die bejubelt jetzt den Senator!]

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ja, Herr Rabbach, ich finde es ganz gut, dass wir uns heute zu einem Kernbereich der Jugendhilfe, nämlich zu den Hilfen zur Erziehung, verständigen.

[Rabbach (CDU): Auf Antrag der CDU!]

Allerdings scheint das Interesse nicht sehr groß zu sein.

[Rabbach (CDU): Bei der PDS!]