Protokoll der Sitzung vom 14.12.2006

[Dr. Frank Steffel (CDU): Das stimmt!]

Berlin gehört heute zu den bedeutendsten und begehrtesten Städten der Welt und gilt als Ort für Kreativität und Innovation. Die Stadt ist zusammengewachsen. Ost und West spielen kaum noch eine Rolle. Die Bürgerinnen und Bürger nehmen ihre Stadt heute anders wahr als zu Zeiten der großen Koalition. Sie wissen, dass die Probleme nach wie vor enorm groß sind, aber sie wissen auch, dass Berlin eine Stadt des Wandels ist. Es ist Aufgabe jedes Einzelnen, diesen Wandel mitzugestalten.

Wir leben in einer Gesellschaft, in der es vielen Menschen so gut geht wie nie zuvor. Das darf man bei dem permanenten Krisengerede, das jeden Tag durch die Öffentlich

keit geistert, nicht vergessen. Auch in Berlin führt die Mehrheit der Menschen ein gutes Leben in Freiheit und Wohlstand und ohne Existenznöte. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass unsere Gesellschaft von Spaltungstendenzen bedroht ist. Wir sind nicht die Hauptstadt der Arbeitslosigkeit, aber auch bei uns gibt es Menschen, die in einer Situation der Armut, Arbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit gefangen sind. Diese Menschen sind nicht nur arbeitslos und arm an Geld und Besitz, sondern auch von gesellschaftlicher Teilhabe abgekoppelt. Armut macht einsam. Abhängigkeit von staatlichen Transferleistungen und Perspektivlosigkeit erzeugen ein Gefühl des Überflüssigseins. Die Menschen, die davon betroffen sind, werden von der Politik oft nicht erreicht. Sie erhoffen sich auch nichts mehr von der Politik.

Darin liegt eine große Gefahr für unsere Gesellschaft und die Demokratie. Leider nutzen rechtsextreme Parteien oftmals dieses Gefühl der Ohnmacht und des Ausgegrenztseins für ihre politischen Ziele. Sie gaukeln einfache Lösungen vor und schüren Fremdenfeindlichkeit indem sie behaupten, die Ursachen für Arbeitslosigkeit und Armut lägen in der Zuwanderung. Wir wehren uns gegen solche falschen Behauptungen und setzen auf den demokratischen Konsens aller Parteien gegen rechts. Es ist eindeutig, Herr Pflüger, dass die Gefahr von rechts kommt. Daran gibt es auch nichts zu relativieren, wie Sie es in der letzten Parlamentssitzung versucht haben.

[Beifall bei der SPD und der Linksfraktion]

In keinem Parlament sitzen linksextreme Gruppen. Indem Sie Links- und Rechtsextremismus als real gleichgewichtige Gefahren bezeichnen, weichen Sie dem Problem aus.

Ich halte das für vollkommen falsch. Ich fordere Sie auf, sich weiter gemeinsam mit uns gegen die konkrete Gefahr von rechts zu engagieren.

[Beifall bei der SPD und der Linksfraktion]

Die Politik ist aufgefordert, den Spaltungstendenzen in unserer Gesellschaft durch Sozialpolitik, Arbeitsmarktpolitik und Wirtschaftspolitik entschieden entgegenzutreten. Wir müssen in einer neuen Weise für gesellschaftlichen Zusammenhalt werben. Wir müssen zeigen, dass wir in einer Stadt leben, in der alle dazugehören.

Wir benötigen eine neue Integrationspolitik. Mit Integration ist bislang der Prozess der Eingliederung von Einwanderinnen und Einwanderern in die Gesellschaft gemeint. In diesem wichtigen Sinn ist Integration seit einiger Zeit in aller Munde. Integration bedeutet jedoch viel mehr. Es bedeutet die Einbeziehung aller Menschen in die Gesellschaft. Es geht dabei um die Integration von Arbeitslosen in die Arbeitsgesellschaft, von Obdachlosen in ein Leben mit einem eigenen Dach über dem Kopf, von Menschen mit Behinderung in das ganz normale Alltagsleben, von Kindern aus allen Schichten in ein faires und gerechtes Bildungssystem, von Auszubildenden in eine berufliche Perspektive, von Alleinerziehenden in die Berufswelt, von Einbeziehung von Männern in die Familien

arbeit. Die Reihe der Beispiele könnte endlos fortgesetzt werden.

Heute muss es bei Integration um ein neues Modell von Gesellschaftspolitik gehen. Hier ist die Politik auf die Mithilfe einer aktiven Bürgergesellschaft angewiesen. Eine aktive und solidarische Bürgergesellschaft ist die Voraussetzung für die Gestaltung von Integration und Innovation. Denn Innovation ist ein weiterer Grundzug unserer Zeit. In rasender Geschwindigkeit und permanent erneuern sich alle Lebensbereiche. Da ist es für viele Menschen nicht einfach, Schritt zu halten. Innovation kann auch das Gegenteil von Integration bedeuten. Wer heute nicht online ist, wer nicht ständig mobil erreichbar ist, wer allein Kinder zu erziehen hat, wer die neuesten Moden und Entwicklungen nicht kennt, der hat es schwer, integriert zu bleiben.

Wir wollen eine Politik machen, die Innovation und Integration zusammendenkt.

[Dr. Martin Lindner (FDP): Dann macht sie doch!]

Wir haben alle Chancen dazu. Berlin ist die einzige Stadt in Deutschland, die bereits heute in der Lage ist, das große Potenzial des städtischen Lebens unter den Bedingungen der Globalisierung zu erschließen und zu nutzen. Wir wollen für Deutschland Vorbild sein. Wir wollen zeigen, dass wirtschaftliche und soziale Integration zwei Seiten derselben Medaille sind. Dazu benötigen wir Bürgerinnen und Bürger, die sich in die öffentliche Debatte einmischen. Willy Brandt hat das schon in den sechziger Jahren formuliert:

Politik braucht keine Bewunderer, sondern Menschen, die kritisch mitdenken, mitentscheiden und mitverantworten.

[Beifall bei der SPD und der Linksfraktion]

Wir können heute sagen, in Berlin leben solche Menschen. Sie verfügen über ein riesiges Potenzial an Erfahrungen, Fähigkeiten und auch über die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen. Zehntausende Berlinerinnen und Berliner engagieren sich ehrenamtlich. Ich habe vorhin das Aufstöhnen nicht verstanden! – Selbstverständlich auch in der Arche für andere Kinder oder in der Berliner Tafel, wo Essen für Bedürftige organisiert wird. Der RBB zeigt im Augenblick sehr eindrucksvoll, wie Menschen von ihrer Freizeit jeden Tag etwas opfern, um sich für andere zu engagieren.

Wir haben sehr viele solcher Menschen auch in schwierigen Bezirken, in Kreuzberg,

[Zuruf von Özcan Mutlu (Grüne)]

in Neukölln, die sich dort gerade in der Bildungsarbeit engagieren. Wir haben Lehrer und Eltern, die sich über das normale Maß in der Bildungsarbeit engagieren. Das erfolgt unter schwierigsten Rahmenbedingungen. Dieses Engagement ist hervorragend. Wir haben weitere gute Beispiele in Kreuzberg, am 1. Mai, wo sich die Anwohnerinnen und Anwohner gemeinsam mit der Polizei der Ge

walt entgegenstellen und aus ihrem Kiez Demonstranten vertrieben haben. Sie haben so Lebensqualität zurückgewonnen.

Wir haben in Neukölln ebenfalls positive Beispiele. Dort haben die Mieterinnen und Mieter gemeinsam mit dem Quartiersmanagement, der Polizei und den Wohnungsbaugesellschaften die Kriminalität um 30 % reduziert. Das sind die richtigen Initiativen, die wir weiterhin unterstützen und fördern werden, genauso, wie wir das im Koalitionsvertrag festgehalten haben. Dieses Engagement benötigen wir in Berlin.

[Beifall bei der SPD und der Linksfraktion]

Oft herrscht noch ein Denken vor, dass bürgerschaftliches Engagement nur willkommen ist, wenn dadurch das Verwaltungshandeln nicht gestört wird. Aber wir brauchen ein neues Bewusstsein. Das soziale Engagement von Bürgerinnen und Bürgern muss in Politik und Verwaltung eine stärkere Bedeutung erlangen. Aus unserer Sicht liegt die Zukunft der sozialen Demokratie in dieser solidarischen Bürgergesellschaft.

Bürgerschaftliches Engagement bedeutet jedoch nicht Rückzug des Staates. Im Gegenteil! Das freiwillige Engagement von Bürgerinnen und Bürgern benötigt einen handlungsfähigen Staat, der für soziale Sicherheit und Daseinsvorsorge steht. Deshalb werden wir auch dafür sorgen, dass die Unternehmen des öffentlichen Daseins bei der öffentlichen Hand bleiben. Staatliche Leistungen werden wir weiterhin in den Bereichen der Gesundheitsversorgung, bei der Mobilität, der Wasserwirtschaft, in den Bereichen des Wohnens oder der Umwelt garantieren. Rot-Rot steht für diesen Kurs, dass es eine Sicherheit und eine staatliche Garantie in diesen Kernbereichen der Daseinsvorsorge gibt. Für diesen Weg haben wir eine breite Unterstützung in der Bevölkerung.

[Beifall bei der SPD und der Linksfraktion]

Eines der wichtigsten Felder unserer Politik der Integration und Teilhabe ist die Bildungspolitik. Bildung ist die Voraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe. Das Maß an Bildung, das der Einzelne genießt, ist für die Persönlichkeitsentwicklung prägend und bestimmt darüber hinaus ganz wesentlich seine Chancen für Beruf und Gesellschaft. Für uns Sozialdemokraten ist Bildung nicht nur aus Wettbewerbsgründen von zentraler Bedeutung. Nein, auch unsere Demokratie ist auf wache, gebildete Menschen angewiesen,

[Mieke Senftleben (FDP): Stimmt!]

die sich für das Gemeinwesen interessieren und sich einmischen und mitmischen wollen. Damit kann man nicht früh genug anfangen! Bildung beginnt daher, neben dem Elternhaus, bereits im Kindergarten.

[Mieke Senftleben (FDP): Ach!]

Wir haben deshalb in der letzten Wahlperiode die Kita weiterentwickelt, weg von einer Betreuungs-, hin zu einer Bildungseinrichtung. Das wird uns jetzt auch durch die

Studie der Initiative Soziale Marktwirtschaft attestiert. Sie bestätigt,

[Zuruf von Mieke Senftleben (FDP)]

dass Berlin bundesweit Spitze ist, nicht nur, was die Platzzahlen, die Ausstattung anbelangt, sondern auch, was die Qualität anbelangt. Das ist eine hervorragende Entwicklung, die wir in den letzten Jahren durchgesetzt haben.

[Beifall bei der SPD und der Linksfraktion – Mieke Senftleben (FDP): Genau das sagt die Studie eben nicht!]

Wir machen so weiter! Wir geben uns damit nicht zufrieden! Bis jetzt haben wir die gebührenfreie Kita – ab 2007 das letzte Jahr vor der Einschulung gebührenfrei –, 2010/2011 werden die nächsten Jahre folgen. Die gebührenfreie Kita und das Berliner Bildungsprogramm sind weitere wichtige Schritte auf unserem Weg. Wir wollen, dass möglichst alle Kinder den Kindergarten besuchen und Chancenungleichheiten so früh wie möglich begegnet werden kann.

Dass die Debatte jetzt auch auf Bundesebene geführt wird, bestärkt uns. Wir sagen das seit Jahren. Es gibt keinen Berliner Sonderweg der Überausstattung in diesem Bereich des Bildungswesens. Wir reagieren angemessen auf eine bestimmte soziale und bildungspolitische Situation. Wir haben früher als andere die Bedeutung des Kindergartens für das Bildungssystem erkannt. Es ist schön, dass andere unserem positiven Beispiel folgen.

[Beifall bei der SPD und der Linksfraktion]

Wir haben in der Koalitionsvereinbarung den Einstieg in ein Modell der Gemeinschaftsschule auf freiwilliger Basis festgelegt. In der Gemeinschaftsschule werden alle Kinder gemeinsam unterrichtet und gleichzeitig individuell gefördert. Fünf solcher Schulen haben wir bereits in Berlin. In jedem Bezirk soll es mindestens eine weitere geben, d. h. 12 sollen hinzukommen. In vielen europäischen Ländern hat sich dieses Modell seit langem bewährt. Nur hierzulande scheint es damit nicht so einfach zu sein. Teile der Opposition, besonders die CDU, diffamieren die Gemeinschaftsschule von Beginn an mit dem Wort „Einheitsschule“. Sie versuchen damit, die Kulturkämpfe der siebziger Jahre wieder zu beleben. Gleichmacherei, Einheitsbrei, das ist das, was Sie suggerieren wollen. Aber genau darum geht es überhaupt nicht. Wir werden diesen Kulturkampf

[Zuruf von Dr. Martin Lindner (FDP)]

nicht mitmachen, den Sie heraufbeschwören. Wir werden keinen Kulturkampf gegen andere Schulformen oder das Gymnasium führen.

[Zurufe von Dr. Martin Lindner (FDP) und Mike Senftleben (FDP)]

Aber wir werden nicht nachlassen, nach neuen Wegen zu einer Schule zu suchen, die Chancengleichheit fördert und nicht verhindert.

[Beifall bei der SPD und der Linksfraktion]

Sie können eine soziale Situation nicht wegdiskutieren, sondern Sie müssen politisch darauf antworten! Die unglückliche Verbindung von sozialer Herkunft und Bildungserfolg gilt es aufzubrechen und schrittweise abzubauen. Wer das nach PISA noch nicht begriffen hat, dem ist auch nicht zu helfen, Kollege Lindner!

[Beifall bei der SPD und der Linksfraktion – Özcan Mutlu (Grüne): Und was ist mit den Hauptschulen?]

Schulpolitik kann nicht ohne das Engagement von Eltern, Lehrern und Schülern funktionieren. Wir geben den Schulen mehr Verantwortung. Sie erhalten Vertretungsmittel in Höhe von 3 % des Personalvolumens zur eigenverantwortlichen Verwendung. Langzeiterkrankte Lehrkräfte werden künftig bei der Personalausstattung herausgerechnet.

[Zuruf von Mieke Senftleben (FDP)]