Protokoll der Sitzung vom 20.05.2010

Herr Abgeordneter Hoffmann! Ihre Redezeit ist beendet, kommen Sie bitte zum Schluss!

Das gelingt Ihnen nicht!

[Beifall bei der CDU]

Vielen Dank, Herr Abgeordneter Hoffmann! – Für die SPD-Fraktion hat nun Frau Radziwill das Wort.

[Thomas Birk (Grüne): Wo ist die Senatorin? – Zuruf von der Linksfraktion: Stunden später bemerken Sie das! – Özcan Mutlu (Grüne): Das haben wir von Anfang an gesagt!]

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Werte Kollegen und Kolleginnen! Heute steht ein innovativer Gesetzentwurf des Senats zur Abstimmung.

[Beifall bei der SPD – Özcan Mutlu (Grüne): Ohne die Senatorin!]

Es ist ein großer Moment für die Betroffenen und ein wegweisender und wichtiger Beschluss für die Sozial- und Pflegepolitik im Land Berlin.

[Özcan Mutlu (Grüne): Abwarten!]

Mit der heutigen Zustimmung zur Vorlage – Gesetz über Selbstbestimmung und Teilhabe in betreuten gemeinschaftlichen Wohnformen – findet ein monatelanger Dialogprozess mit den Betroffenenverbänden, den Wohlfahrtsverbänden, mit den Einrichtungsvertretern und vielen anderen Akteuren in der Berliner Sozial- und Pflegepolitik sowie der Sozialverwaltung und den Fachabgeordneten der Fraktionen im Abgeordnetenhaus seinen Abschluss. Wir haben viel Zustimmung für den Gesetzentwurf des Senats und für die von den Koalitionsfraktionen erweiterten Änderungen erhalten.

Durch die Föderalismusreform I ist das Heimordnungsrecht vom Bund auf die Länder übertragen worden. Der daraus resultierende Novellierungsbedarf wird mit der Vorlage des Wohnteilhabegesetzes aufgegriffen. Das alte Heimrecht wird zu einem modernen Verbraucherschutzgesetz entwickelt.

Wir verabschieden heute ein Gesetz,

[Özcan Mutlu (Grüne): Nee, erste Lesung! – Zuruf von Christian Gaebler (SPD)]

welches den Geist der UN-Konvention, das Recht auf Teilhabe und das Recht auf selbstbestimmtes Leben innehat. In diesem Wohnteilhabegesetz werden genau diese Aspekte berücksichtigt. Im Interesse der Bewohnerinnen und Bewohner von Pflegeeinrichtungen sowie der Nutzerinnen und Nutzer von betreuten Wohngemeinschaften bieten wir gerade ihnen mit diesem Gesetz mehr Schutz – mehr Schutz vor Missbrauch, mehr Schutz vor schlechter Pflege, mehr Schutz vor schlechter Betreuung.

Die zentrale Neuerung des Gesetzes ist die Aufnahme von betreuten Wohngemeinschaften – neben den klassischen stationären Wohnformen – in den Anwendungsbereich. Damit reagieren wir auf den Umstand, dass eine Heimunterbringung für die meisten Menschen nur als Ultima Ratio in Betracht kommt und sich in den letzten Jahren deshalb neue Wohn-, Pflege- und Betreuungsformen entwickelt haben, die dem Bedürfnis nach Selbstbestimmung, Normalität und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben Rechnung tragen. Ziel ist es, mit dem Instrument des Ordnungsrechts ältere Pflegebedürftige und/oder behinderte volljährige Menschen bei der Wahrnehmung ihrer Interessen und Bedürfnisse in betreuten gemeinschaftlichen Wohnformen zu unterstützen und vor Beeinträchtigungen zu schützen. Ich will Ihnen einige wesentliche Inhalte des Gesetzes aufzählen.

Erstens: Es wird die Meldepflicht bei Wohngemeinschaften für pflegebedürftige Personen eingeführt, alle betreuten gemeinschaftlichen Wohnformen werden nun registriert. Diese Wohnformen fallen unter das Ordnungsrecht; damit sind anlassbezogen mehr Kontrollen möglich. Gerade in Wohngemeinschaften für pflegebedürftige Menschen werden immer häufiger Defizite in der Pflegequalität festgestellt. Mit dem Gesetz führen wir eine entsprechende Meldepflicht ein. Um der Privatheit selbstbestimmter Wohnformen Rechnung zu tragen, ist für betreute Wohngemeinschaften eine Prüfung durch die Aufsichtsbehörde nur aus begründetem Anlass vorgesehen.

Zweitens: Die Weiterentwicklung der Aufsichtsbehörde als Beratungs- und Informationsinstitution ist uns ein wesentliches Anliegen. Unser Ziel lautet: mehr Beratung statt Intervention.

Drittens: Wir bieten den Bewohnern und Bewohnerinnen sowie Nutzern und Nutzerinnen mit diesem modernen Gesetz mehr Möglichkeiten der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben – z. B. durch das Zurverfügungstellen von

Begleitung für wichtige Termine außerhalb der Einrichtung.

Viertens: Es sind mehr Mitspracherechte sowie umfassende Mitwirkungsrechte für Bewohner und Bewohnerinnen von stationären Einrichtungen aufgenommen worden.

Fünftens: Es wird mehr Transparenz erreicht und bessere Informationsmöglichkeiten über Prüfberichte für Betroffene und Angehörige sichergestellt.

Sechstens: Die Förderung der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft sowie Förderung des bürgerschaftlichen Engagements ist ein wesentlicher Bestandteil des Gesetzes.

Siebtens – ein wichtiger Punkt: Es wird die Verankerung von Bewohnerbefragungen durch Nutzer und Nutzerinnen anderer gemeinschaftlicher betreuter Wohnformen sichergestellt. Damit kann eine weitergehende Bewertung von Einrichtungen für Betroffene erreicht werden.

Stimmen Sie daher diesem modernen und innovativen Gesetzesvorschlag zu, damit den Betroffenen, den Bewohnern und Bewohnerinnen sowie den Nutzern und Nutzerinnen mehr Schutz und ein weitgehend selbstbestimmtes Leben auch bei Pflegebedürftigkeit ermöglicht werden kann!

Frau Abgeordnete, Ihre Redezeit ist zu Ende!

Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. – Den Entwurf der CDU-Fraktion lehnen wir ab, weil dieser unsere Ansätze nicht erfüllt, weit hinter den Erwartungen an ein modernes Gesetz zurückbleibt und es auch in der Fachöffentlichkeit keine Zustimmung für den Entwurf der CDU gibt. Daher freue ich mich auf Ihre Unterstützung und bedanke mich für die Aufmerksamkeit.

[Beifall bei der SPD und der Linksfraktion]

Vielen Dank, Frau Abgeordnete Radziwill! – Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun Frau Abgeordnete Villbrandt das Wort.

Eins vorneweg, Frau Präsidentin: Ich finde es unmöglich, dass es die Senatorin bei einem so wichtigen Punkt nicht für nötig hält, von Anfang an hier zu sein.

[Beifall bei den Grünen, der CDU und der FDP]

Wir verabschieden nicht ständig Gesetze von solcher Tragweite, das finde ich nicht korrekt.

[Christian Gaebler (SPD): Stimmen doch sowieso nicht zu! – Gregor Hoffmann (CDU): Unerhört! – Özcan Mutlu (Grüne): Peinlich!]

Doch, das sage ich ganz klar! – Und jetzt fange ich an.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Durch die Föderalismusreform haben die Länder mehr Verantwortung für die Pflege bekommen. Obwohl wir dieser Übertragung an die Länder bei dem Heimgesetz nicht zugestimmt haben, sind wir jetzt, wo die Ergebnisse einiger Länder vorliegen, froh über die Chance, dass wir in Berlin ein Gesetz verabschieden können, das auf unsere Stadt zugeschnitten ist und sich an heutige Vorstellungen von Leben und Versorgung bei Pflegebedürftigkeit und Behinderung anpasst.

[Beifall bei den Grünen]

Die meisten Menschen können sich bei Pflegebedürftigkeit nicht mehr vorstellen, in traditionellen Pflegeheimen versorgt zu werden. Die Heimunterbringung ist kein zukunftsfähiges Modell mehr.

[Beifall bei den Grünen]

Das neue Gesetz muss darauf reagieren, die Weiterentwicklung der Einrichtungsarten unterstützen, aber auch – und das ist uns sehr wichtig – die Qualität der Versorgung sichern.

[Beifall bei den Grünen]

Deshalb konnten wir uns in Berlin nicht einfach dem brandenburgischen Weg anschließen.

Berlin musste ein eigenes Gesetz stricken, das den Anforderungen des Landes genügt. Meine Fraktion hat bereits 2007 Eckpunkte zum künftigen Gesetz vorgelegt, und wir freuen uns sehr, dass einiges davon im Wohnteilhabegesetz zu finden ist – leider aber nicht alles. Daher möchte ich hier exemplarisch drei Beispiele nennen, bei denen wir mit dem Gesetzentwurf nicht einverstanden sind.

Erstens: Die Erweiterung des Geltungsbereiches des Gesetzes auf ambulant betreute Wohnformen halten wir für unverzichtbar. Richtig wäre es aber gewesen, wenn RotRot die alten Strukturen von ambulant und stationär ganz verlassen hätte. Der Mensch und nicht die Wohnform muss im Mittelpunkt stehen.

[Beifall bei den Grünen]

Fürsorgepflicht darf sich nicht danach richten, wie ein Mensch wohnt, ob alleine oder mit mehreren Menschen zusammen, sondern muss sich danach richten, ob er selbst die Qualität der Versorgung überwachen kann oder Hilfsstrukturen dazu benötigt.

[Beifall bei den Grünen]

Zweitens: Die Interessen der Bewohnerinnen und Bewohner der Wohngemeinschaften hätten besser geschützt werden müssen. Wir haben deshalb gefordert, dass bei der Anmeldung der Wohngemeinschaft auch ein Konzept vorgelegt werden muss – leider ohne Erfolg. Dabei hat

der Treberhilfeskandal deutlich gemacht, dass wir eben nicht auf Qualitäts- und Transparenzsicherung verzichten können. Wir wissen, dass das Betreiben von Wohngemeinschaften für Menschen mit Demenz durch die Pauschalforderungen sogenannter Leistungskomplexe finanziell lukrativ geworden ist. Wir müssen aber sicherstellen, dass die Leistung auch bei den Hilfebedürftigen ankommt.

[Beifall bei den Grünen]

Der Verdacht drängt sich auf, dass der Senat hier nach dem Motto verfährt: Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß. Das ist ein Kalkül, denn dann heißt es wieder: Wir haben für die Kontrolle keine Handhabe.

Drittens: Die Selbstbestimmung der Bewohnerinnen und Bewohner kommt zu kurz, zum Beispiel bei der Frage der gesundheitlichen Versorgung in den Einrichtungen. Viele Menschen haben die berechtigte Angst, im Falle der Pflegebedürftigkeit fremdbestimmt zu werden. Sie wollen sich selbst entscheiden, ob und von wem sie Behandlung annehmen.