Protokoll der Sitzung vom 12.05.2011

Es gibt mittlerweile auch eine Stellungnahme des Senats, die haben Sie auch, Vorlage – zur Kenntnisnahme – Stellungnahme zum Familienbericht mit der Drucksachennummer 16/4045. Das lohnt sich auch,

[Mieke Senftleben (FDP): Nicht so richtig!]

aber nicht so sehr wie der Bericht.

Ich bin erstaunt, dass der Regierende Bürgermeister nicht anwesend ist, denn er hat den Familienbericht vom Beirat im Januar dieses Jahres –

[Özcan Mutlu (Grüne): Die SPD fehlt ja auch!]

Wo ist er?

[Özcan Mutlu (Grüne): Die SPD-Fraktion fehlt auch!]

mit großer Freude entgegengenommen.

[Zurufe von der SPD, den Grünen und der Linksfraktion]

Könnt ihr bitte einfach die Gespräche stoppen?

Die ersten Proteste und lauten Stimmen kamen aus Ihrer eigenen Fraktion. Nichtsdestotrotz bitte ich um Ruhe für die Rednerin.

[Uwe Doering (Linksfraktion): Özcan hat angefangen! – Senator Dr. Jürgen Zöllner: Er hat angefangen! – Weitere Zurufe von der Linksfraktion]

Es ist ehrlich gesagt egal, wer angefangen hat, man muss wissen, wann es wieder aufhören kann.

[Beifall bei den Grünen, der SPD und der Linksfraktion – Christian Gaebler (SPD): Aber Özcan weiß das nicht!]

Seid ihr fertig?

[Dr. Michael Wegner (CDU): Eins, zwei, fünf!]

Wie gesagt, es wundert mich, dass der Regierende Bürgermeister nicht hier ist, weil er im Januar den Familienbericht entgegengenommen hat. Es gab einen presseöffentlichen Auftritt, und er hat auch zugesagt, dass man das ernst nehmen wird. Wie ernst er es nimmt, sieht man. Ich glaube, es würde ihm gut tun, hier an der Debatte teilzunehmen, anstatt irgendwo anders zu sein. Ich finde das ausgesprochen bedauerlich.

[Beifall bei den Grünen – Mieke Senftleben (FDP): Er fehlt nicht so wirklich!]

Das zeigt mir allerdings auch, dass die Bedeutung dieses Berichts und das, was darin steht als Handlungsnotwendigkeiten, vom rot-roten Senat noch nicht erkannt worden sind. Ich sehe auch nicht, dass es irgendwie in politisches Handeln umgesetzt wäre.

Liebe Kollegin Scheeres! Es reicht nicht aus, einen Fraktionsbeschluss zu fassen, Forderungen zu übernehmen und zu wiederholen, die bereits längst in irgendwelchen Koalitionsvereinbarungen standen, man muss das dann, wenn man in der Regierung ist, in der Tat auch umsetzen.

[Beifall bei den Grünen]

Der Familienbericht trägt den Titel „Zusammenleben in Berlin“. Das zeigt deutlich, dass er von einem umfassenden Familienbegriff ausgeht. Familie ist überall da, wo Menschen Verantwortung füreinander übernehmen. Das gilt für Pflegebedürftige genauso wie für Kinder. Ich sage hier ausdrücklich: Für mich als Mitglied in diesem Beirat bezieht der Familienbegriff ausdrücklich alle Formen von Familien mit ein: Alleinerziehende, Ehepaare, Lebenspartnerschaften, Stief-, Patchwork- und Regenbogenfamilien. Ich denke, das gilt für die anderen im Beirat genauso.

Der Familienbeirat hat sehr ausdrücklich in seinem Bericht – und auch in seiner Arbeit – einen ressortübergreifenden Ansatz gewählt. Das zeigt sich in den Überschriften „Vereinbarkeit von Beruf und Familie“, „Bildung“, „Familienfreundliche Infrastruktur“, „Armut von Familien“ und „Familienfreundliche Regionen und Stadtquartiere“. Der Senat erkennt das ausdrücklich in seiner Stellungnahme an – Frau Barth hat es auch noch einmal wiederholt –, aber – und da komme ich zu einem großen Kritikpunkt an der Stellungnahme – sie bezieht sich im Wesentlichen auf Bildungsaspekte. Der Perspektivwechsel, dass nämlich auch Wirtschaft und Stadtplanung und andere Politikbereiche unter dem Rubrum von Familienfreundlichkeit anders ausgestaltet werden müssen, ist nicht gelungen. Das ist sehr bedauerlich. Ich denke, es wird Zeit, dass Grüne in Regierungsverantwortung in Berlin kommen, damit Familienfreundlichkeit auch in Verkehr, Stadtplanung und Wirtschaft einen angemessenen Stellenwert erhält.

[Beifall bei den Grünen]

Die Familien in Berlin sind vielfältig. Das zeigt sich sehr deutlich an den Berichten und Stellungnahmen aus den Foren in diesem Bericht. Aber genauso vielfältig sind

auch ihre Lebensumstände. Es lebt sich halt anders als Familie, wenn man in einem Einfamilienhaus am Stadtrand, in einer Stadtvilla oder einer Villa im Grunewald, einem Altbaumietshaus in der Innenstadt oder eben einem Plattenbau in einem östlichen Bezirk lebt. Die Möglichkeiten, Kindern gute Bedingungen zum Aufwachsen – also gute Bildungschancen und gute Gesundheit – zu bieten, sind abhängig vom sozioökonomischen Status, also Bildungsstand, Einkommen und beruflichem Erfolg der Eltern. In Berlin leben sehr viele Familien in Armut und ihre Kinder auch. Das ist der nächste Kritikpunkt. In der Stellungnahme des Senats findet sich zu diesem wichtigen Teil, „damit Familienarmut nicht zum Alltag gehört,“ keine Aussage. Das ist ein Armutszeugnis für eine rot-rote Regierung in einer Stadt mit so extrem hoher Kinder- und Familienarmut.

[Beifall bei den Grünen]

Ein nächster Kritikpunkt: Alle, die an der Erstellung dieses Berichts beteiligt waren, sei es in Familienforen, die in den Stadtteilen stattgefunden haben, seien es die Fachleute, von denen wir Stellungnahmen eingeholt haben, oder die Mitglieder des Familienbeirats, müssen sehr enttäuscht sein über die Stellungnahme, weil das, was Sie als Thema für diese Aktuelle Stunde angemeldet haben – Bestandsaufnahme und Handlungsanleitung – vom Senat nicht wirklich ernst genommen wird. Es ist wie eigentlich auch in den Reden der Kolleginnen der Koalitionsfraktionen: Der Senat schließt sich der Problembeschreibung an, er lobt Errungenschaften, heftet sich Lob ans Revers, das nicht immer nur auf seine Kappe geht, er geht auf die Herausforderungen und Handlungsanleitungen aber eigentlich nicht ein. Auswirkungen auf sein Handeln habe ich noch nicht festgestellt. Dafür der Kitaplatzmangel als ein Beispiel: Herr Zöllner hat uns letzte Woche im Ausschuss weis machen wollen, es gäbe kein Problem. Aber, Herr Zöllner, merken Sie sich einfach: Genehmigte Plätze sind nicht gleich belegbare Plätze. Wenn es einen Mehrbedarf von 4 300 Plätzen in diesem Jahr gibt, dann haben Sie den noch lange nicht erfüllt. Ich fürchte, Sie werden das auch nicht schaffen. Das geht zulasten der Familien und Mütter und Väter, die dringend Arbeit suchen. Zum Fachkräftebedarf ist schon etwas gesagt worden. Da haben Sie noch eine schwierige Hausausgabe vor sich.

Der Senat hat nur zwei Vorschläge wirklich aufgenommen. Das ist die Internetplattform für eine bessere Informationsversorgung der Familien und die Weiterentwicklung von Kitas zu Familienzentren als Knotenpunkt infrastruktureller Angebote für Kinder, Väter und Mütter. Dazu kann ich nur sagen: Herzlichen Glückwunsch! Das ist eine Sache, die wir seit vielen Jahren einvernehmlich für richtig halten. Allerdings haben Sie unseren die Familienzentren betreffenden Antrag abgelehnt. Wenn Sie sich Ihre eigene Koalitionsvereinbarung von 2001 und auch die letzte von 2005 anschauen, werden Sie feststellen, dass das bereits enthalten ist. Es wird Zeit – das will ich hier auch einmal sagen –, dass Grüne mit in die Regierungsverantwortung kommen, damit das endlich auch umgesetzt wird.

[Beifall bei den Grünen]

Der Familienbericht bringt umfassende Daten zur Beschreibung der Situation von Familien. Ich muss aber selbstkritisch für uns alle anmerken, dass es noch einige Themen gibt, die nur unzureichend behandelt sind. Das ist vielleicht auch der Zeit geschuldet. Man kann nicht alles umfänglich bearbeiten. Beispielsweise sind die Frage der Inklusion, die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention, sowie die Frage des Zusammenlebens der Menschen in dieser Stadt unterschiedlicher Herkunft nicht so ausführlich behandelt, wie es sein müsste. Ein nächster Familienbeirat, der wieder vielleicht wieder einen Bericht erstellen kann, hat die Chance einer Aufarbeitung.

Ich habe noch einen Vorschlag: Damit sich auch wirklich alle Familienformen und auch Familien mit unterschiedlichen Problemlagen mitgenommen und eingeschlossen fühlen, schlage ich vor, dass wir in den nächsten Beirat einen Vertreter oder eine Vertreterin des Landesbeirats für Menschen mit Behinderung aufnehmen und vielleicht auch eine Vertretung von Regenbogenfamilien, Lebenspartnerschaften oder anderen Familienformen und nicht nur die herkömmlichen Familienverbände. Damit wünsche ich einem nächsten Familienbeirat genauso viel Erfolg mit dem, wie er arbeitet, aber mehr Glück damit, was die nächste Regierung umsetzt. – Ich danke Ihnen!

[Beifall bei den Grünen]

Vielen Dank, Frau Abgeordnete Jantzen! – Für die FDPFraktion hat jetzt Frau Abgeordnete Senftleben das Wort.

Frau Präsidentin! Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen! Gut drei Jahre hat der Familienbeirat gearbeitet, um den vorliegenden Bericht zu erstellen. Nicht nur ich fand, dass es eine konstruktive Runde war. Die Leitung wurde von einem Profi übernommen. Es war ein super Team, Herr Ruhenstroth-Bauer, ich freue mich, dass Sie da sind. Noch einmal möchte ich Ihnen meinen herzlichen Dank aussprechen.

[Beifall bei der FDP – Vereinzelter Beifall bei den Grünen]

Es waren eigentlich ziemlich viele gesellschaftliche Gruppen vertreten, viele, aber nicht zu viele, sodass die Arbeit der Gruppe meistens – auch das sage ich mit einem etwas lächelnden Auge – effizient war. Dies ist in der Tat ein ordentliches Ergebnis. Es ist auch Konsens gewesen, wenn doch – was man heute gemerkt hat – unter den oft zerstrittenen Parteien. Meine Vorrednerinnen haben darauf hingewiesen. Offensichtlich liegt allen die Situation der Berliner Familien am Herzen. Offensichtlich wussten die Beteiligten auch, dass nicht alles so rosig ist, wie es gern gesagt oder geschrieben wird oder wir gerade gehört haben. Es geht auch schon wieder los, dass Sie sich gern auf die Schulter klopfen und sagen, wir seien toll in Ber

lin. Der Senator wird sicherlich gleich in seiner Rede die herausragende Stellung Berlins betonen, wie großartig hier alles läuft. Das soll er tun.

Der Bericht ist gut. Es ist eine Situationsbeschreibung. Es werden neue Ansätze aufgezeigt, und es wurde deutlich debattiert. Das war ein Lob, Herr Gaebler, haben Sie es gehört? Sehr enttäuschend hingegen ist die Stellungnahme des Senats. Während der Familienbericht beispielsweise zu Beginn klar herausstellt, dass Familienpolitik nur dann gelingen kann, wenn wir es als wirkliche Querschnittsaufgabe betrachten, ist in der Stellungnahme davon überhaupt keine Rede. Hier handelt es sich primär und bildungspolitische Lobhudelei des Senats frei nach dem Motto: Wir sind die Besten. Als bildungspolitische Sprecherin kenne ich das. Ich wollte aber eigentlich etwas Anderes hören.

Die Forderungs- und Kritikpunkte des Berichts werden nicht einmal erwähnt. Ratschläge werden nicht einmal erörtert. Insofern wird eine Art Haltung deutlich, nach dem Motto: Ob der Beirat einen Bericht vorlegt oder in China ein Sack Reis umfällt, dem Senat ist es eigentlich egal. Als Mitglied des Familienbeirats kann ich nur sagen, dass es mir nicht egal ist.

[Beifall bei der FDP]

Ein Beirat darf nicht zu einem Beiwerk mutieren, auch nicht zu einem schmückenden Beiwerk des Herrn Regierenden Bürgermeisters. Erinnern wir uns an den Familienbeirat. Er wurde einberufen, den Senat zu beraten. Das hat der Beirat getan, und zwar nicht aus der hohlen Hand heraus. Vielmehr wurden Familien online oder vor Ort befragt, Experten wurde zu Rate gezogen, nicht nur aus dem Berliner Umfeld, nein, wir haben über den Tellerrand hinweg hinaus geschaut. Wir haben uns die Frage gestellt, was andere Bundesländer eigentlich anders machen. Was machen sie vielleicht sogar besser? Es wurden Umfragen in Auftrag gegeben, Aktionen initiiert. Was mir auffiel, war, dass das Thema Familie erstmalig eine Presseresonanz hatte. Es war offensichtlich eine sehr gute, denn der Familienbeirat tauchte ausgesprochen häufig auf. Das Thema Familie war in der Berliner Bevölkerung vorhanden. Das war wichtig. Die Arbeit des Beirats wird in dieser Stellungnahme abgewertet. Auf die Forderungen, die der Beirat stellt, wird nicht eingegangen. Mein Fazit ist, dass der Senat die Ratschläge des Beirats nicht annimmt, nach dem Motto: Außer Spesen nichts gewesen.

Nunmehr zur Stellungnahme des Senats: Es gibt viele Allgemeinplätze, keine konkreten Forderungen. Die Stellungnahme ist viel zu dünn. Das hat die Arbeit des Beirats nicht verdient.

[Beifall bei der FDP]

Ich möchte einige konkrete Beispiele nennen und komme zum Handlungsfeld Arbeit. Zu lesen sind ein paar lapidare Hinweise zu den Themen familienfreundliche Unternehmen, Vereinbarkeit von Pflege von Beruf, Berlin als Arbeitgeber, und sonst nichts. Bemerkenswert ist die Anmerkung zum Thema Alleinerziehende und Arbeits

markt. Beispielsweise schlägt hier der Familienbericht vor – sinnvollerweise, wie ich finde –, die Teilzeit künftig nicht zu verdammen, denn sie ist zum einen gewünscht und zum anderen ein Schritt hin in den ersten Arbeitsmarkt. Der Senat hingegen sieht das kritisch. Ich frage mich: Wieso sieht er es eigentlich kritisch? Offensichtlich – das ist erfragt worden – gibt es hier einen Bedarf. Der sollte auch respektiert werden ohne linkes Wenn und Aber.

[Beifall bei der FDP]

Ein wesentlicher Kritikpunkt ist die fehlende Betreuungsflexibilität in Kitas. Das Problem der erweiterten Öffnungszeiten für einzelne Kitas lässt der Senator leider völlig außen vor. Hier böte sich wirklich eine Chance für den Senat, mit den landeseigenen Kitas beispielsweise fortschrittliche Betreuungsangebote zu entwickeln, eben die sogenannten flexiblen Betreuungszeiten für Kinder von Eltern, deren Arbeitszeit eben nicht mehr in die sogenannten Standardkitazeiten passen. Davon – das finde ich eigentlich skandalös; wir haben uns lange darüber unterhalten – ist nichts zu lesen – nüscht, wie der Berliner immer so schön sagt.

Wenn wir beim zentralen Thema des Berichts bleiben, nämlich der Vereinbarkeit von Familie und Beruf – wir wissen, dass dabei die Kitas eine entscheidende Rolle spielen –, wird deutlich, dass die Realität – Frau Jantzen hat darauf hingewiesen – anders aussieht, wie wir inzwischen wissen. Was sollen die Berliner Eltern angesichts der vielfach erfahrenen Kitaplatzknappheit vom zuständigen Senator halten, wenn der noch nicht einmal die Anzahl der freien Kitaplätze in den Bezirken kennt, wenn er sich offensichtlich noch nicht einmal dafür interessiert, weil es Aufgabe der einzelnen Bezirke ist? Es ist für viele Berliner inzwischen zu einer zentralen Frage geworden, ob und wo ein tatsächlich verfügbarer Kitaplatz zu finden ist. Eine prima Lösung für die Eltern wäre beispielsweise eine Computerabfrage, ob nicht in Wohnortnähe ein Platz frei wäre und wenn dort nicht, ob auf dem Weg zur Arbeit Plätze vorhanden sind. Nein, das gibt es nicht. Es ist auch in weite Ferne gerückt. Darüber wird auch nicht nachgedacht. Alternative, pragmatische Lösungsangebote beispielsweise wie eine Kitasoftware werden weiterhin ignoriert. Das Angebot ist vorhanden. Auch hier wieder gilt das Senatsmotto: Hauptsache es gibt genug, theoretisch genehmigte Kitaplätze irgendwo, egal, ob sie in der Realität existieren.

Herr Senator! Sie schließen Ihren Bericht mit zwei Empfehlungen: erstens die Einrichtung einer zentralen Internetplattform, zweitens die Weiterentwicklung von Kitas zu Familienzentren. Bingo! Das sind wahrlich Erkenntnisse, die der Senat an der Stelle getroffen hat. Dazu kann ich nur sagen: Wem erzählen Sie das eigentlich? Erzählen Sie es uns, den Politikern, dem Beirat, der Berliner Bevölkerung? Das sind alles uralte Forderungen. Ich frage mich, was Sie eigentlich in den letzten vier dreiviertel Jahren getan haben. Eine Internetplattform, die den Überblick für die Zielgruppe ermöglicht, die die Angebote darstellt, Vernetzungen ermöglicht, eigentlich eine

Selbstverständlichkeit – Sie haben es immer noch nicht geschafft, fünf Jahre Zeit! Ein weiterer Beweis dafür, dass Familienpolitik lediglich peripher von den Verantwortlichen wahrgenommen wurde.