Protokoll der Sitzung vom 09.06.2011

Ich meinte, andere Wirtschaftsregionen Deutschlands haben andere Hebesätze, und an denen sollte man sich orientieren. Nicht an Potsdam – –

[Gernot Klemm (Linksfraktion): Da sind wir drunter!]

Potsdam hat höhere, das weiß ich auch. – Selbstverständlich soll der Gewerbesteuerhebesatz abgesenkt und nicht erhöht werden. Die Erhöhung haben die Kollegen von den Grünen ins Gespräch gebracht. Also andere Wirtschaftsregionen als Vergleich!

Wir werden heute auch noch einmal in einem anderen Zusammenhang auf diese Fragen kommen und uns darüber verständigen müssen, was Ihre Wiederverstaatlichungsphantasien – Sie nennen es Rekommunalisierung – noch mit dem Wirtschaftsstandort Berlin zu tun haben. Bei einer Verschuldung der landeseigenen Unternehmen von etwa 10 Milliarden Euro können Sie gar nicht seriös in irgendeiner Form auch nur ansatzweise darüber nachdenken, den Landeshaushalt noch mehr mit Rekommunalisierungsphantasien zu belasten.

[Beifall bei der FDP – Burgunde Grosse (SPD) meldet sich zu einer Zwischenfrage.]

Herr Thiel, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Frau Abgeordneten Grosse?

Aber immer – bitte!

Frau Grosse – bitte sehr!

Herr Thiel! Sie haben den Respekt für das unternehmerische Handeln eingefordert. Ich habe aber vermisst, dass Sie den Respekt für die Leistungskraft der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer einfordern. Sind sie wirklich der Meinung, dass jemand nach 40 Stunden Arbeit noch aufstockende Leistungen von einem Jobcenter erhalten muss? Finden Sie es nicht vor diesem Hintergrund richtig, dass endlich ein gesetzlicher Mindestlohn eingeführt werden muss?

[Vereinzelter Beifall bei der SPD – Dr. Felicitas Tesch (SPD): Jawohl!]

Ja, klatschen Sie doch erst mal! – Geschätzte Kollegin Grosse! Ich wäre jetzt auf der Seite 2 noch zum Mindestlohn gekommen. Das tue ich auch. Aber ich ziehe das gern mal vor. Das, was Sie als „Aufstocker“ bezeichnen, wird allgemein als „Ergänzer“ bezeichnet.

[Zuruf von Elke Breitenbach (Linksfraktion)]

Frau Breitenbach! Hören Sie doch erst einmal meine Antwort an, bevor Sie die nächste Zwischenfrage starten! – Es ist doch vollkommen richtig zu sagen: Wenn ein Lohn durch Produktivität nicht erwirtschaftet werden kann, aber dieser Mensch arbeitet, dann verdient er die Solidarität der Gemeinschaft, und dazu bekommt er dann Geld aus der Gemeinschaftskasse, damit er leben kann. Das ist das System der sozialen Marktwirtschaft.

[Burgunde Grosse (SPD): Ha, ha!]

Das hat etwas mit Anerkennung zu tun, nicht mit Missachtung. Ihr Gerede, das seien Aufstocker oder Ergänzer, diskreditiert diese Menschen. Das ist genau der falsche Weg.

[Beifall bei der FDP]

Mindestlohn ist eine Monstranz, die keiner bezahlen kann.

Aber ich werde es Ihnen nicht ersparen, auch noch ein paar andere Sachen zu nennen, denn es wurde ja immer zu Recht angemahnt, dass man auch mal sagen soll, was man anders machen kann: Faire Beschäftigungsbedingungen werden auch durch fairen Umgang mit Unternehmen gewährleistet. Fairer Umgang mit Unternehmen heißt z. B.: Warum machen Sie sich einen schlanken Fuß bei der Entwicklung der A 100 und der TVO? Das wäre arbeitsplatzfördernd und -sichernd. Aber was machen Sie? – Sie vertagen es auf die nächste Legislaturperiode.

Mediaspree! Wie das Karnickel vor der Schlange! Sie trauen sich nicht, dort einzugreifen und zu sagen: Mediaspree muss jetzt endlich gesamtstädtisch weiterentwickelt werden. Nein! Sie überlassen einem vollkommen überforderten Bezirk die Entscheidung für gesamtstädtische Projekte. Das ist unverantwortlich in der Wirtschaftspolitik.

[Beifall bei der FDP – Beifall von Mario Czaja (CDU) und Heiko Melzer (CDU)]

Die Nachnutzung von Tempelhof und Tegel ist angesprochen worden. Aber wo gibt es Nachnutzungskonzepte? – Auch über Tegel werden wir nachher noch reden. Es gibt keine Nachnutzungskonzepte. Es gibt nur einen ganz allgemeinen Flächennutzungsplan. Darüber werden wir reden. Ein Konzept gibt es nicht.

[Michael Müller (SPD): Natürlich! – Weitere Zurufe von der SPD]

Es gibt vielleicht einen Parteitagsbeschluss, aber kein Konzept.

[Beifall bei der FDP – Zurufe von der SPD]

Wir haben hier auch beim letzten Plenum ausführlich darüber gesprochen, dass die Entschließung des Großraums um den Berlin-Brandenburg-International bis heute nicht zufriedenstellend gelöst ist. Sie haben einige Flächen weiter veräußert. Aber ob diese Flächen erschlossen werden und in welcher Form sich dort Wirtschaft ansiedelt, wissen Sie nicht, wissen wir nicht, und das halten wir schlicht und einfach für ein Versagen auch der Wirtschaftspolitik dieses Senats.

[Beifall bei der FDP]

Ich will Ihnen noch ein paar Anregungen geben, weil der Kollege Klemm zu recht immer darauf immer insistierte zu hören, was anders gemacht werden könnte. Ich kann das ganz einfach sagen: Bürokratieabbau haben Sie seit zehn Jahren im Mund – nicht Sie persönlich, sondern der Senat. Was ist geschehen? – Es ist so gut wie gar nichts ist passiert. Wir fordern seit vielen Jahren eine Genehmigungsfiktion, dass in einer bestimmten Zeit, innerhalb derer keine Antwort eingeht, eine Genehmigung erteilt wird. Das wollen Sie nicht. Stattdessen haben Sie es nicht einmal geschafft, Verwaltungshandeln über die Bezirksgrenzen hinweg zu vereinheitlichen. Fragen Sie einmal einen Busunternehmer, der hier Touristen durch die Stadt fahren und an verschiedenen Plätzen parken möchte! Er scheitert an den Bezirksgrenzen. Er kann im Kreis fahren oder bleibt dort, wo er herkommt, in Spandau. Aber er möchte vielleicht auch gern einmal in die Mitte. Sie sind unfähig, gesamtstädtische Belange in den Vordergrund zu stellen.

[Beifall bei der FDP]

Was Sie auch nicht geschafft haben, weil Sie keinen Zugang dazu haben und man es Ihnen nicht zutraut, ist, privates Kapital zu attrahieren. Wir brauchen für die Entwicklung unserer Stadt Privatinvestoren, die hier Geld in die Stadt hineinbringen. Wer aber will Ihnen denn bei diesen Haushaltslagen schon trauen, Ihnen überhaupt noch Geld in die Hand zu geben?

[Beifall bei der FDP]

Es gibt noch eine Sache, die wir auch diskutiert haben, für die es aber keine Antwort gibt. Das ist der Fachkräftemangel. Was machen Sie denn, um dem Fachkräftemangel zu begegnen? Ich wiederhole es gern noch einmal,

weil es eine solch erschreckende Zahl ist: Laut Handwerkskammerpräsident Schwarz werden wir in den nächsten vier Jahren in der Wirtschaftsregion Berlin 270 000 Fachkräfte suchen und die Stellen nicht besetzen können. In Berlin-Brandenburg wird die Zahl mit bis zu 500 000 angegeben. Wenn Sie ein solch vermurkstes Schulsystem haben, bei dem nicht einmal 75 Prozent ausbildungsfähig sind, muss man sich nicht wundern, dass die Fachkräfte nicht nachwachsen.

[Beifall bei der FDP]

Lassen Sie mich noch etwas zu dem Mindestlohn sagen, weil dank Ihrer Beteiligung meine Zeit langsam leider zu Ende geht. Sie merken, dass man über diese Wirtschaftspolitik noch sinnvoll länger reden könnte. Wir stehen ganz klar in der Tradition der sozialen Marktwirtschaft. Zu dieser gehört es, dass Menschen, die sich mühen und Menschen, die arbeiten, auch die Solidarität der Gemeinschaft verdienen. Die bekommen sie auch. Hinsichtlich des Mindestlohns, das zeigt sich gerade jetzt hier und heute sehr schön, mit dem, was Sie angefangen haben, haben Sie die Büchse der Pandora durch das Vergabegesetz geöffnet. Sie fingen an mit 7,50 Euro, reden jetzt über 8,50 Euro, ich weiß, es gibt auch Kreise, die über 10 Euro sprechen.

Zum Abschluss möchte ich noch anmerken, dass wir vorletzte Woche an einer Veranstaltung im Verdi-Haus von den Sozialverbänden teilgenommen haben. Der Sekretär von Verdi, Herr Tremper, sagte auf meinen Vorwurf hin, dass ein Mindestlohn auch Arbeitsplätze gefährden würde: „Die Arbeitsplätze, die nicht den Mindestlohn erwirtschaften, wollen wir auch nicht haben.“

Herr Thiel! Ihre Redezeit ist beendet. Kommen Sie bitte zum Schluss.

So viel zur Freiheit der Wirtschaft und so viel unlogisches Denken! – Ich danke Ihnen!

[Beifall bei der FDP]

Vielen Dank, Herr Abgeordneter Thiel! Als Präsidiumsmitglieder möchten wir Sie auch noch einmal darauf hinweisen, dass die Zeit während der Zwischenfragen hier gestoppt wird. Sie haben deswegen nicht weniger Zeit, sondern eigentlich noch mehr, weil Sie antworten dürfen. – Jetzt hat für den Senat der Senator für Wirtschaft, Technologie und Frauen, Herr Wolf, das Wort. – Bitte!

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Melzer! Ich stimme Ihnen zu, dass es in dieser Diskussion

nicht darum gehen kann, dass sich Rot-Rot selbst beweihräuchert. Ich weise aber auch darauf hin, Frau Pop, dass es nicht darum gehen kann, einen Redebeitrag zu halten, der sich in Kassandrarufen erschöpft, bei denen man sich die Frage stellt, über welche Stadt und welche Regierungspolitik Sie überhaupt reden.

[Beifall bei der Linksfraktion]

Es ist notwendig und richtig, nüchtern Fakten zur Kenntnis zu nehmen und nüchtern eine Bestandsaufnahme vorzunehmen. Die ist einerseits positiv. Bei der Bestandsaufnahme wird man feststellen, dass es an vielen Stellen noch Handlungsnotwendigkeiten und Handlungsbedarf gibt. Wir können einmal feststellen, dass Berlin eine Trendwende im Strukturwandel geschafft hat. In den 90er-Jahren und auch noch in den ersten Jahren des neuen Jahrtausends bis etwa 2005 war die wirtschaftspolitische Entwicklung, die wirtschaftspolitische Diskussion davon bestimmt, dass wir einen Rückgang von Wirtschaftsleistungen hatten, dass wir einen Arbeitskräfteabbau hatten, dass wir in den 90er-Jahren über 200 000 industrielle Arbeitsplätze verloren und dass diese Entwicklung noch bis in die ersten Jahre dieses Jahrtausends weiter angedauert hat.

Wir können gleichzeitig feststellen, dass sich das gedreht hat. Seit 2005 wächst die Berliner Wirtschaft überdurchschnittlich gegenüber dem Bundesdurchschnitt. Dazu sage ich, dass es eine ganz wichtige Tatsache und Meldung ist, weil es zeigt, dass Berlin keinen Abwärtstrend zu verzeichnen hat, sondern wirtschaftlich im Aufwärtstrend liegt. Wir holen gegenüber dem Bundesdurchschnitt auf. Das ist wichtig. Das ist eine wichtige Botschaft.

[Beifall bei der Linksfraktion – Vereinzelter Beifall bei der SPD – Christoph Meyer (FDP): Wo holen Sie denn auf?]

Nun wird die Frage gestellt, wo wir aufholen. Ich sage es Ihnen einfach mit ein paar Zahlen, die auch ein Liberaler verstehen müsste.

[Mieke Senftleben (FDP): Blöd sind wir nicht!]

Von 2005 bis 2010 gibt es in Berlin ein kumuliertes Wachstum der realen Bruttowertschöpfung von 13 Prozent. Im Bund liegt es bei 5,8 Prozent in diesem Zeitraum. Das zeigt deutlich, dass Berlin inzwischen höhere Wachstumsraten hat. Das ist der Unterschied zu den 15 Jahren davor, in denen Berlin immer schlechtere Wachstumsraten als der Bund hatte. Das ist die positive Botschaft. – Herr Meyer, Sie haben eine Frage.

Bitte sehr, Herr Meyer, Sie haben das Wort!

Herr Senator Wolf! Vielleicht können Sie nicht nur in dem von Ihnen gerade beschriebenen Planungsrahmen 2005 bis 2010 bleiben, sondern einmal die Zahlen ab 2001 vergleichen. Vielleicht haben Sie diese auch parat.

Vielleicht können Sie uns erklären, warum nicht nur im vergangenen Jahr – darauf hatte Herr Thiel bereits hingewiesen – das Wirtschaftswachstum in Berlin unter dem bundesdeutschen Schnitt lag, sondern offensichtlich auch die Prognosen für das Jahr 2011, selbst wenn Sie jetzt auf 3 Prozent erhöht wurden, unter den bundesdeutschen Konsensprognosen liegen.