Protokoll der Sitzung vom 14.02.2008

Antrag

Bürgerschule für Berlin (I): Modellversuch für eine neue Schulpolitik!

Antrag der FDP Drs 16/1158

Das ist die Priorität der Fraktion der FDP unter dem Tagesordnungspunkt 30. Die Fraktionen haben wie immer fünf Minuten Redezeit. Das Wort für die FDP-Fraktion hat Frau Senftleben.

Herr Präsident! Kollegen und Kolleginnen! Es gehört zur Kernaufgabe des Staates, Bildungschancen zu garantieren. Konkret heißt das: Bildungsangebote müssen finanziert werden, Bildungsstandards und Lernziele müssen definiert und überprüft werden. Die Organisation von Bildung ist eine andere Frage. Die Organisation von Bildung können auch andere leisten, das muss nicht in der Verantwortung des Staates liegen.

Dass Berlin dieser, seiner Kernaufgabe nicht nachkommt, dass Berlin auch bei der Organisation von Bildung offensichtlich überfordert ist, habe ich in der Aktuellen Stunde bereits begründet. Folge ist der Run auf die Schulen in freier Trägerschaft. Diese sind inzwischen für diejenigen, die es finanzieren können, zu einer echten Alternative zu den öffentlichen Schulen geworden – wohlgemerkt für diejenigen, die das finanzieren können. Initiativen, gemeinnützige Organisationen, Stiftungen und Kirchen haben längst bewiesen, dass sie Bildung, dass sie Schulen organisieren können. Offensichtlich schaffen es gerade diese Institutionen und Organisationen, immer mehr Vertrauen bei den Bürgerinnen und Bürgern in Berlin zu erringen.

Wie geht es nun weiter mit der Berliner Schule? Die vermeintliche Reform des rot-roten Senats, sie führt am Kern des Problems vorbei. Es ist nicht ein einheitlich gegliedertes Schulsystem, das eine zufriedenstellende Antwort auf die so wichtige Frage von Bildungs- und Leistungsgerechtigkeit darstellt oder auch auf die vielen Schwachstellen unseres Bildungssystems. Nein, es ist die Bürgerschule mit ihren Kernelementen Freiheit, Vielfalt und Eigenverantwortung. Dies führt zu mehr Chancengerechtigkeit für alle Schüler und Schülerinnen.

[Beifall bei der FDP]

Lassen Sie mich die Eckpunkte nennen. Erstens: Bürgerschulen haben Gestaltungsfreiheit. Sie bestimmen in eigener Verantwortung, wie sie Lernziele erreichen wollen, verantworten sich über zentrale Prüfungen, Vergleichsarbeiten und einer externen Überprüfung gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern. Als Vorbild dient die niederländische Schulinspektion, die zum einen Defizite und Problemlagen feststellt, aber dann auch konkrete Maßnahmen mit den Schulen gemeinsam überlegt, um diese Probleme zu lösen.

Zweitens: Bürgerschulen verfügen frei über ein Budget. Diese Budget basiert auf differenzierten Schülerkostensätzen, die die Schulen direkt von den Eltern in Form eines Schulgutscheines erhalten. Wir wissen, dass dies bei dem eingeführten Kitagutschein gut läuft. Hier geschieht das, was wir wollen: Wahlfreiheit und transparente Finanzierung. Die Schulen erhalten so die Möglichkeit, bei Finanzentscheidungen Schwerpunkte zu setzen, und dieser Mitteleinsatz muss entweder über die Verwaltung oder den Landesrechnungshof kontrolliert werden.

Drittens: Bürgerschulen haben Personalfreiheit. Die Schulen suchen ihr Personal nach eigenen Kriterien aus. Sie bestimmen künftig selbst über die Zusammensetzung ihres Kollegiums und nicht die Verwaltung. Sie entscheiden, ob sie eine Lehrkraft oder Erzieher benötigen. Diese Entscheidung müssen Schulen selbst treffen, wie auch die Entscheidung über Zeitverträge oder leistungsabhängige Zulagen. Zu der Lehrerausbildung will ich heute nichts sagen, auch wenn sie wichtig ist. Das Thema ist ein anderes Mal dran.

Das vierte und entscheidende Merkmal der Bürgerschule ist die völlige Wahlfreiheit. Es sind die Eltern, die die Schule für ihr Kind auswählen. Die Zuordnung geschieht nicht über die Verwaltung.

[Beifall bei der FDP]

Wir brauchen dazu ein kompetentes Beratungssystem, denn Eltern müssen besser informiert werden, damit sie auch eine fundierte Entscheidung treffen können. Aber erst durch die Einführung des Schulgutscheines wird die Wahlfreiheit garantiert. Er basiert auf dem ermittelten Schülerkostensatz, kann und muss auch dann erhöht werden, wenn zum Beispiel mehr für die individuelle Förderung einzelner Schüler benötigt wird. Das muss hier ganz klar gesagt werden.

Über Schulgutscheine finanzierte Bürgerschulen stellen die Aufnahme der Schüler, die sich an ihrer Schule anmelden, sicher. Das heißt, Eltern haben die Wahl, die Schule nicht. Die Aufnahmekriterien sind diskriminierungsfrei, schulrechtlich einwandfrei und müssen von der Schulaufsicht abgesegnet werden. So entstehen transparente Kriterien, die für Eltern zugänglich sind. Sie wissen vorher, woran sie sind.

[Beifall bei der FDP]

Frau Senftleben! Leider sind Sie am Ende des Redebeitrages!

Herr Präsident! Ich bin noch nicht am Ende und möchte noch gern zwei Sätze zum Abschluss sagen. Ich glaube, sie sind noch wichtig – –

Zwei Sätze sind zu viel. Ich kann Ihnen noch einen Schlusssatz zubilligen.

[Unruhe]

Vielleicht nehmen Sie ein wenig Rücksicht auf meine angegriffene Stimme, dadurch muss ich besonders langsam sprechen.

Initiativen – so auch der Paritätische Wohlfahrtsverband, der sich an der Bürgerschule beteiligen will – und freie Träger gibt es bereits. Lassen Sie mich abschließend sagen: Es geht bei der Bürgerschule nicht darum, dass der Staat sich aus dem Schulsystem herauszieht. Nein! Gerade weil es wichtig ist, dass alle Kinder Startchancen erhalten, muss der Staat bei der Leitung von Schulen auf private Initiativen setzen.

[Uwe Doering (Linksfraktion): Das sind mehr als zwei Sätze!]

Nun bedanke ich mich sehr für Ihre Aufmerksamkeit und Ihre Geduld!

[Beifall bei der FDP]

Das Wort für die SPD-Fraktion hat der Kollege Oberg. – Bitte sehr, Herr Oberg!

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die bildungspolitische Debatte in Berlin ist von einem merkwürdigen Widerspruch geprägt: Auf der einen Seite wird von vielen Protagonisten – gerade auch hier im Haus aus den Reihen der Opposition – gefordert, den Schulen endlich einmal Ruhe zu gewähren, die Kolleginnen und Kollegen arbeiten zu lassen und die beschlossenen Reformen wirken zu lassen.

[Dr. Gabriele Hiller (Linksfraktion): Genau!]

Von der Opposition wird dies gern auch als Argument gegen unser Zukunftsprojekt Gemeinschaftsschule eingewandt. Gleichzeitig werden aber vonseiten aller Oppositionsparteien Schulstrukturvorschläge unterbreitet und damit dem eigene Ruhepostulat widersprochen.

Die CDU hat festgestellt, dass die Hauptschule ausgedient habe, und will sie mit den Realschulen zusammenlegen. Die Grünen wollen irgendwie die Gemeinschaftsschule, mögen sich aber nicht an der konstruktiven Arbeit im Beirat beteiligen. Da kann die FDP natürlich unmöglich zurückstehen und unterbreitet uns heute ihrerseits ein Konzept: die Bürgerschule.

Was verbirgt sich aber hinter diesem wohlklingenden Begriff der Bürgerschule? – An Klarheit lassen Sie es zumindest nicht mangeln. Das muss man Ihrem Antrag zugute halten. Sie sagen sehr genau, wohin Sie wollen. Die FDP strebt – mich persönlich überrascht das nicht im mindesten – eine Entstaatlichung des Schulsystems

[Mieke Senftleben (FDP): Richtig!]

und eine Umstellung auf ein privat orientiertes Schulsystem an. Wörtlich heißt es in dem Antrag, dass Sie die Überwindung der klassischen staatlich dominierten Organisation von Schulen wollen. Es wird Sie nicht wundern, wenn wir Sozialdemokraten dieser Idee herzlich wenig

abgewinnen können. Für uns ist Bildung ein öffentliches Gut, eine Kernaufgabe staatlichen Handelns.

[Mieke Senftleben (FDP): Für uns auch!]

Darum werden wir es nicht zulassen, dass Sie die Axt an das staatliche Schulsystem in Berlin anlegen werden.

[Beifall bei der SPD und der Linksfraktion ]

Aber nicht nur das Prinzip, sondern auch die Details Ihres Vorschlags muten bei genauerem Hinsehen absurd an. Sie wollen mit einem Federstrich eine radikale Schulreform herbeiführen. Dazu gehören die Auflösung der Einschulungsbereiche, die komplette Umstellung der Schulfinanzierung, Spenden und Sponsoring an Schulen als Finanzierungssäule und eine hundertprozentige Autonomie der Schulen in nahezu allen Belangen. Gegen all das ist die von Ihnen als Kulturkampf gescholtene Gemeinschaftsschule ein kleines, behutsames Reförmchen.

[Beifall bei der SPD und der Linksfraktion]

Sie stellen sich vor, dieses Konzept zunächst als Modellversuch einzuführen. Sie, liebe Frau Senftleben, müssten als erfahrene Bildungspolitikerin wissen, dass das rechtlich nicht möglich ist. Sie wollen nicht etwa nur eine Regelung des Schulgesetzes außer Kraft setzen, sondern Sie wollen das Schulgesetz von Grund auf umstürzen und das auch noch im Modellversuch. Das lassen unser Schulgesetz und andere Landesgesetze aus gutem Grund nicht zu.

[Beifall bei der SPD und der Linksfraktion]

Mit Ihrem Vorschlag verbinden sich große Versprechungen. Beispielsweise schreiben Sie:

Nur noch Leistung und Wille werden über Bildungschancen und nicht mehr Einkommen und Wohnort der Eltern entscheiden.

[Mieke Senftleben (FDP): Richtig!]

Wenn es nicht so traurig wäre, könnte man darüber lachen. Das sind große Worte, die bei näherem Hinsehen nicht halten können, was sie versprechen. Denn gleichzeitig behaupten Sie, dass die Freiheit der Schulwahl zu einer perfekten Qualitätssteuerung führe – quasi die unsichtbare Hand von Adam Smith als Patentrezept für die Berliner Schule. Dahinter steckt eine erstaunliche Gleichmacherei der FDP. Gleichmacherei, weil Sie so tun, als könnten sich alle Eltern gleich intensiv engagieren, als seien alle Familien in gleichem Maß flexibel und als hätten alle Kinder die gleichen Voraussetzungen. Sie tun so, als existierten keine Quartiere mit besonderen Problemlagen. Wir alle wissen, dass das nicht der Realität entspricht. Eine solche Realitätsmissachtung kommt dabei heraus, wenn man ökonomische Theorien vulgär auf bildungspolitische Konzepte anwendet.

[Vereinzelter Beifall bei der SPD und der Linksfraktion – Zuruf von Mieke Senftleben (FDP)]

Tatsächlich würde Ihre Bürgerschule zu etwas ganz anderem führen, nämlich zu einer noch stärkeren sozialen Entmischung an den Schulen. Die soziale Selektion und

soziale Spaltung in Berlin würden zunehmen. Ihr Konzept würde kein einziges Problem der Berliner Schule lösen.

[Henner Schmidt (FDP): Doch!]

Es würde zu einer großen Verunsicherung der Schüler, Eltern und Lehrer führen. Zudem ist es sozial unverantwortlich. Sie erwarten doch nicht, dass wir dabei mitmachen.