Protokoll der Sitzung vom 09.12.2010

Soll JÜL freiwillig stattfinden? Oder machen wir den Affenzirkus weiter? – Das kann es nicht sein! Ein Jahr vor der Wahl, Herr Senator, und vier Jahre nach der Wahl greift bei Ihnen der Erkenntnisprozess, bei den Kollegen Mutlu, Zillich und Kollegin Tesch lässt dieser Erkenntnisprozess offensichtlich noch sehr lange auf sich warten.

[Beifall von Christoph Meyer (FDP) – Özcan Mutlu (Grüne): 3 Prozent!]

Bei Ihnen, lieber Herr Mutlu, minus 3 Prozent! Und das wird noch mehr werden, das verspreche ich Ihnen! – Sie legen ein Qualitätspaket vor – nein: zwei –, in denen Sie sich um das Thema JÜL kümmern. Schön, Sie haben nun in der Tat nach vierjähriger Tätigkeit als Senator erkannt, dass das mit JÜL nicht so ganz zu funktionieren scheint. Die Planung ist danebengegangen. Abgesehen davon, dass es generell mit der Planwirtschaft so eine Sache ist, mit Ihrer Bildungsplanwirtschaft klappt es schon lange nicht. Wir haben es hier mit Menschen zu tun, und zwar mit großen und kleinen Menschen, die etwas lernen wollen und sollen, und mit Menschen, die etwas lehren wollen und sollen. Aber wir haben hier nichts mit Bildungs

planwirtschaft zu tun. Diese Ansage ist nicht nur an Sie gerichtet, Herr Senator! Die Kolleginnen und Kollegen von Rot-Rot und Grün dürfen sich gleichermaßen angesprochen fühlen. Sie sitzen alle hier – wunderbar! Sie haben das Modell immer verteidigt, tun es auch heute noch. Mich schockiert das eigentlich. Nach dem Motto: Wenn etwas an einigen Schulen gut funktioniert, ist es auch für alle richtig und bringt die gewünschten Lernerfolge. Sie haben alle planwirtschaftlich gedacht: Die Linke, Grüne, Rote.

[Beifall bei der FDP]

Natürlich gibt es Schulen, an denen es klappt, verehrte Frau Dr. Tesch. Das sind insbesondere die Modellschulen. Das bestreite ich überhaupt nicht. Wir müssen uns aber fragen, was JÜL gebracht hat. Hat es nur Freude gebracht? – Wir wissen ganz genau, dass es anständig Ärger gebracht hat. JÜL hat aber auch Fakten gebracht. Es sind zum einen die Ergebnisse bei Wiederholern oder bei Springern. Jedes fünfte Kind bleibt länger in der Phase. In Marzahn sind es übrigens fast die Hälfte. Das muss man auch einmal erwähnen dürfen. Zum anderen springen nur 0,7 Prozent der Schüler. Es sind nur 0,7 Prozent. Weniger als ein Drittel der Hochbegabten werden in diesem System identifiziert. Ich habe den Eindruck, Sie haben es begriffen, aber nicht die Herren und Damen, die vor mir sitzen.

[Beifall bei der FDP]

Tatsache ist auch, dass Kinder, die nun fast vier Jahre durch die Berliner Schulen oder Bildungseinrichtungen gelaufen sind, nicht in der Lage sind, am Vergleichstest teilzunehmen. Sie verstehen den Großteil der Aufgaben nicht. Es liegt nicht daran, dass sie eventuell zu dumm sind. Nein, es liegt schlicht daran, dass ihnen das Sprachverständnis fehlt. Bleiben bzw. werden wir ehrlich: Hier läuft etwas verkehrt.

Herr Senator! Nun stehen Sie gemeinsam mit Ihren Kollegen mit der rot-roten Koalition hier. Sie können nicht anders, akzeptieren offensichtlich Fakten und ziehen die Reißleine, ein Jahr vor der Wahl, anders ausgedrückt, vier Jahre nach der Wahl. Eines finde ich schon ziemlich verheerend. Sie haben immer wieder gesagt, JÜL müsste theoretisch klappen. Diesen Spruch finde ich wirklich unglaublich. In der Theorie klappt vieles. Beweisen muss sich die Theorie jedoch in der Praxis. Die JÜL-Praxis zeigte von Beginn an, dass dort etwas aus dem Ruder läuft. Ich nehme hier ausschließlich die Modellschulen aus.

[Beifall bei der FDP und der CDU]

Rot-Rot wollte gemeinsam mit Grünen partout diese Methode für alle einführen, weil deren Ideologie, Ihre Ideologie, letztlich keine wirkliche Individualisierung und keine echte Eigenverantwortung zulässt. Damit sind wir beim Thema. Das Parlament hat sich von Beginn an verweigert, seit wir die Debatte um JÜL führen, unserem Vorschlag zu folgen, JÜL auf freiwilliger Basis einzuführen. Wir Liberalen waren damals der Überzeugung, dass die Entscheidung in die Schulkonferenz gehört und von

den Beteiligten mitgetragen werden muss, weil es um das Schulprofil und Eigenverantwortung geht. Lediglich die CDU hat es dann auch irgendwann einmal begriffen, denn Ihre Vorgängerin, Herr Steuer, hat JÜL zunächst komplett abgelehnt. Für Ihre ideologische JÜL-Mission, meine verehrten Kollegen und Kolleginnen von Rot-Rot, haben Sie bildungspolitischen Kahlschlag betrieben.

Drei Beispiele will ich dazu nennen: Es wurden die Vorklassen abgeschafft, die sonderpädagogischen Förderklassen wurden abgeschafft, die Rückstellungsmöglichkeiten wurden abgeschafft.

Frau Kollegin! Drei Beispiele sind zu viel.

[Heiterkeit]

Das stimmt. Sie sind auch zu viel, Herr Präsident! Die Rückstellungsmöglichkeiten sind wieder im Gesetz verankert. Ich finde, dass dazu auch die Freiwilligkeit von JÜL gehört. Es ist klar, die Schulen brauchen wieder Verlässlichkeit und Vertrauen. – Danke!

Vielen Dank, Frau Kollegin! – Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Der Ältestenrat schlägt die Überweisung an den Ausschuss für Bildung, Jugend und Familie vor. – Hierzu höre ich keinen Widerspruch.

Ich rufe auf die

lfd. Nr. 4.5:

Dringlicher Antrag

Wirksamer Jugendschutz im Netz statt Stigmatisierung aller Telemedienanbieter

Antrag der Grünen Drs 16/3701

in Verbindung mit

Dringliche zweite Lesung

Gesetz zum Vierzehnten Rundfunkänderungsstaatsvertrag

Beschlussempfehlung EuroBundMedienBerlBra Drs 16/3704 Vorlage – zur Beschlussfassung – Drs 16/3404

Wird den Dringlichkeiten widersprochen? – Das ist nicht der Fall.

Ich eröffne die zweite Lesung und schlage vor, die Einzelberatung der zwei Paragrafen miteinander zu verbinden, und höre hierzu keinen Widerspruch. Ich rufe die Überschrift und die Einleitung sowie die zwei Paragrafen sowie den Vierzehnten Rundfunkänderungsstaatsvertrag

Drucksache 16/3404 auf. Für die gemeinsame Beratung steht den Fraktionen jeweils wieder eine Redezeit von bis zu fünf Minuten zu. Das Wort für die Fraktion der Grünen hat die Kollegin Ströver. – Bitte schön!

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Jugendmedienschutz ist im Zeitalter von Internet und digitalen elektronischen Medien absolut wichtig. Wir brauchen wahrgenommene und aktive Verantwortung der Inhalteanbieter im Internet, genauso wie aktiven Ausbau der Medienkompetenz auf der anderen Seite. Das ist völlig unbestritten.

[Beifall bei den Grünen – Vereinzelter Beifall bei der CDU und der FDP]

Diesem Anspruch genügt der hier vorgelegte Vierzehnte Rundfunkänderungsstaatsvertrag in keiner Weise. Er soll den alten Jugendmedienschutzstaatsvertrag ändern. Der besteht seit 2003. Dort gilt ein Jugendschutz für das Internet, weil sogenannte entwicklungsbeeinträchtigende Angebote für Kinder und Jugendliche unzugänglich sein sollen.

Nun sollen die Anbieter im Internet mit dem neuen Staatsvertrag Alterskennzeichnungen an ihre Seiten anbringen, damit sie durch neu zu schaffende Jugendschutzprogramme ausgefiltert werden. Anbieter sollen ihre eigenen Programme klassifizieren ab 0 Jahren, ab 6 Jahren, ab 12 Jahren, ab 16 Jahren und ab 18 Jahren. Jeder einzelne Anbieter soll selbiges tun. Wer keine Angaben macht, wird ausgefiltert. Ich frage mich, wie das geschehen soll.

Am 1. Januar 2011 bereits soll dieser neue Staatsvertrag in Kraft treten. Ich denke, er scheitert an sich selbst, nämlich an der Umsetzung.

[Beifall bei den Grünen und der FDP – Vereinzelter Beifall bei der CDU]

Es gibt keine Kriterien zur Klassifizierung. Niemandem wird ein Instrumentarium an die Hand gegeben, wie welches Alter für welchen Inhalt festzustellen ist. Niemand bekommt ein allgemeingültiges elektronisches Jugendschutzprogramm – ein Programm, das für Eltern, Erzieher, öffentliche Einrichtungen geeignet ist, gemäß diesen Filtern einzelne Inhalte zuzulassen oder nicht zuzulassen. Dabei soll dieser Staatsvertrag in drei Wochen in Kraft treten. Können Sie mir sagen, wie man das jetzt machen will? Ich weiß es nicht. Er läuft ins Leere, weil das Internet eben nicht unter rundfunkrechtliche Bestimmungen zu fassen ist: Das ist der Sender, und das ist der Empfänger. Das geht eben nicht.

Noch absurder ist, wenn die Programme ab 18 klassifiziert sind. Damit weiß doch jeder Internethacker sofort, wie er genau an diese ab 18 klassifizierten Programme herankommt. Im schlimmsten Fall erreicht also dieser Staatsvertrag genau das Gegenteil dessen, was er beabsichtigen will. Deswegen sagen wir: Macht das nicht!

[Beifall bei den Grünen und der CDU – Vereinzelter Beifall bei der FDP]

Er ist eine Stigmatisierung der Netzgemeinde aller Anbieter in Deutschland, und das bei einem weltweiten globalen Netz. Die Webgemeinde wird drangsaliert, mehr passiert nicht. Deswegen lehnen wir die Novellierung des Jugendmedienschutzstaatsvertrages ab. Die Vorgaben zur Altersklassifikation von Websites sind realitätsferne Vorstellungen. Internetseitenbetreibern werden sinnlose Hürden und juristische Probleme aufgehalst. Eine Zustimmung käme einem Rückfall in die netzpolitische Steinzeit gleich.

[Beifall bei den Grünen]

Das sagen nicht wir – ich habe es mir gerade zueigen gemacht –, sondern die Jusos Berlin, und sie fordern die SPD auf, diesem Staatsvertrag nicht zuzustimmen. Das wollen wir auch gern machen.

[Beifall bei den Grünen]

Wir wollen den Beschluss aussetzen, bis die Enquetekommission im Deutschen Bundestag Kriterien entwickelt hat und daran arbeitet, wie man es erreichen kann, dass es einen sinnvollen, wirksamen Medienschutz gibt, und gute Vorschläge macht. Es ist nicht angemessen, in dieser wichtigen Frage – verzeihen Sie, Frau Hiller, auch wenn ich weiß, dass jeder in jedem Bundesland anders abgestimmt hat – dieses auf dem Tablett eines rot-roten Kuhhandels zu opfern. Es ist nicht gut, weil es keinen Schaden nimmt, wenn wir dieses Gesetz heute nicht beschließen. Wir können es qualifizieren. Deswegen hoffen wir – wenn Sie heute so beschlössen, was ich sehr schade fände – auf die Kollegen in NRW. Vielleicht kann sich die SPD ja dort besinnen. Dieser Staatsvertrag, den uns der Regierende Bürgermeister heute zur Zustimmung vorgelegt hat, wird von uns jedenfalls abgelehnt. Ich hoffe, viele sind heute an unserer Seite.

[Beifall bei den Grünen, der CDU und der FDP]

Vielen Dank, Frau Ströver! – Das Wort für die SPDFraktion hat der Kollege Zimmermann.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Alle 16 Länder haben diesen Staatsvertrag paraphiert. Und bei diesen Unterschriftsleistungen waren alle Parteien, die in diesem Abgeordnetenhaus vertreten sind, auch dort vertreten.

[Michael Schäfer (Grüne): CDU und SPD stellen die Ministerpräsidenten in Deutschland!]

Das heißt, über die gesamte Republik haben alle fünf hier vertretenden Parteien diesen Staatsvertrag unterstützt. Es mutet schon etwas leisetreterisch an, wenn sich jetzt hier in Berlin aus vordergründigen Erwägungen heraus plötzlich wieder alle davon verabschieden.

[Vereinzelter Beifall bei der SPD]

Ich möchte für die SPD deutlich machen, dass es uns darauf ankommt, Jugendschutz in allen Bereichen der Gesellschaft zu installieren und Kinderschutz in allen Bereichen der Gesellschaft zu haben. Wir wollen, dass die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen zu eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeiten nirgends beeinträchtigt wird. Deswegen sind wir dafür, dass Kinderschutz grundsätzlich auch im Netz gelten muss.