Protokoll der Sitzung vom 21.06.2007

[Mieke Senftleben (FDP): Ja, genau!]

Zahlreiche Studien, Frau Senftleben, wiederlegen diese These. Und wie hat Herr Lindner immer so schön heute gesagt: Sie rennen immer wieder mit dem Kopf an die Wand. – Sie wissen ganz genau, dass die Studien es wiederlegen, aber Sie behaupten es immer gebetsmühlenartig. Von besonderem Interesse ist die Erfahrung in Großbritannien, wo bereits 1999 ein gesetzlicher Mindestlohn eingeführt wurde.

[Rainer-Michael Lehmann (FDP): Nach der Reform!]

Dieser gesetzliche Mindestlohn hat sich nicht negativ auf die Beschäftigung ausgewirkt. Ohne eine Lohnuntergrenze besteht nämlich ständig die Gefahr, dass die Betriebe die Löhne weiter absenken – es wird ja staatlich aufgestockt! Das können Sie doch nicht gutheißen, meine Damen und Herren!

[Beifall bei der SPD und der Linksfraktion]

2,5 Millionen Niedriglohnempfängerinnen und -empfänger müssen weiter auf eine grundsätzliche Lösung zur Bekämpfung der Hungerlöhne in Deutschland warten, und das alles, weil Ihre Kolleginnen und Kollegen auf Bundesebene, meine Damen und Herren der CDU, ihre chronische Blockadehaltung nicht aufgeben!

[Beifall von Uwe Goetze (CDU)]

Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Schluss kommen!

Ich komme zum Schluss. – Frau Merkel zeigte sich hochzufrieden, weil sie den Wunsch der SPD nach der Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns abwehren konnte. Was ist das für ein Sieg?

Das war eine Schlussfrage!

Das ist ein Schlag ins Gesicht der Betroffenen, die Tag für Tag für einen Hungerlohn arbeiten gehen! Unser Ziel ist und bleibt, den gesetzlichen Mindestlohn durchzusetzen. Deshalb bitte ich Sie, unserem Antrag zuzustimmen, wenn Ihnen das Schicksal der Menschen wirklich am Herzen liegt, Herr Pflüger.

[Beifall bei der SPD, der Linksfraktion und den Grünen]

Das Wort zu einer Kurzintervention hat Herr Kollege Dr. Pflüger.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der Tat, mir liegt das Wohl der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, uns allen in der Union liegt es am Herzen.

[Beifall bei der CDU]

Wir sind immer die Partei der sozialen Marktwirtschaft gewesen, nicht lediglich des wirtschaftlichen Liberalismus, sondern eines Liberalismus, der eingebunden ist in eine soziale Ordnung. Das ist und bleibt das Programm der CDU – gerade auch in Berlin!

[Beifall bei der CDU]

Frau Kollegin! Ungerechte Löhne, die es gibt, sind zu verurteilen. Lohndumping ist zu verurteilen. Wir können alle in diesem Haus sagen, dass jemand, der hart arbeitet, dafür auch vernünftig bezahlt werden soll. Das ist unser aller Ziel. Und versuchen Sie bitte nicht, dieses Ziel, das uns alle eint, ich glaube, jeden anständigen Menschen einbezieht, bei einer anderen Partei infrage zu stellen.

Die Frage ist nur: Wie erreiche ich das Ziel? – Dann gucke ich bei mir im eigenen Kiez, in Wilmersdorf, herum und sehe mir die kleinen Handwerksbetriebe, die kleinen Friseursalons an: Die Leute können manchmal nicht das bezahlen, was Sie als Mindestlohn fordern würden. Der Betriebsleiter, der Meister, der hat doch keine Freude daran, seine Leute, die er persönlich kennt, mit denen er sich duzt, schlecht zu bezahlen. Er weiß nur nicht, wie er es anders machen soll, weil nicht genug Kundschaft da ist, weil nicht genug Kaufkraft in der Stadt ist.

Nun gibt es zwei Möglichkeiten: Wir können irgendwo erklären, das ist jetzt der staatliche Mindestlohn – und dann müssen Sie sehen, da gibt es vorher einen großen Wettbewerb. Die PDS sagt bestimmt einen Euro mehr als die anderen, um noch sozialer zu erscheinen. Und dann gibt es einen solchen Mindestlohn, und der Friseurladen oder der kleine Handwerksbetrieb sagt: Tut mir leid, kann

ich nicht bezahlen; ich mache den Laden zu. – Und so entsteht Arbeitslosigkeit. Wollen wir das?

Ich bin sehr dafür, dass wir alles tun, Lohndumping zu verhindern, und deswegen begrüße ich, dass die SPD und die CDU in der großen Koalition einen Kompromiss gefunden haben, das Entsendegesetz auf andere Branchen auszuweiten. Andere versuchen es über die Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen. Warum wird jetzt die Tarifautonomie infrage gestellt, die unserer Bundesrepublik Deutschland sehr viel Gutes beschert hat, und durch eine staatliche Regelung ersetzt, die nicht dem gerecht wird, dass wir heute unterschiedliche Regionen und unterschiedliche Branchen in Deutschland haben? Ich glaube, ein Weg, der wahrscheinlich sogar gut gemeint ist, den Arbeiterinnen und Arbeitnehmerinnen in unserem Land zu helfen, führt dann in die Irre, wenn er zur Massenarbeitslosigkeit führt, zum Abwandern von Unternehmen oder dazu, dass sie Pleite machen müssen. Deshalb ist das nur vorsätzlich eine soziale Lösung und in Wahrheit das Gegenteil davon.

In Wahrheit geht es, seien wir doch ehrlich, der SPD darum, den nächsten Bundestagswahlkampf vorzubereiten. Und ich finde es schäbig, mit Frau Merkel an einem Abend einen Kompromiss auszuhandeln und am nächsten Tag zu erklären, man sei zornig über diesen Kompromiss. Das trägt nicht zur Glaubwürdigkeit der Parteien in unserem politischen System der Bundesrepublik Deutschland bei. – Vielen Dank!

[Beifall bei der CDU und der FDP]

Vielen Dank! – Für die Fraktion der Grünen hat Frau Pop das Wort.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dass große Koalitionen keine großen Probleme lösen, stellt die Bundesregierung eindrucksvoll und inzwischen fast täglich unter Beweis. – Herr Pflüger! Was Sie gesagt haben, ist typisch für die Berliner CDU. Sie wollen sozial sein und versprechen jedem alles, die Frage stellt sich aber, wer das bezahlen soll. Das ist ein Grundproblem der Berliner CDU und auch der CDU auf Bundesebene: Sie wollen, dass die Menschen nicht arm werden durch Arbeit – das wollen wir alle. Die entscheidende Frage ist aber, wer das bezahlt. Sie wollen über Kombilöhne massenhaft Steuergelder dafür ausgeben, anstatt die Arbeitgeber angemessen über einen Mindestlohn zu beteiligen. Das ist der politische Unterschied.

[Beifall bei den Grünen, der SPD und der Linksfraktion]

Zum Schluss stehen Sie wieder mit dem Schuldenberg da und wollen es nicht gewesen sein.

Dass die große Koalition lange gestritten hat und dabei nichts herausgekommen ist, haben wir inzwischen alle mitbekommen. Der Kompromiss ist tatsächlich keiner, der Berg kreißte und gebar eine Maus – das trifft die Situation ziemlich gut. Das Arbeitnehmerentsendegesetz soll auf Branchen ausgeweitet werden, die es eigentlich gar nicht nötig haben. Mit dem Mindestlohn hat dies wenig gemeinsam. Es ist ja auch kein Wunder, wenn die CDU nicht einmal richtig definieren kann, was ein sittenwidriger Lohn überhaupt sein soll.

Zu Recht sind die Sozialdemokraten darüber wütend, wobei ich klammheimliche Freude auch ausmachen kann,

[Burgunde Grosse (SPD): Na, na!]

denn das wird ein knalliges Wahlkampfthema für die Sozialdemokraten geben. Unter Rot-Grün hatten wir Ihnen den Mindestlohn angeboten, Herr Müntefering war damals noch dagegen, heute ist er dafür – das ist vielleicht die Altersweisheit, die ihn langsam ergreift.

[Daniel Buchholz (SPD): Besser als gar keine!]

Das ist richtig, Herr Buchholz. Sie hätten es aber früher haben können, anstatt mit der CDU jetzt so hart zu kämpfen.

[Beifall bei den Grünen]

Das Problem bleibt, und wie dringend es ist, zeigt die Antwort des Senats auf meine Kleine Anfrage. In Berlin sind 82 000 Menschen sogenannte Aufstocker, bundesweit sind es inzwischen 1 Million. Aufstocker bedeutet – für alle nicht Arbeitsmarktpolitikerinnen und -politiker –, dass die Menschen ergänzend zu ihrem regulären Job noch Arbeitslosengeld II beziehen, weil sie von ihrem Jobeinkommen nicht leben können. Es gibt dafür einen englischen Begriff: working-poor. In Berlin gibt es 49 Branchen, die unter 7 € Stundenlohn zahlen. Das Frisörhandwerk, besser bekannt als Frisörinnenhandwerk, weil es meist Frauen sind, die in dieser Branche arbeiten, hat Stundenlöhne von 4,20 € bis 6,20 €. Zum Vergleich zu einem Arbeitslosengeld-II-Empfänger, der noch einen 1-Euro-Job hat: Bei 30 Stunden pro Woche, die er arbeitet, verdient er 6,40 € pro Stunde. Da ist nichts mehr mit Lohnabstand, und das finde ich alarmierend. Alarmierend finde ich auch, dass viele Jobs mit einem Stundenlohn unter 7 € an Jugendliche ohne Ausbildung gehen. Das sind die eigentlichen Verlierer, Jugendliche, die keine Qualifizierung haben und für Hungerlöhne arbeiten gehen. Das mag ihnen mit 17, 18 Jahren noch attraktiv erscheinen, aber welche Perspektive haben sie langfristig auf dem Arbeitsmarkt?

Im Vorgriff auf den nächsten Tagesordnungspunkt wende ich mich an den Senat. – Frau Knake-Werner, nicht nur an die Wirtschaft appellieren, auch Sie sind in der Verantwortung! Wenn unsere Landesunternehmen stetig ihre Ausbildungsplätze herunterfahren und die Verwaltung eine wunderbare Ausbildungsquote von statistisch kaum noch nachweisbaren 0,25 Prozent hat, dann sind Sie ganz deutlich in der Pflicht.

[Beifall bei den Grünen]

In der Pflicht sind wir alle insgesamt, wenn Armutslöhne gezahlt werden und Lohndumping zum flächendeckenden Problem wird. Dass sich das Arbeitslosengeld II inzwischen zum steuerfinanzierten Massenkombilohn entwickelt, kann auch keine richtige Lösung gegen Lohndumping und Armutslöhne sein. Wir bezahlen alles mit unseren Steuergeldern, und die Niedriglohnspirale dreht sich auf der anderen Seite weiter, weil kein Arbeitgeber sich Sorgen machen muss, dass die Leute in Armut abrutschen, denn das Arbeitslosengeld II steht ja zur Aufstockung bereit. Deswegen brauchen wir einen einheitlichen Mindestlohn, der das Existenzminimum absichert. Ein Mindestlohn kann – wie der Name schon sagt – auch nur das absolut unterste Netz sein. Träumereien der Linksfraktion von mindestens 8 €, wenn nicht gar 9 € werden sicherlich nie in Erfüllung gehen. Sie werden auch nie in die Verlegenheit kommen, das beweisen zu müssen.

Die anderen europäischen Länder sind angesprochen worden. Dass Großbritannien es mit einer low-paycommission ziemlich gut macht, ist bekannt. Ich möchte noch etwas zu Luxemburg sagen. Luxemburg hat einen der höchsten Mindestlöhne in der EU und die geringste Arbeitslosigkeit unter den Geringqualifizierten. In Deutschland verhält es sich andersherum: Wir haben keinen Mindestlohn und die höchste Arbeitslosigkeit bei den Geringqualifizierten.

[Zuruf von Gregor Hoffmann (CDU)]

Bei uns experimentiert die große Koalition mit unzureichenden Teillösungen, die CDU setzt auf frei fallende Löhne und ist bereit, mit staatlichen Zuschüssen in Form von Kombilöhnen große Mengen an Steuergeldern zu verschleudern. Die Linkspartei verspricht 8 € oder gar 9 € pro Stunde,

[Zuruf von Mieke Senftleben (FDP)]

und die SPD freut sich auf den nächsten Wahlkampf, wo sie das Thema fahren kann. Wir wollen nicht so lange warten, deswegen freue ich mich, dass auf unsere Initiative hin und nach längeren und schwierigen Kämpfen mit der Geschäftsordnung dieses Hauses ein gemeinsamer Antrag zum Thema Mindestlohn möglich gemacht wurde. Wir wollen den Senat beauftragen, im Bundesrat initiativ zu werden, denn das Thema Mindestlohn gehört für uns nicht auf die lange Bank, sondern auf die nächste Tagesordnung. – Vielen Dank!

[Beifall bei den Grünen]

Für die Fraktion der FDP hat der Kollege Thiel das Wort!

Vielen Dank, Herr Präsident! – Sehr geehrte Damen und Herren! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Bevor ich inhaltlich auf den Antrag eingehe, möchte ich meiner Verwunderung darüber Ausdruck geben, wie wir mitein

ander parlamentarisch verfahren. Wir haben am Montag länger diesen Antrag im Wirtschaftsausschuss beraten, dazu auch den Antrag von Bündnis 90/Die Grünen, den Sie aber vorher schon im Arbeitsausschuss für erledigt erklären ließen. Dann hat die Mehrheit dieses Ausschusses – natürlich mit der Koalition – die Dringlichkeit beschlossen, damit dieser Antrag heute eingebracht wird. Bei der Tagesordnungszusammenstellung stellen wir fest, dass die Dringlichkeit nicht mehr gegeben zu sein scheint, denn der Antrag wurde für erledigt erklärt. Statt dessen wird uns ein neuer Antrag zusammen mit Bündnis 90/Die Grünen präsentiert, und der soll – und das finde ich bemerkenswert – sofort abgestimmt werden.

[Zuruf von Christian Gaebler (SPD)]

Ich frage mich, warum wir dann – wenn sich die Gefechtslage der antragstellenden Fraktionen etwas verändert hat – nicht noch einmal die Gelegenheit haben sollten, diese Anträge neu zu beraten.

[Christian Gaebler (SPD): Er ist wortgleich!]