Protokoll der Sitzung vom 29.05.2008

Gerade unsere Stadt verdankt der europapolitischen Solidarität all unserer Nachbarn sehr viel – politisch und auch materiell. In den letzten Jahren sind über zwei Milliarden € in unzählige Projekte unserer Stadt aus Brüssel geflossen. Herr Wowereit! Das Schlimme ist, Sie wissen das alles, Sie haben im Bundesrat gegen Ihre eigene Überzeugung gestimmt. Sie haben in diesem Haus am 28. Februar in einer Fragestunde auf Fragen der Kollegin EichstädtBohlig und meines Kollegen Oliver Scholz gesagt:

Berlin war immer gut beraten, in europäischen Fragen im Zusammenklang mit den anderen Ländern in der Bundesrepublik Deutschland gemeinsam aufzutreten.

In der Tat, das war bisher so, und wir fragen Sie, warum haben Sie diese Lehre aus der Vergangenheit nicht auch am letzten Freitag beherzigt?

[Beifall bei der CDU, den Grünen und der FDP]

In den Tagen vor der Abstimmung war zu lesen, dass Europa Herrn Wowereit viel zu wichtig sei, als dass er sich enthalten könne. Der Senatssprecher hat von einer anstehenden Führungsentscheidung Wowereits gesprochen. Alle Welt rechnete damit, der Regierende Bürgermeister würde von seiner Richtlinienkompetenz Gebrauch machen, dazu ist Europa für die Bundeshauptstadt zu wichtig. Aus der sogenannten Führungsentscheidung Wowereits ist ein Bückling vor Oskar Lafontaine geworden!

[Beifall bei der CDU, den Grünen und der FDP]

Damit haben Sie kurzfristig Ihre Koalition gerettet, aber Sie haben Berlin in Deutschland und Europa Schaden zugefügt!

[Beifall bei der CDU und der FDP]

Sie sind dann durch die Lobby gegangen und haben den Journalisten erklärt, das liege an dem Diktat Lafontaines, die Berliner Linke sei nicht handlungsfähig. Die Linke – Herr Ramelow z. B. – hat darauf reagiert und gesagt, in Wahrheit sei die SPD nicht handlungsfähig. Der eine Koalitionspartner wirft dem anderen Handlungsunfähigkeit vor, der andere tut dies umgekehrt genauso – wie soll da der rot-rote Senat handlungsfähig sein?

[Beifall bei der CDU, den Grünen und der FDP]

Herr Wowereit hat dann selbst von einer Krise gesprochen. Er hat sich lange als Dompteur der Linken geriert – die tun schon, was ich sage, die wollen ja unbedingt mitregieren, ich habe die nicht nötig, die aber mich, ich entzaubere die Linke. Jetzt zeigt sich, dass die Geschichte vom Dompteur nicht wahr ist, jedenfalls nicht mehr wahr ist. In Wahrheit sind Sie auf die Linkspartei angewiesen, denn Ihre bundespolitischen Ambitionen verbinden sich mit dem Projekt Rot-Rot auf Bundesebene. Sie brauchen Rot-Rot für Ihre eigenen politischen Ambitionen. Sie sind auf die Linke heute mehr angewiesen, als die auf Sie. Herr Wowereit! Sie sind nicht mehr der Koch, Sie sind der Kellner, und diejenigen, die demnächst im Senat anrufen, rufen gleich bei Herrn Lafontaine oder Herrn Lederer an und nicht bei Ihnen!

[Beifall bei der CDU, den Grünen und der FDP]

Den Mut zur Richtlinienkompetenz, die wir gerade erst in der Verfassung verankert haben, hat es nicht gegeben. Keine Richtlinien, keine Kompetenz, keine Richtlinienkompetenz – das ist die Lage.

Dass die Linke inzwischen auch in anderen Bereichen diktiert und damit das politische Wertesystem der Stadt verändert, sehen wir bei „Pro Reli“, beim Einheitsschulprojekt, das haben wir bei Tempelhof gesehen, beim öffentlichen Beschäftigungssektor ebenso – überall setzt sich die Linke durch. Herr Müller hat in einem Interview gesagt: „Ich zeige euch, wo der Hammer hängt, wir haben schließlich die 30 Prozent“ – offenbar haben Sie es nötig, darauf hinzuweisen, weil man es sonst nicht glaubt.

Bei den anderen Projekten, bei den anstehenden Tarifauseinandersetzungen, bei der Umweltzone, wo Sie Herrn Wolf zu mehr Wirtschaftsfreundlichkeit gemahnt haben, bei dem Einheitsdenkmal, der Super-Uni – überall gibt es große Meinungsverschiedenheiten bei Rot-Rot. Und wir werden genau beobachten, wer der Koch und wer der Kellner ist. Am letzten Freitag hat sich gezeigt: Die Kräfteverhältnisse in diesem Senat haben sich verschoben – zum Schaden unserer Stadt. Wir werden als Opposition nicht müde, das immer wieder anzusprechen. – Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit!

[Beifall bei der CDU – Vereinzelter Beifall bei der FDP – Beifall von Volker Ratzmann (Grüne)]

Danke schön, Herr Kollege! – Das Wort für die Fraktion der Grünen hat nunmehr Frau Eichstädt-Bohlig. – Bitte schön!

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Regierender Bürgermeister! Es ist schon etwas anders, als der Kollege Gaebler eben gesagt hat. Er hat mit der Behauptung, „Pro Reli“ und Ethikunterricht seien heute besonders wichtig zu diskutieren, im En

deffekt erklärt, Europa und die Stellung Berlins zu Europa seien nicht wichtig. Dem müssen wir ganz entschieden widersprechen.

[Beifall bei den Grünen und der CDU – Vereinzelter Beifall bei der FDP]

Das heißt nicht, dass wir uns nicht für die Diskussion über Ethik- und Religionsunterricht in Berlin engagieren. Das werden wir noch sehr viel in der nächsten Zeit tun.

Heute, Herr Regierender Bürgermeister, erwarten wir jedoch von Ihnen eine Regierungserklärung und eine Begründung, warum sich Berlin im Bundesrat bei der Abstimmung zum EU-Reformvertrag enthalten hat. Die Opposition hat dazu einen Antrag gestellt, und wir sind der Meinung, die Opposition hat einen Anspruch, dass Sie persönlich, als Regierender Bürgermeister dieser Stadt, dieses Landes, uns gegenüber eine Stellungnahme zu Ihrem Verhalten abgeben.

[Beifall bei den Grünen und der CDU – Vereinzelter Beifall bei der FDP]

Vor der Abstimmung haben Sie gesagt, diese sei eine Führungsentscheidung. Wir stellen fest, dass Sie nicht in der Lage sind, zu führen und diese Führungsentscheidung zu treffen. Vor der Abstimmung haben Sie gesagt: Europa geht vor Koalitionsfragen. Wir stellen fest, dass offenbar doch Koalitionsfragen vor der Europafrage stehen. Vor der Abstimmung haben Sie erklärt, dass die Linkspartei nicht regierungsfähig sei, weil sie keine positive Haltung zu Europa habe. Wir stellen fest, dass auch Sie und die SPD offenbar nicht regierungs- und handlungsfähig sind, wenn Sie nicht in der Lage sind, an dieser zentralen Stelle eine klare Haltung unserer Stadt zum EU-Reformvertrag und damit zur Verfassung dieses neuen erweiterten Europas im Bundesrat durchzusetzen.

[Beifall bei den Grünen und der CDU – Vereinzelter Beifall bei der FDP]

Nach der Abstimmung haben Sie relativ hilflos erklärt, die Koalition habe sich leider nicht einigen können. Da fragen wir Sie: Warum haben Sie nicht schon beim Koalitionsvertrag diese zentrale Frage ausgehandelt? Es war doch klar, dass die Klärung in dieser Legislaturperiode ansteht und sich auch Berlin dazu verhalten muss. Stattdessen lassen Sie sich von Harald Wolf am Nasenring durch die Arena ziehen – man kann es nicht anders sagen. Es ist beschämend für Sie, für die SPD und für Berlin, dass Sie an dieser Stelle so gnadenlos eingeknickt sind.

[Beifall bei den Grünen und der CDU – Vereinzelter Beifall bei der FDP]

Dann haben Sie noch etwas erklärt, das an Peinlichkeit uns alle fassungslos macht: Sie haben erklärt, auf die Berliner Stimme sei es nicht angekommen, und wenn es darauf angekommen wäre, hätten Sie anders abgestimmt. Damit sagen Sie dem Wähler, dass es erstens auf Berlin nicht ankommt, dass es zweitens auf unsere – das heißt Ihre – politische Verantwortung nicht ankommt, und indirekt sagen Sie den Wählern damit: Liebe Berlinerinnen und Berliner! Es kommt demnächst auch gar nicht mehr

auf eure Stimmen an, ihr braucht gar nicht wählen zu gehen. Irgendjemand anderes wird schon für das Weitergehen der Politik und vielleicht auch für die SPD stimmen.

[Zuruf von der SPD: So ein Quatsch!]

Es kommt alles überhaupt nicht mehr darauf an: Das ist doch keine politische Haltung! Es ist skandalös, das überhaupt nur zu denken, geschweige denn, öffentlich als Rechtfertigung für dieses Abstimmungsverhalten auszusprechen.

[Beifall bei den Grünen, der CDU und der FDP]

Nach der Abstimmung haben Sie oder hat Michael Müller erklärt, jetzt würde die SPD endlich anfangen zu regieren. Sie habe ja 30 Prozent Stimmen. Nun wollen Sie in der Schulpolitik, in der Tarifpolitik und bei der Umweltzone der Linkspartei zeigen, wo der Hammer hängt und wie sich die SPD durchsetzen kann.

Herr Müller! Wir wüssten gern, welche Konzepte außer weniger Umweltzone und weniger Gemeinschaftsunterricht die SPD in diesen Fragen hat. Solche Konzepte sehen wir nicht, und das ist gerade das Problem unserer Stadt, dass der SPD in allen diesen Punkten Konzepte und Strategien fehlen. Deshalb: Wir sehen weit und breit keine sozialdemokratischen Konzepte für diese Stadt. Wir sehen einen Regierenden Bürgermeister, dem die Richtschnur fehlt,

[Christian Gaebler (SPD): Ist das zur Aktualität?]

nicht nur, dass er die Richtlinienkompetenz nicht wahrnehmen kann. Wir sehen leider, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, hinter Klaus Wowereit eine führungslose und stumme SPD. Das ist das besonders Tragische.

[Unruhe bei der SPD – Daniel Buchholz (SPD): So ein Unsinn!]

Würden Sie bitte zum Schluss kommen, Frau EichstädtBohlig?

Ich komme zum Schluss. Nicht mit Häme, sondern zunehmend mit Sorge sehen wir den bundesweiten Niedergang der Volkspartei SPD. Wir sehen, dass die Berliner SPD aktiv an diesem Niedergang mitarbeitet, indem sie genau das macht, was schon im Bund das Problem ist: Je mehr die SPD den Positionen der Linkspartei nachläuft, desto mehr verliert sie an Ansehen und an Glaubwürdigkeit bei den Bürgern. Das ist das Problem dieser Volkspartei. Das ist eine große Tragödie, und Sie sollten endlich aufhören, diese Politik zu verstärken, und sie stattdessen endlich wieder in das richtige Lot bringen. – Herr Wowereit! Wir fordern Sie deshalb auf, uns zu erklären, warum Sie unserer Stadt das antun!

[Beifall bei den Grünen, der CDU und der FDP]

Danke schön, Frau Kollegin! – Für die Fraktion der FDP hat nunmehr Herr Dr. Lindner das Wort. – Bitte schön, Herr Dr. Lindner!

Herr Präsident! Verehrte Damen! Meine Herren! Die Tragweite der Vorkommnisse vom letzten Freitag – nur wenige Meter von hier entfernt – und damit die Aktualität der von uns beantragten Aktuellen Stunde möchte ich Ihnen an zwei kleinen Begegnungen wenige Minuten nach der Abstimmung, auch dort drüben im Bundesrat, verdeutlichen.

Ich kam zusammen mit dem Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg und Vertretern sämtlicher seriöser Parteien – SPD, CDU, Grüne und meiner Partei – in einer kleinen Runde im Rahmen der Föderalismuskommission II. Sie hätten einmal das Entsetzen, den Spott und den Hohn der Vertreter – auch der SPD – aus anderen Landtagen zu dem Verhalten Berlins nur wenige Minuten nach dieser traurigen Abstimmung erleben müssen!

Kurz danach hatte ich das zweifelhafte Vergnügen, dem Deutschlandfunk ein Interview zu diesen Vorkommnissen geben zu können. Vor mir sprach ein irischer Minister. Dieser wurde von dem Moderator gefragt – mit Bezug auf Berlin –, wer denn in Irland gegen den Europavertrag sei. Da sagte er, keine seriöse Partei. Die Einzige sei Sinn Féin, der verlängerte Arm der IRA in Irland. Die Sinn Féin in Irland, Le Pen und die Front National in Frankreich, ebenfalls der Revolutionär-Kommunistische Bund in Frankreich, die ultranationalistische Ataka-Partei in Bulgarien, Pim Fortuyn in den Niederlanden, die Front National in Belgien, die „Wahren Finnen“, ein rechtspopulistischer Club in Finnland, die Kommunistische Partei Böhmen und Mähren – kurzum: das politische Jauchefass Europas, und mittendrin die Linkspopulisten um Lafontaine und IM Gregor. Das sind die Parteien, die an Ihrer Seite stehen!

[Beifall bei der FDP und der CDU]

Deswegen stehen Sie auch völlig zu Recht im Verfassungsschutzbericht des Bundes. Da wird Ihnen ein ambivalentes Erscheinungsbild attestiert. Dann kommt eine Aufzählung unappetitlich anmutender Gruppierungen Ihrer Partei: die Kommunistische Plattform, die Linke, das Marxistische Forum, die Sozialistische Linke, die Arbeitsgemeinschaft Cuba Si und anderes. Dann wird eine Sammlung von Zitaten beigefügt, um die Gesinnungslage Ihrer Partei zu verdeutlichen. Ich zitiere eine Stelle, auf Seite 137 des Berichts:

Wir treten für einen Systemwechsel ein. Der Kapitalismus entblößt sein asoziales, weil ausbeuterisches, aggressives und kulturfeindliches Wesen täglich mehr. Letztlich muss er überwunden werden.

Mit so einer Partei führt man keine Regierung, Herr Wowereit!

[Beifall bei der FDP und der CDU]

Wer mit so einer Partei regiert, blamiert und isoliert Berlin. Das lehnen wir ab!

[Beifall bei der FDP und der CDU]