Protokoll der Sitzung vom 08.06.2006

und nicht ganz so hysterisch, wie einige im Saal dies tun.

Um zu verdeutlichen, worüber wir hier reden, Herr Gram, will ich ein paar Zahlen nennen. Frau Müller hatte es bereits erwähnt, dass in der Gesamtheit die Anzahl jugendlicher Straftäter rückläufig ist. Das sagt die Polizei, das zeigt die Kriminalstatistik, allerdings nicht in den Schulen. Und hier wird vermutet, dass jetzt genauer hingeschaut und nicht mehr verharmlost wird, was auch richtig ist, und dass das Dunkelfeld erhellt wird. Dies ist alles richtig. Was uns jedoch allen Sorgen macht und worüber wir dringend reden müssten: Es gibt tatsächlich eine neue erschreckende Qualität – wobei dies das falsche Wort ist – in der Brutalität und Verrohung. Wenn zugeschlagen wird, was seltener vorkommt, dann aber richtig.

Herr Böger, es kann nicht richtig sein – wie Sie es in der Zeitung vor einigen Tagen formuliert haben –, dass die schärfste Waffe der Schule der Schulverweis ist. Das ist weder eine scharfe Waffe noch ein sinnvolles Instrument, denn inzwischen scheint das zum Problem geworden zu sein.

[Beifall bei den Grünen]

Wir haben Schüler, die wie Wanderpokale von den Schulleitern durch die Stadt geschoben werden. Was ist die angemessene Reaktion darauf? Was tun sie dagegen? – Die scharfe Waffe Schulverweis kann es wahrlich nicht sein. Die Schulen brauchen Unterstützung, um mit diesen Schülern zurecht zu kommen. Das heißt dann mehr Schulsozialarbeit und Kooperation mit der Jugendhilfe, weil die wiederum ihre Klientel kennt. Der Erziehungsauftrag der Schule wird nur mit der Jugendhilfe zusammengehen können. Die Schule allein wird das vermutlich nicht schaffen.

Zweitens: Was ist eigentlich mit der Jugendgerichtshilfe? – In der Theorie wird sie immer dann eingeschaltet, wenn Jugendliche straffällig werden. Eine Statistik aus Ihrem Hause besagt jedoch, dass in der Hälfte der Fälle straffällige Jugendliche von der Jugendgerichtshilfe gar nicht erreicht werden. Sie bekommen die Hilfe überhaupt nicht. Durch die Veränderung in den Jugendämtern ist die Jugendgerichtshilfe etwas ausgeblutet. Die Zusammenarbeit mit der Justiz klappt in letzter Zeit überhaupt nicht mehr. Da müssten Sie ran, Herr Böger!

[Beifall bei den Grünen]

Um weiter bei den Jugendämtern zu bleiben: Was tun die Jugendämter, wenn Eltern Hilfsangebote für sich und ihre Kinder ablehnen – wir kennen die Diskussion aus der

Kinderschutzdebatte –, bis der Jugendliche zu einem Intensivtäter geworden ist? – So weit darf es gar nicht erst kommen, Herr Böger. Wir wissen alle, dass wir möglichst früh und möglichst schnell reagieren müssen, und zwar nicht mit der Herabsetzung des Alters der Strafmündigkeit, sondern mit der ganzen Palette an Hilfen, die wir haben. Da finde ich es zu lang, wenn die Tat bereits drei Monate zurückliegt, bis ein Trainingskurs begonnen wird. Das ist bei 14-, 15-jährigen Jugendlichen ein definitiv zu langer Zeitraum.

Wir brauchen schließlich Präventionsräte in den Kiezen, die schnell und sicher erkennen, wo und wann sich die Jugendgruppengewalt aufbaut, und in denen Fachleute aus den Kiezen zusammen mit Schule, Jugendhilfe und Polizei gemeinsam Handlungsstrategien entwickeln. Das ist die Lösung für die Kieze.

Zum Schluss bleibt festzustellen: Über Jugendgewalt wird meistens entweder hysterisch oder gar nicht gesprochen. Wir brauchen jedoch kontinuierliche Arbeit in der Gewaltprävention, eine schnelle Reaktion auf Taten und eine kontinuierliche Finanzierung von Maßnahmen. Insbesondere brauchen wir eine Bildungs- und Jugendpolitik, die Jugendliche davor bewahrt, abzurutschen, eine Politik, die nicht ausgrenzt, sondern jungen Menschen Perspektiven und Zukunftschancen eröffnet. – Vielen Dank!

[Beifall bei den Grünen]

Danke schön! – Das Wort für eine Kurzintervention hat Herr Abgeordneter Steuer.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! – Frau Pop! Ich wundere mich etwas darüber, dass Sie ein Problem mit Differenzierung haben. Ich habe gar kein Problem damit, dass sich die Fachleute aus unterschiedlichen Bereichen auch mit den Themen auseinander setzen, mit denen sie sich am besten auskennen. So kommt es eben dazu, dass wir der Auffassung sind: Ja, man muss in den Schulen mehr tun. Man braucht mehr Sozialarbeit in den Schulen. Aber auf der anderen Seite muss der Staat auch deutlich machen, dass er das, was er dort zusätzlich investiert, ernst meint, dass er ein Ergebnis sehen will. Dieses Ergebnis muss auch durch klare Grenzen, die aufgezeigt werden, unterstützt werden. Ja, wir brauchen mehr Grenzen, die der Staat deutlich macht. Wir müssen gegen Intensivstraftäter mehr tun. Wir müssen gegen die, die nicht belehrbar sind, mehr tun, aber wir müssen all denen eine Chance geben, die am Anfang einer solchen schwierigen Karriere stehen und die noch alle Möglichkeiten haben, ein ordentliches Schul- und Bildungsleben zu absolvieren. Deshalb beides – Differenzierung. Man kann es sich nicht immer einfach und und nicht immer ideologisch machen. Das wollten wir nicht, sondern wir legen ein Maßnahmenbündel vor, und wir würden uns freuen, wenn Sie auch Spaß an der Differenzierung und nicht an einer einfachen Problemlösung hätten.

[Beifall bei der CDU]

Danke schön! – Frau Pop! Möchten Sie erwidern?

Frau Müller hat völlig Recht: Nichts stagniert auf hohem Niveau. Das sind Fakten, die man zur Kenntnis nehmen muss. Ich will noch einmal klarstellen: Straftaten durch Jugendliche, egal, ob Erst- oder Intensivtäter, sind immer ein Problem, und man muss alles unternehmen, um gegen solche Vorfälle präventiv vorzugehen, gegebenenfalls auch die strafrechtlichen Optionen auszuschöpfen. Aber es gibt – und das weiß jeder, der sich mit Strafrecht in irgendeiner Weise einmal intensiver befasst hat – eine Schere zwischen Wahrnehmung und Berichterstattung auf der einen Seite und den realen Entwicklungen und Tendenzen dieses Phänomens auf der anderen Seite. Das hat unterschiedliche Gründe. Der eine ist die von Frau Müller schon genannte höhere Sensibilität gegenüber dem Thema – das ist gut so –, und der andere Grund ist die Skandalisierung, politische Profilierung, vor allem, wenn man inhaltlich sonst nicht zu bieten hat wie Sie. Wahlkampf!

Vielleicht ist es wirklich so weit, dass Sie jetzt darauf angewiesen sind – um noch ein paar Prozente einzu sacken –, die Lufthoheit über die Stammtische wiederzugewinnen. Aber, was Sie damit machen, ist nichts anderes als – –

Ja, das sagte ich ja gerade. Empfindung ist das eine, und reale Tendenzen sind das andere. Aber wenn Sie sich am Schüren von Bedrohungsempfindungen beteiligen, dann haben Sie dem Problem einen Bärendienst erwiesen, anstatt es zu lösen.

Nicht verharmlosen, sagen Sie, bleiben Sie bei den Fakten! Und dann sagen Sie: effektiv bekämpfen! Und was kommt dann? – Das kennen wir alles schon. Ganz nebenbei bemerkt: Es ist ein trauriges Armutszeugnis, dass das Bundesverfassungsgericht der Politik die Standards des Justizvollzugs vorgeben muss. Das wären Felder gewesen, mit denen Sie sich in den letzten Jahren hätten profilieren können, bundespolitisch wie landespolitisch. Gekommen ist von Ihnen nichts.

In Ihrem Antrag schlagen Sie Sachen vor – Gott im Himmel –, bei denen man sich nur über den Kopf streichen kann: „die geschlossene Heimunterbringung für hochgradig gefährliche und kriminelle Kinder und Jugendliche im Rahmen erzieherischer und therapeutischer Konzepte“. – Warum orientieren Sie sich eigentlich immer an den schlechten Seiten der DDR, wenn Sie sie kopieren wollen? – Ich finde es absurd, dass Sie uns solch einen Vorschlag machen.

Lieber Herr Steuer! Ich verstehe, dass Sie auch einmal reden wollten, da Herr Gram offensichtlich im fraktionsinternen Wettbewerb den Zuschlag für die Redezeit bekommen hat. Ich schlage Ihnen vor, dass Sie gemeinsam mit Herrn Gram einen Arbeitskreis machen, der bei dem Fraktionsvorstand angesiedelt ist, und dann klären Sie die unterschiedlichen Meinungen, die sich in den zwei Anträgen widerspiegeln. Und wenn Sie in der CDU-Fraktion einer Meinung sind, können Sie gern noch einmal an uns herantreten und mit uns darüber diskutieren. – Danke!

[Beifall bei den Grünen]

Das ist doch ein Angebot! – Für die Linkspartei.PDS hat jetzt Herr Dr. Lederer das Wort.

Meine Damen und Herren! Ich bin der Dritte, der hier draufhaut, bevor uns dann die Kollegin Senftleben erklärt, warum man zukünftig 13-Jährige einsperren sollte.

Sie haben sich einen reißerischen Titel ausgedacht, meine Damen und Herren von der CDU-Fraktion! Ich habe mir die Frage gestellt, wie viel Zeit Sie dafür investieren, sich alle Jahre wieder einen neuen Titel für ein Thema auszusuchen, das Sie permanent neu aufrufen. Das Lieblingsthema von Ihnen: Drucksachen 15/2075, 15/11048, 15/12319 und diverse Mündliche Anfragen. Und jährlich grüßt das Murmeltier!

[Zuruf des Abg. Gram (CDU)]

Ja, ja, Kollege Gram! Sie sollten es dann aber auch einmal lesen, denn das Thema hatten wir schon so oft, seit dem ich hier bin, durchgehechelt, dass Sie alle Informationen hätten, um selbst zu sehen, dass Ihr Antrag Unfug ist.

[Beifall bei der Linkspartei.PDS und den Grünen – Gram (CDU): Aber Sie haben es nicht gelernt!]

Die Jugendkriminalität in Berlin ist rückläufig. Das ist belegbar.

[Gram (CDU): Aber die Brutalität!]

[Henkel (CDU): Das würde ja bedeuten, dass die Menschen so denken und empfinden! [Gram (CDU): Sagen Sie mal was zu der Tradition in der Stadt!]

[Beifall bei der Linkspartei.PDS]

Dann kommt eine Jugendstrafrechtsänderung als Vorschlag: Höchststrafe heraufsetzen, konsequente Anwendung des Erwachsenenstrafrechts als Regelfall für Heranwachsende, Warnschussarrest, Einstiegsarrest, Streichung der Möglichkeit der Aussetzung der Verhängung der Jugendstrafe aus dem JGG, Herabsetzung des Alters der Strafmündigkeit auf 12 Jahre. – Was kommt, wenn der nächste Jugendliche, der 11 Jahre alt ist, eine Straftat begeht? – Wollen Sie das Alter dann auf 10 Jahre heruntersetzen? Ist das dann die nächste Idee, die Sie haben, oder führen wir dann die Prügelstrafe an der Schule wieder ein? – Was Sie hier erzählen, finde ich ziemlich mittelalterlich, und es berücksichtigt überhaupt nichts von dem Vernünftigen, was in öffentlicher Debatte in den letzten Monaten dazu gesagt worden ist. Da reicht ein Blick in die heutige Zeitung: „Kriminologe fordert: Hauptschulen abschaffen!“ Das Familienrecht muss geändert werden. Es gibt eine Menge Probleme, über die man vernünftig diskutieren kann, wenn man in dem Problem weiterkommen will.

Welche Mittel der Gewaltprävention sollen angewendet werden? – Sie haben eben die Antigewalttrainings erwähnt. Die haben eine so hohe Abbrecherquote, dass man

Herr Präsident! Meine Kollegen und verehrte Kolleginnen! Ich habe das Gefühl, dass ich im falschen Film bin. Es wird eine Debatte geführt, die ideologisch und sehr einseitig ist. Sind denn nun Gewalttaten passiert? – Wir zanken uns über eine Statistik, dabei reden wir doch einmal von absoluten Zahlen und einmal von Prozentsätzen und wissen gleichzeitig, dass die Anzahl der jugendlichen Straftäter zurückgegangen ist. Ergo kann man schon sagen, dass das auf einem

hohen Niveau stagniert. Das ist Fakt, und diese Tendenz muss uns Sorge machen. Wir wissen jetzt, dass ein Drittel der Jugendlichen mit Migrationshintergrund straffällig geworden ist, und mit diesem Fakt müssen wir uns beschäftigen und müssen uns fragen: Warum ist das so? Wieso, weshalb, warum?

Vorschläge gibt es genug, und jetzt beziehe ich mich auf die CDU und deren Anträge, um die es heute geht. Einmal geht es um Sozialisation, Funktion von Schule, und in Ihrem Antrag reden Sie auch von einem Erziehungsauftrag der Schule. Mir fehlt dabei der Aspekt des Erziehungsauftrags der Familie bzw. der Eltern. Auf der anderen Seite haben wir einen Antrag vorliegen, der sich mit der Verschärfung des Jugendstrafrechts befasst. Die Beschäftigung mit diesen Themen ist richtig und wichtig, aber keineswegs erschöpfend.

sich die Frage stellen muss, ob sie wirklich ein geeignetes Mittel sind. Alle konzedieren Ihnen, dass die Forschung in Deutschland weit hinter dem zurück ist, was in Amerika in diesen Fragen diskutiert wurde. Warum eigentlich? – Weil wir solche Debatten führen, wie Sie sie uns heute aufdrücken. Da sage ich Ihnen auch einmal ganz deutlich: Das Stammtischniveau bzw. das niedrige Niveau der Debatte wurde nicht durch Ihren Redebeitrag, sondern schon durch Ihren Antrag vorgegeben. Das war die Linie, die Sie vorgegeben haben.

[Beifall bei der Linkspartei.PDS]

Berlin hat eine vernünftige Bilanz in dem Bereich: soziale Begleitung, Unterstützung, Integration, Verbesserung der Kooperation zwischen Jugendämtern, Erziehungsinstitutionen, Jugendhilfe und Strafverfolgungsbehörden. Die Bilanz kann sich sehen lassen. Das heißt nicht, dass man nicht noch mehr tun könnte. Man kann immer mehr tun, und neue Handlungsmöglichkeiten finden sich, kommen in vernünftigen Fachdiskussionen heraus, und dann muss man sie umsetzen.

Zum Abschluss will ich Ihnen noch etwas in das Stammbuch schreiben, was Klaus Lüderssen, ein Professor für Strafrecht, Strafprozessrecht, Rechtsphilosophie und Rechtssoziologie, ein Mann, der 1932 geboren wurde und sich lange Jahre einen guten Namen gemacht hat, in der „Frankfurter Rundschau“ am 31. Mai 2006 ausgeführt hat. Er hat gesagt – ich zitiere mit Ihrer Genehmigung –:

Es hat Zeiten gegeben, in denen man der Auffassung nahe war, man könne aus dem Jugend- etwas für das Erwachsenenstrafrecht lernen. Dieser Faden muss wieder aufgenommen werden. Es gibt mannigfaltige Erfahrungen, die dahin gehen, dass weder die Vollendung des 18. noch die des 21. Lebensjahres, nach dem Jugendstrafrecht die Altersgrenze für Heranwachsende, eine signifikante Zäsur in der Entwicklung ist.

Der Untertitel des Artikels lautet:

Das Jugendstrafrecht darf nicht verschärft werden, sondern sollte stärker nach Art und Grad der Schuld eines Täters fragen.

Das ist der richtige Weg, wenn man über Jugendstrafrecht diskutieren will. – Vielen Dank!

[Beifall bei der Linkspartei.PDS und der SPD]

Danke schön, Herr Kollege Lederer! – Jetzt hat Frau Senftleben für die Fraktion der FDP das Wort. – Bitte schön, Frau Senftleben!

Ich will zu den Vorschlägen im Einzelnen Folgendes sagen: Wir tragen einiges mit, z. B. individuelle Hilfeplanung, Einsatz von Streitschlichtern, Sozialarbeiter an die Schulen und richtig und wichtig: Schulpsychologen, wenn notwendig, aber auch nicht in Bausch und Bogen nun für jede Schule. Das hatte Frau Schultze-Berndt vorhin in ihrer Rede zumindest richtig gestellt. Generell müssen wir aber ganz klar sagen: Mit dem nichtpädagogischen Personal müssen wir wesentlich flexibler umgehen, als wir es bisher getan haben, denn das haben wir an der RütliSchule festgestellt: Als das Personal auf einmal kam, entstand dort eine andere Atmosphäre, und die Situation ist schlagartig besser geworden. Das müssen wir uns merken! Da hat etwas geklappt.